Nikolai
Berdjajew kontra Ken Wilber
Von der
personalen Wahrheit
Eine kritische Auseinandersetzung mit Ken Wilbers
Buch:
„Das Wahre, Schöne, Gute“
In starker Anlehnung an Nikolai Berdjajew
Geschrieben von Dirk Hübner, Greifswald 02.10.2002
Letzte Durchsicht/Änderungen abgeschlossen am
07.10.2003
Inhalt:
Vorwort und Erläuterungen zum Text.
Zu K. Wilbers Versuch einer integralen Theorie und
Philosophie. Persönlichkeit kontra
„Absoluter GEIST“. Dynamische kontra statische Geistinterpretation. Zum Bösen
und Guten in dieser Welt. Die Freiheit als metaphysischer Grenzwert, als
Notwendigkeit und als Wahrheit. Die zeitgebundene und die überzeitliche
Freiheit. Von der Bestimmung des Menschen zur schöpferischen Wahrheit. Zum
Begriff der „objektiven Realität“.
N. Berdjajew zur Problematik der Persönlichkeit. Zu
K. Wilbers einführenden Gedanken an den Leser: „Über Gott und Politik“ und
seinem Wunsch, die Tradition des Liberalismus mit einer sogenannten echten
Spiritualität zu verbinden. Individuum, Persönlichkeit und Gemeinschaft. Das
Rollen-Ich und das wahre Ich. Das Leid in der Welt und das Leiden der Liebe.
Der Dualismus von Freiheit und Notwendigkeit bleibt
bestehen. Depression – ein Gefühl der Sinnentleertheit und seine destruktiven
Folgen. System und erlebte Wirklichkeit. Die reine erlösende und die
wahrhaftige Kontemplation. Schaffen und Kontemplation. Wahrheit und Zeit.
Wahrheit und Bewußtsein. Von der lügenhaften und der wahrhaftigen Suche. Sinn und
Sinnlosigkeit. Nichts ist in Ordnung, wie es ist. Das nichtleidende
„Zeugenbewußtsein“ als ein eudämonistisches Gewahren. Von der Leere, der Fülle
und dem Nichts.
K. Wilber und seine „integrale Philosophie“.
Personale Ganzheit kontra „Absolute Einheit“. Die Persönlichkeit als wahrhaft
integrative Kraft. Die Sprache mit und ohne existentiellen Bezug. Wilbers rein
abstrakte Integration. Die Widersinnigkeit eines „absoluten GEISTES“ und einer
Philosophie der Passivität. Von der Einsamkeit zur authentischen Gemeinschaft.
Von der Vergemeinschaftung bzw. Vergeistigung der Gesellschaft.
Gemeinschaftliche Erkenntnis der Persönlichkeit als ein wesentlich
einzigartiger gottmenschlicher Prozeß kontra K. Wilbers haltlose Theorie zu allgemeingültigen
Erkenntnisrichtlinien. K. Wilbers Beweisforderung für jede Erkenntnis. N.
Berdjajew: Objektivierende und existentielle Erkenntnis sowie objektivierte
Gemeinsamkeit und existentielle Gemeinschaft. N. Berdjajew zum Narzißmus. Zur
vermeintlichen Meditation.
Die Einheit von Person und Bewußtsein. Der geistige
Tod als das größte Übel des Menschen. K. Wilbers Behauptung eines „absoluten
Bewußtseins“ und der daran anknüpfende menschenferne Gottheitsmonismus. N. Berdjajew:
Das Mysterium des Gottmenschentums als Zwei-Einheit. Die Verneinung des
existentiellen Zentrums durch K. Wilbers Theorie vom „Spektrum des
Bewußtseins“. K. Wilbers Abstraktum einer „absoluten Wahrheit“. Die wahrhaft
richtungsweisende Bedeutung der ethischen Grundintuition. Das Verhältnis der
Ethik zur Moral. N. Berdjajew zur Kommunikation und Partizipation. K. Wilbers
Unverständnis für einen einfühlsamen Weg des Geistes. Gott als überpersönlicher
Wert, als das höchste verbindende Prinzip. Zur Fülle der Persönlichkeit. Macht
als Herrschaft des Prinzips der Notwendigkeit. Narzißmus als objektivierende
Erkenntnisform. Die kritiklose Verwendung der Wortverbindung „objektive
Wahrheit“ durch K. Wilber. Zum Verhältnis der „absoluten Wahrheit“ zur
„objektiven Wahrheit“. Der Mensch als eine mikrokosmische Konkretisierung der
unergründlichen Gottheit. K. Wilbers Kritik zur Systemtheorie, der er selbst
verfallen ist.
Nikolai Berdjajew zur Problematik des Leidens.
Der Unterschied zwischen Evolution und personalem
Schaffen. Liebe als Grunddynamik der Geschichte der Menschheit. Der Tod als
ewige Paradoxie der Liebe. K. Wilbers evolutionäres und hierarchisches
Bewußtseinsmodell und seine Holon-Theorie. Die relative Ganzheit in der
manifesten Welt und die existentiell-wahrhaftige Ganzheit der gottmenschlichen
Persönlichkeit. Personale Freiheit kontra „Allumfassender Evolutionsstrom“. Der
unauflösbare Widerspruch zwischen „absoluter Wahrheit“ und „allumfassend
kontinuierlicher Evolution“ in K. Wilbers System. Personalistische Philosophie
kontra Identitätsphilosophie. Die Ratio und die ethische Grundintuition.
Objektivierender Narzißmus als Form der Liebesunfähigkeit. Dreidimensionale
Fülle bzw. Ganzheit (Ich, Du, Wir) und unergründliches Nichts. Die natürliche
Evolution und der schaffende Mensch. Der trügerische Fortschrittsglaube. Die
erste und die zweite Schöpfung. Das Konstrukt der Transpersonalität. Die
Unmöglichkeit eines „Atman-Projekts“. Auschwitz – ein Problem unserer
neuzeitlichen Epoche. Die Sklaverei in den „freiheitlichen Demokratien“.
Zu Ken Wilbers Versuch einer integralen Theorie der
Kunst. Ken Wilbers transpersonale Interpretation eines Gemäldes von Vincent van
Gogh und meine Erwiderung aus personalistischer Sicht. Evolution und Kunst.
Kunst als gemeinschaftlich-religiöser Akt und als symbolischer Ausdruck der
Liebe. Die vorrangig kontextuale Kunstinterpretation als ein endloses
analytisches Unterfangen. Zu Ken Wilbers fragwürdigem Selbst-System. Zur
Problematik der Kindheit.
Literaturangaben
Literaturhinweis
Ich möchte auch auf die hervorragenden Bände von Wolfgang Dietrich
aufmerksam machen: „Provokation der Person. Nikolai Berdjajew in den Impulsen
seines Denkens“. Wolfgang Dietrich wird nach meinem Ermessen mit dieser sehr
umfassenden systematischen Zusammentragung und vor allem auch intuitiv
gehaltenen Zusammenschau dem geistigen Schaffenswerk Nikolai Berdjajews auf
eine außerordentlich tiefe und einzigartige Weise gerecht.
In „Halbzeit der Evolution“ bezeichnet Ken Wilber
den Existenzphilosophen Nikolai Berdjajew als den „überragenden christlichen
Mystiker Rußlands“ (Wilber 1) und stellt dessen Denken, meines Erachtens
irrtümlich, in die Nähe seiner eigenen Überlegungen. Seit „Halbzeit der
Evolution“ hat Ken Wilber viele neue und weiterführende Bücher geschrieben.
1996 erschien in Deutschland Wilbers Hauptwerk „Eros, Kosmos, Logos“, darauf
aufbauend 1999 das Buch „Das Wahre, Schöne, Gute“, mit dem ich mich hier
umfassender auseinandersetzen werde. Ich habe Wilbers Buch unter dem
existenzphilosophischen Blickwinkel Nikolai Berdjajews gelesen und bin zu dem
Schluß gekommen, daß sich Ken Wilbers Denken erheblich von dem Nikolai
Berdjajews unterscheidet.
Seit 1994 beschäftige ich mich mit den Werken Ken Wilbers.
Ich war von Wilbers Bücher lange Zeit sehr angetan und meinte darin eine
Philosophie der Freiheit zu finden. Als ich 1999 Nikolai Berdjajews Buch
„Wahrheit und Offenbarung“ las, änderte sich meine Sicht auf Wilber
schlagartig. Mir wurde bewußt, daß Ken Wilbers impersonalistische Sicht mit
einer Philosophie der Freiheit nicht wirklich vereinbar ist. Beim Lesen von Ken
Wilbers Buch „Das Wahre, Schöne, Gute“ wurde mein Widerspruch so groß, daß ich
mich dazu gedrängt fühlte, eine kritische Auseinandersetzung in Anlehnung an
Nikolai Berdjajew, der sich entgegen Wilbers letztlich impersonalistischer
Sicht deutlich für eine personalistische Philosophie ausgesprochen hat, zu
schreiben. Dazu studierte ich intensiv N. Berdjajews umfangreiches Werk,
welches zum Großteil in deutscher Sprache vorliegt.
Für mich stellt das Werk Nikolai Berdjajews eine
große Entdeckung dar, die ich in philosophischer Hinsicht machen konnte. Mit
Nikolai Berdjajews Existenzphilosophie konnte ich intuitiv mein ureigenstes
Wollen verbinden. Auf der Grundlage dieser Philosophie sah ich mich in der
Lage, meinen Widerspruch gegenüber Wilber in vorrangig existenzphilosophischer
Weise Ausdruck zu verleihen.
Bevor ich mit meiner kritischen Auseinandersetzung
beginne, möchte ich noch erläutern, wie ich in meinem Text die Wörter
begrifflich und symbolisch verwende. Dies erscheint mir für das Verständnis
meiner Ausführungen wichtig zu sein:
Symbolisch sind diejenigen Worte („Wort“ hier als
Über-Begriff, das inhaltlich durch ein Attribut näher bestimmt werden muß), die
im übertragenen Sinne gebraucht werden und auf das existentiell Wahrnehmbare hinweisen,
das sich nicht widerspruchslos in Begriffe fassen läßt. In diesem Sinne lassen
sich die transzendenten Prinzipien wie Liebe, Wahrheit, Freiheit usw. nur
symbolisch ausdrücken – eben als symbolische Worte bzw. Wortsymbole. Sie
stellen im existentiellen Kontext in keiner Weise begriffliche Worte bzw.
Wortbegriffe dar, auch wenn ihre einzelnen Zeichen logisch miteinander
verknüpft sind, um das entsprechende Wort zu bilden. Begrifflich sind die
Worte, die im logisch-definierten Sinne gebraucht werden und sich dabei auf
äußere gegenständliche bzw. objektivierte Gegebenheiten beziehen. Ziehen wir
das Wort „Liebe“ als Beispiel heran. Es ist als eine Form des existentiellen
Symbols ein Wortsymbol, da es sich auf etwas existentiell Erlebbares bezieht
und keiner begrifflichen Definition widerspruchslos unterzogen bzw. nicht
gegenständlich verstanden werden kann. Dagegen ist z. B. das Wort „Tisch“
Wortbegriff, da es begrifflich definiert ist und sich auf einen Gegenstand
bezieht. Alle Worte lassen sich sowohl symbolisch als auch begrifflich bzw. im
übertragenen oder im logisch definierten Sinne verwenden. So kann man z. B. das
Wort „Kreuz“ rein begrifflich, aber auch symbolisch verwenden. D. h., der
Übergang von einem begrifflichen Wort zu einem symbolischen und umgekehrt ist
von der Blickrichtung des Erkennenden abhängig und ist, entsprechend der
ganzheitlichen Dynamik der persönlichen Erkenntnis, fließend. Davon ausgehend
gibt es gar keine reinen Begriffe, sondern sie tragen immer einen letzten Rest
Symbolik in sich, die auf das personale Existentielle verweist. Es ist aber
auch so, daß die Wortsymbole für transzendente Prinzipien nicht als Begriffe
verwendet werden können, ohne eine Abänderung des Inhalts, der Bedeutung, und
der Bezugnahme vorzunehmen. Und äußerst fragwürdig ist, ob das Wortsymbol
„Liebe“ überhaupt als Begriff verwendet werden kann, ohne dieses Wort ad
absurdum zu führen. Anders verhält es sich da schon mit dem Wortsymbol
„Wahrheit“, das auch als ein definierter Begriff für relative, gesetzmäßige
Strukturen und Teilbereiche denkbar bzw. rationalisierbar ist. Doch wesentlich
ist auch das Wort „Wahrheit“ Wortsymbol. Dennoch trägt auch das symbolisch oder
mythologisch verwendete Wort in sich einen begrifflichen Aspekt im Zusammenhang
mit der Logik des sprachlichen Systems und kann auch logisch in den
sprachlichen Kontext eingebunden werden.
In meiner Auseinandersetzung beziehe ich mich auf Ken
Wilbers Buch: Das Wahre, Schöne, Gute, deutsche Ausgabe, herausgegeben in
Frankfurt am Main, Wolfgang Krüger Verlag, 1999. Die Zitate aus diesem Buch
habe ich durch die in Klammern stehenden Seitenzahlen, z. B.: (S. 95),
gekennzeichnet. Alle Zitate aus anderen Büchern sind im Text numeriert, z. B.:
(Berdjajew 2), und im Anhang angegeben.
„Meine Gedanken werden richtig verstanden, wenn sie
dynamisch aufgefaßt werden. Jede statische Auffassung wird falsch sein. Mich
interessiert nur das Schicksal der menschlichen Gesellschaft in der Bewegung“
(Berdjajew 2 ).
Ich möchte mit diesem vorangestellten Zitat nur eine der
wesentlichsten philosophischen Herangehensweisen Nikolai Berdjajews andeuten.
Er hat konsequent die Dynamik des Geistes behauptet und so, ausgehend von ihm,
auf eine für mich geniale Weise einen beziehungs- und sinnreichen Bogen zu
unserem ganzen Leben spannen können. Bewegung ist der Grundzug in Berdjajews
Philosophie. Anders stellt sich dies meines Erachtens bei Ken Wilber dar.
Ken Wilbers Anliegen ist es zunächst, eine „integrale Theorie“
zu entwickeln, die dem Menschen behilflich sein soll, sogenannte höhere
transpersonale Bewußtseinsstufen erreichen zu können, als deren höchste Stufe
die „absolute Wahrheit“, d. h. die „absolute nonduale Einheit“ bzw. der
„absolute GEIST“ behauptet wird. Die Daten für eine „integrale Theorie“ sollen
in integraler Weise vorrangig aus einer Art meditativer Wesensschau und in der
anschließenden gemeinschaftlichen Auseinandersetzung gewonnen werden. Auch
neueste wissenschaftliche Erkenntnisse und Methoden werden herangezogen; eine
rein analytisch-wissenschaftliche Herangehensweise lehnt Wilber jedoch ab. Ich
stehe Ken Wilbers „integraler Theorie“ sehr skeptisch gegenüber und nehme in
ihr eine stark dogmatische Ausrichtung wahr. Meines Erachtens durchbricht
Wilbers Herangehensweise nicht wirklich und entscheidend das
wissenschaftlich-systematische Prinzip, sondern ist dem
wissenschaftlich-systematischen Prinzip eher verfallen. Ken Wilber versucht
seine „integrale Theorie“ in eine übergreifende „integrale Philosophie“
einzubetten, um die Theorie durch die Philosophie umfassend stützen zu können.
Doch in dieser „Philosophie“ rangiert ein sogenannter „absoluter GEIST“ bzw.
eine sogenannte „absolute Wahrheit“ vor dem Persönlichkeitsprinzip, was ich
nicht akzeptieren kann. Ich zweifle die Existenz eines „absoluten GEISTES“ bzw.
einer „absoluten Wahrheit“ grundlegend an und werde im Laufe meiner
Auseinandersetzung Wilbers statische Auffassung von einem „absoluten GEIST“
durch das dynamische Persönlichkeitsprinzip zu widerlegen versuchen. Wilbers
„integrale Philosophie“ hat einen stark impersonalistischen Zug, und das
widerspricht meiner Vorstellung von einer wahrhaft integralen Philosophie, die
zugleich eine personalistische Philosophie sein muß, um nicht der Gottlosigkeit
das Wort zu reden. Ich denke und empfinde, daß in Wilbers letztlich
impersonalistischer „Philosophie“ Oberfläche statt Tiefe, Leblosigkeit statt
Lebendigkeit dominiert.
Ich behaupte, was Ken Wilber unter „GEIST“ versteht, ist
grundlegend panentheistisch gefärbt: Die Welt ruht in Gott. Das kommt vor allem
den Auffassungen von Meister Eckhart und Plotin, aber auch der buddhistischen
Philosophie entgegen. Wilber zufolge bilden Gott und die Gottheit eine höchste
absolute Identität mit allem – entsprechend der buddhistischen Auffassung:
Leere-ist-Form und Form-ist-Leere. Wilber sagt:
„Man kann den göttlichen Grund gewahren oder nicht -
tertium non datur“ (S. 95),
ein Drittes gibt es nicht. Der Gottheitsmonismus leugnet
das ethische Prinzip der Persönlichkeit, er leugnet die Wahrheit der Person und
somit des Menschen. Dagegen zu argumentieren, wird mein Hauptanliegen sein.
Ken Wilber stützt seine „integrale Theorie“ mit
sogenannten Grundaussagen bzw. Prämissen. Das folgende Zitat enthält einige
wenige davon hinsichtlich des „GEISTES“. Ich werde anschließend einige erste
Behauptungen diesem Zitat entgegenstellen und hoffe, daß im Verlaufe weiterer
Darlegungen meine Sichtweise verständlich wird.
„In diesem Sinne ist der GEIST der Gipfelpunkt des Seins,
die oberste Sprosse auf der Leiter der Evolution. Zugleich gilt aber auch, daß
der GEIST das Holz ist, aus dem die ganze Leiter und alle ihre Sprossen gemacht
sind. Der GEIST ist die Soheit, die Seinsheit, die Essenz von allem Seienden.
Der erste Aspekt, derjenige der obersten Sprosse, steht
für die transzendentale Natur des GEISTES, die über alles 'Weltliche',
Geschöpfliche und Endliche hinausgeht. Selbst wenn man die ganze Erde oder auch
das Universum zerstören würde, würde der GEIST bleiben. Der zweite Aspekt, der
in die Analogie des Leiterholzes gekleidet ist, steht für die immanente Natur
des GEISTES: der GEIST ist unparteiisch gleichermaßen und vollständig in allen
manifesten Dingen und Ereignissen vorhanden, in der Natur, in der Kultur, im
Himmel und auf der Erde. Aus diesem Blickwinkel ist keine Erscheinung dem GEIST
näher als irgendeine andere, denn alles ist gleichermaßen 'aus GEIST gemacht'.
Der GEIST ist also sowohl das höchste Ziel aller Entwicklung und Evolution als
auch der Grund der ganzen Abfolge, am Anfang so gegenwärtig wie am Ende. Der
GEIST ist vor dieser Welt, aber nicht jenseits von ihr.
Daß diese beiden paradoxen Aspekte des GEISTES oft nicht
berücksichtigt wurden, hat historisch zu einigen erheblich verzerrten (und
politisch gefährlichen) Auffassungen vom GEIST geführt. Traditionell haben die
patriarchalen Religionen die transzendente Natur des GEISTES eher überbetont
und damit die Erde, die Natur, den Körper und die Frauen zu einem
minderwertigen Status verdammt. Davor haben die matriarchalen Religionen die
immanente Natur des GEISTES in den Vordergrund gerückt, und die daraus
entstehende pantheistische Weltsicht setzte die endliche und geschaffene Erde
mit dem unendlichen und ungeschaffenen GEIST gleich. Es ist jedem erlaubt, sich
mit einer endlichen und begrenzten Erde zu identifizieren, aber es ist nicht
erlaubt, sie unendlich und unbegrenzt zu nennen“ (S. 83).
Obwohl ich das Zitat aus dem Zusammenhang gerissen habe,
kommen hier unabhängig davon zunächst einmal ein paar ganz wesentliche
Ansatzpunkte Wilbers zum Ausdruck, die ich persönlich für problematisch halte.
Der „GEIST“ ist für Wilber „die Soheit, die Seinsheit, die
Essenz von allem Seienden“. Dies ist eine statisch gemeinte Vorstellung, und
diese statisch gemeinte Vorstellung gilt auch dann, wenn Wilber von einem
„unendlichen und ungeschaffenen GEIST“, wenn er (sinngemäß von mir
wiedergegeben) von einem stillen, weisen, nondualen Gewahrer spricht, welcher
„entsteht spontan in einem selbst als innewohnender GEIST“ (S. 88). In der
symbolischen Benennung des Geistes verstrickt sich Wilber in ausweglose
Widersprüche. Für Wilber wird z. B. auf der einen Seite mit dem Wort „Bewegung“
hinsichtlich des „GEISTES“, der zugleich die „absolute Wahrheit“ ist, eine
völlig unakzeptable Charakterisierung vorgenommen. Auf Seite 103 sagt Wilber:
Die
„Absolute Wahrheit ist formlos, zeitlos, raumlos, wandellos...
[Hervorhebung von mir]“ (S. 103).
„Bewegung“ ist für Ken Wilber mehr oder weniger
ausschließlich mit der Hast und Unrast dieser Welt verbunden. Auf der anderen
Seite charakterisiert er den „GEIST“ auf dynamische Weise:
„Du wirst erkennen, daß das allgegenwärtige Gewahrsein,
das ganz in dir gegenwärtig ist, dasselbe Gewahrsein ist, das ausnahmslos in
allen fühlenden Wesen als eines und dasselbe vollständig gegenwärtig ist, als
ein Herz, eine Seele, ein Geist, der atmet und pocht und pulsiert
[Hervorhebung von mir] in allen fühlenden Wesen, und deine bloße Haltung
pulsiert in allen fühlenden Wesen“ (S. 421).
Der „GEIST“ ist für Wilber „unparteiisch gleichermaßen und
vollständig in allen manifesten Dingen und Ereignissen vorhanden“. Als
„höchstes Ziel aller Entwicklung und Evolution“ und als „der Grund der ganzen
Abfolge“ verspricht er eine feststehende, unveränderbare Größe zu sein, welche
sich entsprechend der Evolution zuletzt folgerichtig zu erkennen geben muß.
Zugleich ist dieser „GEIST“ der Kern der Evolution, eben „das Holz“, „aus dem
die ganze Leiter und alle ihre Sprossen gemacht sind“. Der „GEIST“ ist demnach
die identische Essenz der Evolution und somit der natürlichen
Gesetzmäßigkeiten, eine Tatsache, die keinen Spielraum - im freiheitlichen
Sinne - zuläßt. (Zur Problematik der Evolution siehe insbesondere meinen 7.
Teil.) Wilber faßt das grundlegende Mysterium in dem Wort des großgeschriebenen
„GEISTES“ zusammen. Der „GEIST“ ist die Essenz des Seienden überhaupt und ruht
in allem, sofern das Seiende nicht zerstört worden ist – dann aber ist der
„GEIST“ ganz auf sich selbst angewiesen, wie auch immer. An dieser Stelle nun
möchte ich fragen: Wenn dieser „GEIST“ bereits unabhängig vom „Seienden“
existiert, welchen Grund gibt es für diesen „GEIST“ überhaupt, in Erscheinung
zu treten? Oder anders gefragt: Welchen Grund hätte der „GEIST“, neben sich ein
„Seiendes“ zu dulden? Es ist die Frage nach dem Sinn von allem, nach dem Sinn
der Existenz des Universums und meiner Wenigkeit als Mensch. Die Sinnfrage
überhaupt führt uns immer wieder auf eine andere Fährte. Und unter diesem
Aspekt kann man den „GEIST“ nicht einfach nur als überall gegenwärtig behaupten
und mehr nicht. Dieser „GEIST“ ist sinnlos. Wir müssen die Frage nach dem Geist
mit der Frage nach dem Sinn verbinden. Der Geist ist für mich vor allem eine,
sagen wir, Sinn-heit, die auf das engste mit der Freiheit verbunden ist und
ohne diese nicht zu verstehen ist. Die Soheit des „GEISTES“ ist ein Trugschluß.
Dieser beruht auf einem Sicherheits- bzw. Gewißheitsbedürfnis im Umgang mit der
Vorstellung vom Geist als Gott. Im Nichts ist der Geist ungeschaffen. Der Geist
ist vor dieser Welt in das Nichts eingefaltet, worauf ich gleich zurückkommen
werde. Aber schon dieses „vor dieser Welt“ ist jenseitig zu verstehen. Es ist
der Ungrund (Jakob Böhme), welcher mit der unergründlichen Urfreiheit verbunden
ist. Aber es gibt auch einen Geist, der sich uns außerhalb der gesetzmäßigen
Welt, der sich - ebenfalls jenseitig – im Menschen als allumfassende Liebe der
gottmenschlichen Persönlichkeit offenbart. Und erst durch die Liebe, die immer
gottmenschlich ist und existentiell-gemeinschaftlich durch die Person erfahren
wird, sind wir Menschen zur Wahrheit fähig. Liebe ist Wahrheit. Der Geist ist
dem Menschen im tiefsten Sinne immanent und subjektiv erfahrbar, aber als das
so völlig vom Diesseitigen verschiedene jenseitige transzendente Prinzip, als
das im schöpferischen Verbund mit der Freiheit Sinngebende überhaupt. Es ist
das im Menschen wirksame ethisch-umwertende, das schöpferisch-bewegte Prinzip,
dessen umwertende Dimension sich grundlegend vom nichtwertenden Gesetz
unterscheidet. Und nur so kann der Geist, von der menschlichen Person
ausgehend, in dieser Welt wahrhaft wirksam werden. Im Gegensatz zum
lügenhaften, zu dem von der empirisch-gesetzmäßigen und dinghaften Welt
bestimmten Geist ist der wahrhaftige, gottmenschliche Geist die höchste
Qualität, der höchste Wert im Menschen als Persönlichkeit. Der wahrhaftige
Geist ist im wahrsten Sinne des Wortes frei von jeglichen Gesetzmäßigkeiten. Er
wird sich niemals unparteiisch im neutralen Sinne offenbaren, wenn es um die
Verteidigung der Freiheit an sich geht, weil die Freiheit sein ureigentlichster
Wesenszug ist, d. h. seine höchste Eigenschaft im gottmenschlichen Sinne. Und
es geht dem Geist als Gott immer um die Freiheit, die Ihm der Mensch
entgegenbringen muß.
Wilbers Auffassung vom Geist bringt etliche Probleme mit
sich. Tiefere Aussagen zum Geist als eine für ihn zustandslose Leerheit bzw.
unqualifizierbare, unhinterfragbare Einheit vermeidet er im Grunde oder ist
dazu auch gar nicht in der Lage. Wilbers „GEIST“ fristet ein beziehungsloses
Dasein, da er, Wilber zufolge, unparteiisch, eben nur stiller, weiser und
letzten Endes unbeteiligter Beobachter ist. Wilber gerät schon in
Erklärungsnot, wenn es um die Beziehungen geht, die sich zwischen dem
göttlichen Geist und der manifesten Welt abspielen. Auch seine mechanistisch
anmutende Theorie ist da wenig hilfreich. Dazu reicht es auch nicht aus, wenn
Wilber an anderer Stelle die Begriffe von Eros (Liebe zum Höheren) und Agape
(Liebe, Mitleid zum "Niederen") heranzieht. Denn die Liebe von Eros
und von Agape lösen sich beide in der zustandslosen Leerheit auf. Was diesen
„GEIST“ noch bewegen kann, bleibt ein Rätsel, aber er soll ja auch der Bewegung
abhold sein. Woher eigentlich Eros und Agape ihre Kraft nehmen, wird aus einem
zustandslosen „GEIST“ heraus nicht klar. Sie tauchen in unserer Welt auf und
verschwinden im „GEIST“ und mit ihnen die Liebe.
Nach meiner tiefsten Überzeugung, und ich sehe mich da in
vollster Übereinstimmung mit Berdjajew, ist der ureigentlichste Wesenszug des
Geistes die Freiheit. Nikolai Berdjajew beleuchtet das Problem der Freiheit in
ihrer wahrhaftig tiefen Dimension quasi in seinem gesamten Werk. Ausgehend vom
Geist als einer von der Freiheit durchdrungenen jenseitigen Dimension, die sich
dem Menschen umfassend als gottmenschliche Liebe offenbart und in der
außerpersonalen Welt als Logos wirksam ist (worauf ich später noch zurückkommen
werde), stellt sich die ganze Geist-Problematik schon ganz anders dar. Die
Freiheit ist das uranfänglich gegebene, beziehungsfähige dynamische Prinzip. Im
Ungrund ist der Geist im Nichts eingefaltet. Der Geist wirkt hier weder als
Logos-Sinn noch existiert er als Gott-Sinn. Der Geist ist im Nichts
ungeschaffen, d. h., im Nichts existiert kein sinnvoller Geist. Im Nichts
existiert ausschließlich die Freiheit in einem vorseienden Stadium. Oder anders
gesagt: Im Nichts ist der Geist ausschließlich als unendlich „sinnlose“
Freiheit existent bzw. nicht existent. Die uranfängliche „Sinnlosigkeit“ darf
man in diesem Zusammenhang nicht mit irgendeiner Art Sinnlosigkeit, die in der
diesseitig-notwendigen Welt dem Sinn (Logos, Gott) entgegensteht, gleichsetzen.
Die ursprüngliche „Sinnlosigkeit“ ist der mystische Grund an sich und entzieht
sich jeglicher Wertung. Nach Berdjajew existiert eine dunkle, irrationale Freiheit,
die dem Menschen immer wieder zum Verhängnis werden kann, wenn er nicht im
Stande ist, sie liebend zu vergeistigen. Berdjajew sagt:
„Der Geist ist Freiheit, aber eine mit dem Logos
vereinte Freiheit, eine verklärte Freiheit, die eine Gewähr für den Triumph des
Sinnes bietet. Die Geistigkeit ist eben jene Kraft, die die Freiheit verklärt
und den Sinn in sie eindringen läßt. Die Geistigkeit ist auch die Vereinigung
der Freiheit mit der Liebe“ (Berdjajew 3).
Im Nichts ist die Freiheit bar jeglichen Sinns. Sobald
diese Freiheit jedoch in Erscheinung tritt, beginnt - vom Standpunkt des
Menschen aus - ein diesseitiges Ringen zwischen dem Guten und dem Bösen
in Richtung eines personal-ganzheitlichen Offenbarwerdens oder des Nichtseins,
ein Ringen, das in einer objektivierten Welt, in der gefallenen bzw. sündigen
Welt der Notwendigkeiten, der Gesetze, fortwährend ausgetragen wird. Zur
diesseitig-objektivierten Welt bricht also die vorseiende Freiheit hindurch,
die erst wir Menschen dann als Freiheit zum Guten und zum Bösen innerhalb einer
notwendigen Welt schöpferisch-wertend, d. h. umwertend, wahrnehmen bzw.
erfahren können. Die Freiheit an sich befindet sich sowohl als
irrational-unergründliche Freiheit als auch in der Höhe der göttlichen Freiheit
immer jenseits von Gut und Böse der gefallenen, sündigen, der zur Starrheit
tendierenden Welt. In diesem Zusammenhang muß festgestellt werden, daß im
Ungrund, in der uranfänglichen und unergründlichen Freiheit und nicht in Gott
das Böse, das destruktive Streben zum Nichtsein, potentiell mitenthalten ist.
Dies ist von Bedeutung, da uns in der schöpferischen Zwei-Einheit mit Gott, aus
der inneren göttlich-menschlichen Offenbarung (aus der Wahrheit) heraus die
fortwährende Überwindung des Bösen in der gefallenen Welt möglich ist. Die
Offenbarung der Wahrheit an sich findet jenseits der Gegenüberstellung von Gut
und Böse statt. Das Gute dieser Welt steht für den Sinn – symbolisch, es ist
nicht der Sinn. Es gibt kein absolut Böses oder Gutes im Sinne der Welt der
gesetzlichen Notwendigkeiten. Bezogen auf die Welt der Evolution kann das
Verhältnis von Gut und Böse immer nur relativ von der Person, vom personalen
Bewußtsein verstanden bzw. wahrgenommen werden. Vom höchsten innermenschlichen
Werteprozeß ausgehend, dem gottmenschlichen Geist bzw. dem existentiellen Sinn
und Schaffen, kann das vermeintlich Gute böse sein und umgekehrt. Das Gute
innerhalb der gefallenen, d. h. objektivierten Welt, welches sich in der
Entgegnung des Bösen der bösen Mittel dieser Welt bedient, wird selbst zum
Bösen. Das ist die unausweichliche, unlösbare Tragik innerhalb der gefallenen
Welt. Dem Bösen in dieser Welt muß man entgegnen, aber die einzig wahrhaftige
Antwort auf dieses Problem werden wir immer nur aus dem Jenseitigen, aus
unserem göttlich-menschlichen Zentrum heraus geben können und schöpferisch
geben müssen. Vom rein gesetzlichen Standpunkt aus wären wir dazu nicht in der
Lage. Die wahrhaftige Antwort muß Licht in das Dunkel dieser Welt bringen. Das
Gute an sich, der gottmenschliche Geist, die göttliche Kraft in uns, läßt sich
in unserer endlichen und durch Gesetze begrenzten Welt niemals vollständig und
ein für alle Mal realisieren, da die göttliche Freiheit im Gegensatz zur
gefallenen Welt der Notwendigkeiten absolut dynamisch, schöpferisch ist. Die
Starrheit unserer diesseitigen Welt wird sich der Freiheit immer widersetzen.
Die Freiheit ist für diese Welt eine Gefahr in positiver sowie in negativer
Hinsicht, die Freiheit ruft fortlaufend Veränderungen im schöpferischen sowie
im destruktiven Sinne hervor. Sie ist der unberechenbare Grund in der Seele des
Menschen, sie ist seine schöpferische, aber auch destruktive Kraft, die in
ihrer gut- bzw. bösartigen Konsequenz mit einem System nicht vereinbar ist. Die
Freiheit im Menschen dürstet nach Veränderung, drängt uns fortlaufend aus der
Tiefe heraus. Als destruktive Freiheit zieht sie uns zu sich herab. Erst die
vom göttlichen Sinn in uns erfaßte schöpferische Freiheit strebt zur
gottmenschlichen und zugleich personalen Ganzheitlichkeit, zur existentiellen
Wahrheit, die einzig wahrhaftig in dieser Welt verändernd wirksam
werden kann. Alles andere wäre sinnlos.
Hier noch eine Zwischenbemerkung. In bezug auf die
Kategorien von Gut und Böse möchte ich an dieser Stelle ganz besonders betonen,
daß erst der Mensch zu einem differenzierten und bewußt schöpferischen Umgang
mit diesem irdisch-weltlichen Dualismus fähig ist. Das Verhältnis von Gut und
Böse ist ein dualistisches Phänomen, das man zuallererst im Verhältnis zum
Menschen und vom Menschen her verstehen kann, da er das Wesen ist, welches sich
des Verhältnisses von Gut und Böse im stärksten Maße bewußt werden und deshalb
einzig für diesen Dualismus eine wahrhaft sittlich-schöpferische
Verantwortung übernehmen kann. Das Böse ist eine im Nichts potentiell
enthaltene und durch die existentiell-ganzheitliche Person (Mensch und zum Teil
auch höherentwickelte Tiere) zu bewertende geistige Kategorie, die nur in bezug
auf die gefallene bzw. sündige Welt existiert und wirksam ist. Erst über das
Verhältnis von Gut und Böse kann die ethische Grundintuition (das
Gottmenschliche) der Person in der sündigen Welt wirksam werden und sich
wahrhaft entfalten. Das Bewußtsein der Person spielt beim Umgang mit dem
Dualismus von Gut und Böse als ein von der Gotteserkenntnis entzweiendes,
fortführendes oder zur Gotteserkenntnis verbindendes, hinführendes Element eine
außerordentliche Rolle. Man kann nicht sagen, daß zum Beispiel die unbewußte
Natur oder gar die Materie böse sind. In der unbewußten Natur wird keine bewußte
Bewertung und Umwertung vorgenommen, und das geistige Problem des Bösen
existiert somit in ihr nicht. Die Frage nach dem Bösen in der Welt ist primär
auch keine Frage nach dessen Ausmaß und vermeintlicher Stärke, sondern eine
Frage nach dessen Quelle (Freiheit) und Überwindung. Das Böse ist eine auf die
personale Wahrheit bezogene Kategorie und eine in der Person wirksame Realität,
die immer nur relativ und dynamisch zu verstehen ist. Der Dualismus von Gut und
Böse kann hinsichtlich der Verwirklichung der Freiheit in Gott überwunden
werden, stellt aber dennoch eine ganzheitliche, unverzichtbare Komponente in
der Gotteserkenntnis dar. Durch das Böse erkennen wir, was Gott in seinem
gottmenschlichen Wirken nicht ist. In einem Stein existiert keine bewußte Wahrnehmung
einer inneren Existenz. Er befindet sich auf einer relativ starren, von
äußerster Notwendigkeit beherrschten Realitätsstufe. Darüber hinaus stellt der Stein kein unabhängiges Ganzes dar, der alles
ganzheitlich, im personal-geistigen Sinne, in sich umschließen kann. Auch das
personale Tier ist immer noch zu sehr in die von der Notwendigkeit beherrschte
Natur eingebunden und im geistigen Sinne freiheitlich beschränkt. Anders
verhält es sich da mit dem Menschen. Er ist potentiell geistig frei und in dieser
Hinsicht unabhängig von der Natur. Er ist ein ganzheitlicher Mikrokosmos
(Berdjajew), der die Dynamik der Freiheit im geistigen, göttlichen Sinne
verwirklichen kann. In der Natur an sich existiert keine geistige Freiheit; in
der Natur herrscht Notwendigkeit. Die Freiheit wirkt in der Natur und/oder im
Kosmos einerseits als gefallene Freiheit (Notwendigkeit) und andererseits
schöpferisch im Verbund mit dem unbewußten Logos-Sinn. Erst durch den Verbund
von Freiheit und Logos wird ein sogenannter evolutionärer Sprung zu einer neuen
Form der Freiheit in der gefallenen Welt in Richtung personalen Offenbarwerdens
möglich. Spätestens mit der Entstehung des Menschen und seiner inneren
Entfaltung, die zugleich eine kulturelle Entfaltung nach sich zieht, endet die
Evolution, worauf ich später noch zurückkommen werde (siehe Teil 7). In der
Natur an sich wird nicht irgendeine freie Wahl getroffen, die gut oder böse
wäre, da der Natur im Gegensatz zur selbstbewußten Person vor allem ein
ethisch-umwertendes bzw. werteschaffendes Zentrum fehlt. Erst durch das
Vorhandensein dieses Zentrums erreicht die Freiheit ausschließlich als
gottmenschliche Freiheit ihre wahrhaft ganzheitliche Wirksamkeit. Der Mensch
ist aus sich heraus zu einer ethischen Werteschöpfung bewußt in der Lage; über
ihn kann die sinnVOLLE Freiheit in der Welt wirksam werden. Erst
der Mensch ist wahrhaftig in der Lage, die Verantwortung und die Bürde der in
ihm immanent wirkenden Freiheit auf sich zu nehmen. Die Natur an sich trägt
keinerlei Verantwortung. Und die Bürde der Freiheit im Menschen besteht gerade
auch darin, daß nur er sich wahrhaftig für die geistige Freiheit hin zu Gott
oder lügenhaft für die leere Freiheit hin zum Nichtsein entscheiden kann. Und
deshalb kann erst durch den Menschen, aus seinem göttlich-menschlichen Zentrum
heraus, das Böse in der gefallenen Welt konkret überwunden oder
in der Abtrennung vom Göttlichen bis hin zum Exzeß vorangetrieben werden. Ein
neugeborenes Kind trägt keinerlei Verantwortung für das Böse. Es hat den Weg
durch diese Welt noch nicht gehen müssen. Aber im Verlaufe seiner Entwicklung
muß das Kind die Freiheit seines am Anfang noch sehr undifferenzierten Ich
gegen die Umwelt behaupten. Aus diesem Gegensatz heraus und in
gemeinschaftlicher Verbindung mit dem Göttlichen in sich und den anderen
Menschen um sich entsteht die selbstbewußte Persönlichkeit, die es ein Leben
lang zu realisieren gilt. Insbesondere mit dem Menschen kann das Böse in der
gefallenen Welt zunehmen. Das Böse kommt im und durch den Menschen gerade dann
zum Tragen, wenn er die Persönlichkeit in sich nicht konsequent realisiert und
vor allem den ganzheitlich-göttlichen Bezug verliert, d. h. nicht mehr
wahrnimmt. Die unbewußten und instinkthaften Energien beginnen ein
unverklärtes, destruktives Eigenleben zu entwickeln. Die Abwesenheit von Gott
macht den Menschen zu einem zerstörerischen Selbstläufer, zu einem sinnlos
gehetzten Wesen.
Zur Problematik des Bösen möchte ich auch folgende
Gedanken Nikolai Berdjajews zu bedenken geben:
„Die Freiheit ist Kennzeichen sowohl des Bösen als auch
des Geistes. Das Böse aber zerstört sowohl den Geist als auch die Freiheit. Das
Böse kommt aber vom Geist und nicht von der Materie. Wenn wir sagen: die
Ursache des Bösen ist die Freiheit, so soll das heißen: das Böse hat keine
Ursache. Freiheit bedeutet hier Fehlen der Ursache. Erst später, in seinen
Folgeerscheinungen, verfällt das Böse der Macht der Kausalität. Das Böse kann
Ursache sein, selber ist es aber ohne Ursache. Die Freiheit ist das letzte Mysterium.
Die Freiheit ist irrational. Sie bringt sowohl das Böse als auch das Gute
hervor; sie wählt nicht, sondern schafft. Von der Freiheit kann man keinen
rationalen Begriff bilden; sie entzieht sich jeder rationalen Definition. Darum
nennt man sie einen Grenzbegriff. Das Böse ist ohne Ursache, ohne Seinsgrund,
es wird aus der Freiheit geboren“ (Berdjajew 4).
Die schöpferische Antwort auf das Verhältnis von Gut und
Böse ist in unserem Leben nicht immer einfach. Das Böse in mir kann ich in
Gedanken, aber auch in der Auseinandersetzung mit meiner Umgebung schöpferisch
überwinden. Das Wirken des Bösen in der Welt und vor allem auch in sich kann
der Mensch wahrhaft nur erkennen und überwinden, wenn er geistig frei und
grundsätzlich bereit ist, die Existenz des Bösen anzuerkennen. Erst durch einen
ethischen, d. h. geistvollen Umgang mit dem Bösen können wir innerlich eine
reinigende Wirkung erzielen und uns zur gottmenschlichen Wahrheit erheben.
Durch das Vorhandensein des Bösen wird letzten Endes für uns Menschen die
Wahrheit überhaupt erst möglich, denn ohne Dunkelheit gäbe es auch kein Licht.
Und je heller das Licht, um so tiefer dringen wir in die Dunkelheit ein, die
aus der unermeßlichen, vorseienden Freiheit zu uns heraufsteigt und vom Licht
geläutert wird. Die Wahrheit ist vor allem auch die fortwährende Überwindung
der Lüge, die ein Ausdruck des Bösen ist. Von meinem wahrhaft ethischen
Empfinden her ist mir jede vordergründig mildtätige Güte eines Menschen
unerträglich, weil darin vor allem auch die Verlogenheit des „Guten“, die
heuchlerische Bösartigkeit des „Guten“ in dieser Welt zum Ausdruck kommt, einer
Güte, die um jeden Preis immer „gut“ sein will und den schöpferischen Umgang
mit dem Verhältnis von Gut und Böse nicht zulassen kann. Das Gesetz des „Guten“
ist in seiner Konsequenz eine Aufforderung zum unbedingten Gehorsam, das meiner
Persönlichkeit keinen Spielraum mehr läßt.
„Das Gute, das Gesetz des Guten vermag nicht, das Böse zu
überwinden: darin liegt die Quelle der ethischen Tragik“ (Berdjajew 5).
Der konventionellen, angepaßten Lebensweise mangelt es vor
allem an Verständnis für die Spontaneität einer schöpferischen Persönlichkeit,
die sich über die Grenzen des vorgegebenen „Guten“ hinwegzusetzen wagt. Die
wahrhaftig schöpferische Persönlichkeit kann gar nicht anders als auf das
Wagnis der Freiheit einzugehen, worunter sie aber zu leiden hat, trifft sie auf
die lebensverneinenden Vorgaben dieser Welt. Die wahrhaftige Persönlichkeit muß
die lebenshemmenden Vorgaben dieser Welt in einem freien Akt überschreiten, um
ihrer eigentlichen Qualität - der Wahrheit, der Gnade Gottes schöpferisch
teilhaftig werden zu können. Doch dieser freie Akt wiederum darf und kann eben
niemals auf Kosten anderer Menschen geführt werden, sondern er ist nur dann ein
wahrhaft freier Akt, wenn er letztlich mit der Hoffnung auf eine wirkliche
geistige Gemeinschaft und ein wirklich schöpferisches Leben mit anderen
Menschen verbunden ist.
Aber warum tritt die Freiheit überhaupt in Erscheinung?
Für das Erscheinen der Freiheit gibt es keinen Grund, keine Ursache, da die
Freiheit selbst der uranfänglich ewige Grund, das „letzte Mysterium“
(Berdjajew) ist, das sich letztlich im Menschen zur sinnvollen, d. h.
wahrhaft-göttlichen Freiheit entfalten kann. Zur unergründlichen und urgegebenen
Freiheit an sich, die man auch als das Nichts, als die Abgeschiedenheit der
Gottheit (Meister Eckhart) bezeichnen kann, lassen sich keinerlei konkrete bzw.
differenzierte Aussagen machen. Denn die unergründliche Freiheit ist als etwas
völlig Unkonkretes und Undifferenziertes potentiell und unbegrenzt alles und
kann in keiner Weise ausgelotet werden und bleibt aus diesem Grunde als das
tiefste und unermeßlichste Urmysterium für unsere unmittelbare Wahrnehmung auf
ewig unzugänglich. Das Nichts ist quasi ein unerschöpflicher Pool von absolut
unermeßlich und unendlich vielen, undifferenzierten Möglichkeiten. Was wir
direkt erfahren, das ist die personal-differenzierte Fülle bzw. Ganzheit des
Nichts, auch wenn diese Erfahrung dem Menschen zuweilen nur undeutlich und
schemenhaft oder nahezu gar nicht offenbar wird. Wahrhaft existiert das Nichts
demnach niemals als Nichts, sondern nur als Fülle der Persönlichkeit. Aus der
Fülle bzw. Ganzheit der Persönlichkeit heraus können wir mittels intuitiver
Spekulation auf das Nichts Rückschlüsse ziehen. Das Nichts als unergründliche
Freiheit stellt einen metaphysischen Grenzwert dar. Die Freiheit kann niemals
als vorseiendes Nichts verharren, denn dann wäre das Nichts absolut und zur
gottmenschlichen Freiheit bzw. Fülle nicht fähig, und dem widerspricht
eindeutig unsere authentische, d. h. wahrhaft persönliche Wahrnehmung, die in
jedem Fall bedingungslos frei ist. Ein absolutes Nichts würde jegliche Existenz
ausschließen, die Welt wäre niemals in Erscheinung getreten. Ein absolutes
Nichts wäre der Sieg einer allumfassenden Sinnlosigkeit, der
Bewegungslosigkeit, der Unveränderlichkeit. Doch uns Menschen offenbart sich
kein Sehnen nach der Erstarrtheit eines absoluten Nichts, sondern ein Sehnen
nach einem wahrhaft sinnvollen und freien Leben, nach der Wahrheit des Lebens
überhaupt.
Die Verwirklichung des geistig-schöpferischen Lebens, der
Wahrheit, hat immer ein unerschöpfliches Urmysterium, die unergründliche
Freiheit, das Nichts zur Voraussetzung. Die Freiheit bricht aus ihrer
Unergründlichkeit immer wieder in der Welt hervor, in der sie vom Sinn
ergriffen wird, ohne den sie nicht existieren kann. Gott, der im Menschen
immanent wirksame transzendente Sinn, sehnt sich und sucht nach seiner
Freiheit. Ich behaupte, daß es einen zeitlichen und einen außer- bzw.
überzeitlichen Prozeß, daß es eine unvollständige begrenzte Bewegung in der
Zeit und eine vollständige umfassende und bedingungslose Bewegtheit außerhalb
der Zeit zur Fülle hin gibt, deren existentielle Realität erst der Gottmensch
als Liebe umfassend bewußt wahrnehmen kann. Im Grunde geht die Zeit aus der
Freiheit hervor. Aus der Freiheit heraus ist erst die Bewegung, die die Zeit
hervorruft, möglich. Ohne Freiheit gäbe es im Grunde nur Starrheit und
Bewegungslosigkeit. Ohne Freiheit wäre absolut nichts möglich. Wer die
unergründliche Freiheit grundsätzlich in Frage stellt, der postuliert im
gleichen Zuge ein absolutes Nichts – eine Absurdität und Unmöglichkeit! Zeit
ist immer sekundär. Ohne Freiheit gäbe es gar keine Zeit! Die reine Vernunft,
für die ein Überzeitliches nicht konsequent rationalisierbar ist, wird dieses
Problem niemals begreifen, geschweige denn lösen können. Die zeitlose
Bewegtheit (bzw. Dynamik) in der Person ist der zeitlich begrenzten Bewegung
innerhalb der objektivierten Welt zeitlich nicht nachgeordnet. Beide Aspekte,
jenseitige Bewegtheit und diesseitige Bewegung, stehen in unmittelbarer
Beziehung zueinander. Sie bilden eine dualistische Einheit, wodurch erst
existentielle Wahrheit möglich wird, d. h., gottmenschliche Wahrheit ist an
einen zu transformierenden Geschichtsprozeß gebunden. Wir können den in der
Seele wirkenden überzeitlich bewegten Geist intuitiv wahrnehmen. Er
überschreitet die Grenzen zum Diesseits und offenbart sich unserem Bewußtsein
und damit verbunden in unserem Denken und unserer Vernunft als wahrhaft
sinnvoll und schöpferisch und ethisch orientiert. Werden jedoch das Denken und
die Vernunft vom geistigen Herzen abgetrennt, so erlahmt augenblicklich jede
schöpferische Kraft. Denken und Vernunft werden mechanisch und in ihrer Art
Rationalität letzten Endes bösartig-irrational und destruktiv, wie sich das in
unserer modernen Zivilisation zeigt. Die Freiheit ist vom Grunde her die
unergründliche Ewigkeit und in Gott die authentische Ewigkeit. Dem Menschen
offenbart sich die Ewigkeit nicht nach, sondern außerhalb der Zeit
augenblicklich als unermeßliche, dynamisch-vollständige, göttliche Freiheit und
schließt dennoch das Zeitliche (die Geschichte) transformierend mit ein.
Freiheit und Gott vereinigen sich im Menschen als der materiell-physische,
psychisch-seelische und geistige Gottmensch zur schöpferischen Wahrheit hin.
Der Träger der Wahrheit ist letzten Endes die göttlich-menschliche
Persönlichkeit. In ihr findet die Begegnung der göttlichen und der menschlichen
Persönlichkeit statt. Das heißt, in der schöpferischen Wahrheit findet der
Mensch seine Gottebenbildlichkeit wieder. Im Menschen und nur im Menschen kann
sich die vollständige Begegnung der (menschlichen) Freiheit und der Gnade
Gottes ereignen. Gott ist in der diesseitigen Welt gefesselt. Nur aus dem
Ungrund heraus findet er seine absolute Entsprechung, die Freiheit, deren
absolut exponiertester Träger nur der Mensch sein kann.
Es ist die vorseiende irrationale Freiheit im Nichts,
außerhalb der Zeit, die sich im Menschen augenblicklich zu einer vom Sinn-Geist
verklärten gottmenschlichen Freiheit erfüllen kann, und es ist eine bedingte
Freiheit in der Zeit, die von der Notwendigkeit und dem Gesetz eingegrenzt wird
und im eigentlichen Sinne eine Unfreiheit ist. Die Wahrheit ist in der Zeit
bedingt und relativ und zeitlich begrenzt und als göttliche Freiheit, als
gottmenschliche Freiheit, unbegrenzt und ewig. In der Zeit ist die Wahrheit
lügenhaft. Erst in der ewigen gottmenschlichen Wahrheit vereinigt sich die
Freiheit mit dem Geist – mit Gott unmittelbar schöpferisch. Die tiefste Tragik,
die wahrhaftigste Tragik ereignet sich aus dem existenzdialektischen,
dialogisch-gemeinschaftlichen Zusammenwirken von Freiheit und göttlicher Gnade,
einem Zusammenwirken, das sich im Menschen als Liebe offenbart. Damit verbunden
ist das Leiden des Menschen: Der Mensch leidet für die Wahrheit, für den
ethischen Imperativ eines authentisch leuchtenden Gewissens, das sich
transzendierend und aufopfernd, d. h. liebend in die Gemeinschaft hinein
verwirklichen will. Gott verbindet sich mit der Freiheit, damit die Freiheit schöpferisch
im Menschen wirksam werden kann, damit der Mensch als freies Wesen par
excellence die wahrhaftige Antwort auf sein inneres göttliches Wesen finden und
geben kann. Vor allem auch dieses göttlich-freiheitliche Leid gehört zu des
Menschen tiefstem Geheimnis – der Liebe, es ist vom Grunde her der Kampf um die
Wahrheit, um die Liebe, um Gott an sich.
Die Freiheit tritt in dieser Welt ständig in Erscheinung.
Sie ist der wahrhaftig dynamisch-ewige, d. h. ursachelose Grund des Seins an
sich. Wilber zufolge ist der „GEIST“ die „Essenz“ von allem „Seienden“. Dieser
„GEIST“ soll absolut sein, in dem Sinne, daß er, sowohl vor als auch über einer
„seienden“ bzw. manifesten Welt stehend, immer derselbe „GEIST“ ist. Daraus
wird aber nicht klar, warum aus diesem absoluten „GEIST“ eine Welt der
Widersprüche und Gegensätze hervorgehen kann. Es ist deshalb anzunehmen, daß
eine vorseiende irrationale Freiheit dem Geist zugrunde liegt, die erst im
Durchgang durch eine dualistische Welt von Freiheit und Notwendigkeit, von Gut
und Böse, der Evolution, dem rufenden, nach Realisierung sich sehnenden Geist
entgegengehen kann. Die Freiheit kann nur deshalb in der Welt in Erscheinung
treten, da in der Welt Gott zumindest immer als Logos-Sinn wirksam ist. Letzten
Endes kann sich die Freiheit hin zur sinn- bzw. geistvollen Freiheit im
Gottmenschen erfüllen. Es offenbart sich dem Menschen der Logos-Sinn als
Gott-Sinn. Die Offenbarung Gottes im Menschen erfolgt aber nicht im
evolutionistisch-gesetzmäßigen Sinne, weil das wiederum der Freiheit
widersprechen würde! Das Göttliche in uns erhebt nicht den Zeigefinger und
weist uns den sicheren Weg zum vermeintlich guten Ziel. Das Göttliche ruft uns,
und wir müssen uns frei machen und frei dem Rufe folgen. Denn Gott ist nicht
die Macht, die uns zu irgendwas zwingen könnte. Er ist das absolut machtlose
Prinzip, wenn mit „Macht“ das autoritäre Prinzip gemeint ist. Er ist das
absolut allmächtige Prinzip, wenn mit „allmächtig“ ausschließlich die freie,
nichtautoritäre und wahrhaft hingebende Liebe gemeint ist. Der Geist kann im
Urgrund nicht sinnvoll existieren und muß unterschieden werden vom Geist in
seiner höchsten Entfaltung, der auf jeden Fall absolut sinnvoll ist. Abgesehen
davon wäre der Geist als „Soheit“, wie Wilber ihn sieht, ein statischer Geist,
was seine Existenz als Freiheit in der menschlichen Persönlichkeit ausschließen
würde. Die Freiheit geht unablässig aus dem Nichts hervor und tritt in der
Natur unablässig mit dem Logos-Sinn und im Menschen mit Gott in Beziehung.
Logos-Sinn bzw. Gott können nur durch die alles transzendierende
Beziehungsfähigkeit der Freiheit wirksam werden, d. h. wiederum, Logos bzw.
Gott müssen vom Grunde her selber frei und dynamisch sein. Gott, der wahrhaftig
existierende Geist, und die Freiheit vereinen sich schließlich in der Tiefe des
Gottmenschen existenzdialektisch und dialogisch zur schöpferischen Wahrheit als
ein fortwährender Prozeß. Gott und Freiheit bilden jedoch niemals eine absolute
Identität, da dies jedes schöpferische Wechselspiel zwischen dem Göttlichen und
Menschlichen ausschließen würde. Ich meine weiterhin, daß es ein absolut
ausschließliches Nichts, die absolute Leere, nicht gibt (siehe auch Teil 5). Im
Nichts ist die Freiheit absolut irrational. Die unergründliche Freiheit bildet
den absolut unermeßlichen Grund. Gleichzeitig, mit dem fortwährenden
Hindurchbrechen zum objektivierten Sein, wirkt jedoch auf die vorseiende
Freiheit der Logos-Sinn in Richtung seines personalen Offenbarwerdens als Gott.
Erst im selbstbewußten Menschen kann Gott letztlich seine grundlegendste
Eigenschaft finden, die die von der Liebe, d. h. vom existentiell wahrnehmbaren
Geist durchdrungene bzw. verklärte Freiheit ist. Jedoch ohne das Vorhandensein
des Logos-Sinns bzw. Gott-Sinns in der Welt bzw. im Menschen müßte die Freiheit
in sich verharren und wäre gefangen und unfrei. Die Freiheit ist frei, weil sie
sich fortwährend aus dem Ungrund heraus in dieser Welt zum überweltlichen
Sinnvollen wenden kann. Und sinnvoll ist der Mensch, da einzig er sich frei
entfalten kann. Der Sinn (Gott) und die Freiheit sind die Grundbedingungen der
menschlichen Existenz. Das Wirken der Freiheit verbindet sich fortwährend und
unweigerlich aus ihrer absoluten Dynamik mit dem Sinn als Logos und als
Gott, letzterer offenbart sich im Gottmenschen als geistige Freiheit. Zum
unermeßlichen Grund steigt der Sinn (Gott) herab, aus dem unermeßlichen Grund
erhebt sich die sinnerfüllte Freiheit. Freiheit und Sinn (Logos, Gott) sind das
differenzierte Hervortreten der Gottheit aus dem Nichts in die Welt und
erfüllen sich wahrhaft im Menschen, sind ein scheinbarer Dualismus (gegenüber
dem echten zwischen Freiheit und Notwendigkeit – darauf werde ich noch
konkreter eingehen) und vereinen sich existenzdialektisch und dialogisch in der
gottmenschlichen Wahrheit. Die Freiheit findet in der Zeit immer nur ihre
notwendig geringste und in Gott ihre wahrhaft höchste Entsprechung.
Die Freiheit ist eine im Menschen tiefverwurzelte
Realität. Der Mensch ist das zur Freiheit bestimmte Wesen an sich. Die Freiheit
ist des Menschen Grundeigenschaft, sie ist ungeschaffen das Ich in seiner
vorbewußten und unergründlichen Tiefe. Die höchste Freiheit ereignet sich in
der Persönlichkeit als ein Ereignis, das unmittelbar mit unermeßlicher Liebe
verbunden ist, eine Realität, die jedem Menschen, dem sich im Augenblick die
Liebe offenbarte, auch bewußt ist. In irgendeiner Weise fühlt sich jeder Mensch
zur Freiheit hingezogen. Die Suche des Menschen nach der Freiheit an sich legt
nahe, daß in ihr ein grundlegendes Prinzip des Weltenflusses zu suchen ist.
Ein Nichts als „Soheit“ oder „Leerheit“ (Wilber) ist uns
nicht bewußt. Das Nichts ist ein indifferenter und vorbewußter Ungrund, es ist
die Gottheit in ihrer vorseienden, d. h. unergründlichen Tiefe bzw. Ewigkeit.
Bewußtsein setzt ein differenziertes Ich voraus. Das Nichts spüren wir intuitiv
als Freiheit, als bösartig-destruktive oder schöpferische Freiheit, was jeweils
ein dynamischer Prozeß ist. Allerdings glaube ich, daß das Nichts oftmals mit
einem innermenschlichen Zustand scheinbar absoluter meditativer Ruhe, einem
sogenannten nichtdualen Bewußtsein oder reinen Zeugen, verwechselt und aus
diesem Empfinden heraus die Leerheit als das Absolute postuliert wird (siehe
Ken Wilber). Diese Verwechslung kann meines Erachtens dadurch geschehen, weil
man geneigt ist, das Nichts mit einer Ruhe vor der uns bedrängenden,
zeitgebundenen Hast in dieser Welt gleichzusetzen. Man liebt diese Art Ruhe,
und in ihrer Verabsolutierung wirkt sie im Höchstmaß destruktiv, - sie führt
letztlich, entgegen der verstandesmäßig gewollten Absicht, auf egozentrische
Weise in einen Zustand subjektiver Abgeschlossenheit bzw. der Vereinsamung. In
Wahrheit kann Ruhe nur ein Moment auf unserem Weg sein – allerdings ein
notwendiger. Aus der Ruhe, aus der den Egozentrismus überwindenden Demut und
Zurückhaltung gegenüber dieser Welt öffnen wir uns für die Fülle und Bewegtheit
der anderen. N. Berdjajew sagt:
„Demut ist in ihrem ontologischen Sinn die heroische
Überwindung des Egozentrismus und heroisches Emporsteigen zu den Höhen der
theozentrischen Sicht“ (Berdjajew 6).
Ruhe und innerlich-göttlich bestimmte Aktivität stehen
zueinander in schöpferischer Wechselbeziehung. Vom Grunde her ist wahrhaftige
Ruhe niemals absolut, sie ist selber schon schöpferisch aktiv – eine sogenannte
schöpferische Pause zum ganzheitlichen Existieren und Wirken hin zugleich. In
der wahrhaftigen Ruhe und Konzentration findet der Mensch seine wesentliche
Bestimmung. Wir Menschen dürfen uns nicht in einer weltverneinenden bzw.
egozentrischen Demut und Zurückhaltung üben. Diese Welt ist nicht dazu da,
gänzlich überwunden, sondern wahrhaft vergeistigt zu werden! Auf diese Weise
erst kann der Mensch als Gottmensch seiner Bestimmung gerecht werden, indem er
auf der Grundlage einer zu verklärenden, zu vergeistigenden Welt am Ende in
sich den höchsten Wert, die ganzheitlich-gemeinschaftliche Persönlichkeit zur
wahrhaften Ewigkeit hin liebend bzw. transzendierend realisiert.
Die Einheit von der sowohl immanenten als auch
transzendenten Natur des Geistes erhellt sich philosophisch erst, wenn man
bereit ist anzuerkennen, daß der Geist sich erst im Menschen wahrhaft bzw.
authentisch-ganzheitlich-existentiell offenbaren kann. Der Geist ist letzten
Endes die durch das Wort „Dynamik“ symbolisch zu charakterisierende göttliche
Freiheit, der sich aber im Nichts, in der Abgeschiedenheit der Gottheit, nicht
mit der völlig undifferenzierten Freiheit existenzdialektisch verbinden kann,
d. h., der Geist bleibt im Nichts absolut potentieller Geist. Über die
manifeste Welt, auf der Grundlage des manifesten Seins erst strebt die Freiheit
einerseits nach dem Sinn (Logos, Gott), der nur über das objektivierte Sein
wirken kann und nach der Freiheit ruft. Auf den Sinn orientiert erhält die
Freiheit ihre wahrhafte Richtung. Andererseits ist die Freiheit zugleich der
ursachelose (Un-) Grund des Chaos und strebt zu ihrem ureigenen Grund zurück.
Das Chaos herrscht auch im Menschen, und es hängt von seiner geistigen Kraft
ab, ob er diesem Chaos widerstehen und der Freiheit in sich und aus sich heraus
eine göttliche Richtung verleihen kann. Es ist dies der ewige Kampf in der
tiefsten Tiefe des Menschen, die wahrhaftigste Tragik der göttlich-menschlichen
Existenz. Durch die Prüfung der Freiheit im Durchgang durch die begrenzte Welt
der Objekte (die im Menschen als geistige Objekte erscheinen) werden der
geistige Mensch und mit ihm der Geist an sich, d. h. Gott, erst existent. Es
ist die immanente Freiheit (das unmittelbare Ich) die unser Wesenszug ist. Vom
Göttlichen im Menschen erhält diese Freiheit ihre göttlich-transzendentale
Qualität bzw. Universalität. Im Gottmenschen offenbart sich die göttlich-freiheitliche
Wahrheit als vollkommene Einheit von Transzendenz und Immanenz. Die Wahrheit
(die Liebe) ereignet sich subjektiv und ist dennoch fern jedweder
Subjektabgeschlossenheit bzw. Egozentrik. In der manifesten, in der gefallenen
Welt findet der freiheitliche Geist zunächst seine geringste freiheitliche
Entsprechung. In der natürlichen Welt hat die Freiheit ihre Grenzen. Erst mit
dem Erscheinen des Menschen kann sich die Freiheit aus den Fesseln der
natürlichen Welt, der Welt der Notwendigkeit lösen. In einem Prozeß des
Werdens, der unvermeidlich ist und die Zeit (die Geschichte) transformierend
mit einschließt, ist letzten Endes der freie Mensch dazu berufen, in der Tiefe
seiner Persönlichkeit die Persönlichkeit Gottes zu erschauen und die Trennung
zwischen Gott und Mensch dort zu überwinden, aber nicht zur zustandslosen
Leerheit bzw. zur absoluten Identität hin, wie Wilber es will, sondern in einem
liebenden Akt, der ganzheitlich die Welt verklären wird (die irdische
eingeschlossen) und durch welchen sich schöpferisch die göttlich-menschliche
Wahrheit ereignet, durch welchen sich die Freiheit als Geist in ihrer Dynamik
wahrhaft erfüllt. Der transzendente Geist wird als geistige Freiheit der
göttlich-menschlichen Persönlichkeit immanent und offenbart sich uns in der
Liebe. Durch die göttlich-menschliche Persönlichkeit ereignet sich die Einheit
des Paradoxon von Immanenz und Transzendenz. Die Persönlichkeit ist vollkommen
offen und überschreitet alle Grenzen der Welt hin zum Du im Wir, hin zu der
Tiefe einer anderen Persönlichkeit. Die göttlich-menschliche Persönlichkeit ist
in ihrer Tiefe vollkommen frei und kann alles, die manifeste und
freiheitlich-geistige Welt, ganzheitlich in sich aufnehmen und gerade deshalb
die Welt geistig durchdringen.
Die Wahrheit würde mit dem Nichts enden, wäre dieses
absolut. Aber ein Nichts ist nur ein Nichts, wenn es auch ein sogenanntes Sein
gibt, das die Freiheit und den Sinn zur Grundlage hat. Erst aus der
differenzierten Verbindung von Freiheit und göttlicher Gnade (scheinbarer
Dualismus, existenzdialektisches und dialogisches Verhältnis) entsteht die
Dynamik, die sich letzten Endes im Gottmenschen überzeitlich zur ewig
schöpferischen Wahrheit fortwährend erfüllt.
Übrigens ergibt sich aus meiner Sicht nicht die pauschale
Schlußfolgerung, daß, Wilber zufolge, „keine Erscheinung dem ‚GEIST’ näher als
irgendeine andere“ ist, es sei denn, man interpretiert Wilbers „GEIST“
ausschließlich als ein vorseiendes Nichts. Aber auch im Nichts an sich gibt es
keine irgendwie gearteten Erscheinungen, die Wilbers teilweise pantheistisch
anmutende Identitätsphilosophie (in der Art: Leere-ist-Form und Form-ist-Leere)
bestätigen würden. Der wahrhafte Geist eines selbstbewußten Menschen, eines
Menschen, der die Erfahrung der Welt ganzheitlich-liebend in sich aufnimmt, um
die Welt lichten, d. h. vergeistigen zu können, ist ein konkreter, lebendiger
Geist. Dieser Geist (in Verbindung mit Gott) ist vor allem eine Aufgabe und
keine Gegebenheit, die uns in einer fertigen Form präsentiert wird. Es gibt eine
nahezu gottlos technisierte Welt, die lügenhaft und destruktiv dem Nichtsein
entgegenstrebt. Aber ohne die Möglichkeit des gottlosen Nichtseins könnte die
gottmenschliche Existenz letzten Endes nicht in Erscheinung treten. Erst über
den Dualismus von Gut und Böse erwacht im Menschen die ethische Grundintuition.
Das Schlimme und Bösartige ist nicht das Nichts, die irrationale Freiheit,
sondern die „existierende“ Lüge in der diesseitig-notwendigen Welt, die mit
Macht dem Göttlichen und, so paradox das klingen mag, eben auch der Freiheit,
deren Kind sie ist, widerstrebt. Das Hauptmerkmal dieser Lüge ist die
Egozentrik (eine Pervertierung bzw. Verabsolutierung des männlich-rationalen
Prinzips), die über sich nichts höheres Wesenhaftes, Transzendentes gelten läßt
und sich selbst als absoluten, alles berechnenden und kontrollierenden Wert
setzt.
Wilbers Hauptproblem ist sein Hang zur statischen
Auffassung des Geistes, die auf der Annahme beruht, daß der menschlichen
Persönlichkeit letzten Endes nur eine sekundäre Bedeutung zukommt. Ich selbst
werde mich bemühen, den Geist konsequent dynamisch auszulegen und dabei die
Persönlichkeit in den Mittelpunkt zu stellen. Auch Wilbers Theorie der
sogenannten Prä- und Transverwechslungen kann vom personalistisch-dynamischen
Standpunkt aus nicht aufrechterhalten werden - gerade auch hinsichtlich
meditativer bzw. kontemplativer Zustände im Menschen und bei der Beurteilung
von z. B. patriarchalen Herrschaftsreligionen oder matriarchalen
Naturreligionen, welche die Freiheit der Persönlichkeit nahezu nicht kennen.
In der Konsequenz entwickelt sich aus Wilbers integralem
Ansatz meines Erachtens eine unpersönliche monistische Auffassung von der Welt
und vom Geist insbesondere, ähnlich dem "absoluten Diesseits" wie es
K. Nishitani vertritt, eine Auffassung, die nichts zu einer realen bzw.
wahrhaftigen Integration beiträgt, zumal Wilbers vorzugsweise theoretischer
Ansatz über abstrakte Spekulationen nicht wirklich hinausgelangen kann. Nach
Berdjajew dagegen bilden der Mensch und Gott eine Zwei-Einheit, die sich im
Menschen als gottmenschliche Persönlichkeit, als gottmenschliche Wahrheit
offenbart. Diese ursprüngliche authentische bzw. existentielle Offenbarung und
Einheit ereignet sich jedoch erst durch eine fortwährend schöpferische
Überwindung einer Welt dualistischer Gegensätze.
Nebenbei bemerkt ist die authentische Offenbarung
vollkommen subjektiv und gerade deshalb vollkommen real, weil alle wahrhaftige
Realität geistiger Art ist. Dagegen ist die sogenannte „objektive Realität“
(sofern damit die äußerlich objektivierte Welt gemeint ist) als solche für den
Menschen nur sinnlich korrespondierend wahrnehmbar und läßt sich subjektiv-objektivierend realisieren (u.a.
berechnen, erforschen und interpretieren auf der Grundlage empirischer
Beobachtungen und Experimente). Der Begriff „objektiv“ deutet vor allem darauf
hin, daß sich die Welt in einer von subjektiven Einflüssen befreiten Weise
allgemeingültig beschreiben ließe. Mit dieser Problematik beschäftige ich mich
eingehender im 5. Teil dieser Auseinandersetzung. Die terminologische
Verbindung der Worte „objektiv“ und „Realität“ halte ich, beim genaueren
Hinsehen, für irreführend, richtiger wäre es, von einer auf die Welt der
Subjekt-Objekt-Spaltung bezogenen Objektivation bzw. Objektivierung (Berdjajew)
zu sprechen, die der Mensch sinnlich korrespondierend erfassen und zugleich
subjektiv-objektivierend realisieren kann (subjektiv-objektivierte Realität).
Letzten Endes ist die Objektivation, die objektivierte Welt, überhaupt nicht real
und konkret faßbar, wie es immer noch behauptet und gelehrt wird. Real existent
und konkret ist einzig das Subjekt. Nikolai Berdjajew meint dazu:
„Es gibt kein Objekt, keine objektive Realität in der
sogenannten objektiven Welt, die man Geist nennen dürfte. ... Im Objekt kann
man nur die Objektivierung des Geistes finden“,
und:
„Das Objekt kann nur in einer Bezogenheit, niemals aber in
seiner Wesenheit selbst gedacht werden. Die reine Geistigkeit steht über dem
rationalen Gegensatz von Subjekt und Objekt. Der Geist ist auch nicht im
eigentlichen Sinn subjektiv, obwohl er nur im Subjekt und nicht im Objekt
existiert. Jedenfalls ist er nicht subjektiv im psychologischen Sinn des
Wortes, der ja die korrelative Existenz einer Objektivität voraussetzt. Die Realität
des Geistes ist nicht die der Objekte, der Sachen, sie ist von ganz anderer
Qualität, sie ist eine unendlich überlegene, ursprünglichere Realität“
(Berdjajew 7).
Der (scheinbare) Dualismus, das existenzdialektische und
dialogische Verhältnis zwischen Mensch und Gott bietet erst die Gewähr dafür,
daß jeweils beide grundsätzlich existieren. Gott allein jedoch, ohne den
Menschen, würde nie der sein, zu der er im allumfassenden Gottmenschen, in der
Wahrheit fortlaufend wird - die von der Liebe durchdrungene geistige Freiheit!
Ich werde nun im folgenden aus N. Berdjajews Buch „Die
menschliche Persönlichkeit und die überpersönlichen Werte“ (Berdjajew 8) sehr
umfangreich zitieren. Die darin enthaltenen grundlegenden Gedanken sind für
meine weitere Argumentation maßgebend.
„Für die Existentialphilosophie, die das Rätsel des Seins
nicht im Objekt, sondern im Subjekt erblickt, kehrt sich das Verhältnis um:
nicht die Persönlichkeit ist ein Teil der Gesellschaft, sondern die
Gesellschaft ist ein Teil der Persönlichkeit, ist lediglich ihre soziale Seite.
Die Persönlichkeit ist auch nicht ein Teil der Welt, sondern die Welt ist ein
Teil der Persönlichkeit, ist ihre kosmische Seite. Darum liegt in der
Persönlichkeit, nicht in der Gesellschaft, im Subjekt, nicht im Objekt das
existentielle Zentrum. Und die Schwäche der Persönlichkeit, an der Macht der
Gesellschaft und des Kosmos gemessen, bedeutet darum noch lange nicht ihren
geringeren Wert. In dieser Welt kann das Wertvollere leicht als das Schwächere
erscheinen. Der Sohn Gottes, der von den Mächten der Welt gekreuzigt wird, mag,
gemessen an der Kraft derer, die ihn ans Kreuz schlagen, als ohnmächtig
erscheinen. So auch erscheint Sokrates machtlos und schwach neben denen, die
ihn den Giftbecher zu trinken zwingen. Die Propheten werden gesteinigt, und die
Steine sind, nach dem Gesetz dieser Welt, mächtiger als sie. Daß Recht und
Gerechtigkeit von den Mächten dieser Welt gekreuzigt werden, zeugt davon, daß
ihre Macht anderer Art ist. Daher beweist die Schwäche der Persönlichkeit
gegenüber der Welt, ihr Unterdrücktsein, noch lange nicht, daß sie ein
geringfügiger Teil der Gesellschaft ist und nicht den höchsten aller Werte
darstellt.“
„Wir sagen bisweilen von einem Menschen, er sei
unpersönlich, sei keine Persönlichkeit. Damit ist immer eine Wertung gegeben;
es will besagen, daß eine Persönlichkeit sein so viel heißt, wie sich eine
Qualität von allerhöchstem Werte zu eigen machen, eine bedeutende Aufgabe auf
sich nehmen. Aber noch der unpersönlichste Mensch ist ein Individuum. Ein
solches Individuum kann hohe Begabung, großes Talent besitzen, ohne doch eine
Persönlichkeit zu sein. Das Individuum ist eine naturalistische Kategorie, die
Persönlichkeit aber ist im Gegensatz dazu eine geistige, ja eine
geistig-religiöse Kategorie. Das Individuum bedeutet eine Naturtatsache, ein
Naturgebilde. Persönlichkeit dagegen bedeutet eine Wertung, die Aussage über
eine Qualität, sie ist ihrem Wesen nach ein axiologischer Begriff und gehört
zum Reiche des Geistes. Nach der Kantschen Erkenntnislehre ist das Individuum
Glied der Naturordnung, während die Persönlichkeit der Ordnung der Freiheit
angehört. Das Individuum existiert nach der Art, wie alle Naturwesen
existieren, die Persönlichkeit aber muß erst verwirklicht werden. Sie verwirklicht
sich freilich im Individuum als in einem Gliede der gegebenen Welt.“
„Eine Persönlichkeit gibt es nur dann, wenn in ihr ein
Prinzip gegeben ist, das von Natur, Gesellschaft und Umwelt unabhängig bleibt.
Die Persönlichkeit bestimmt sich von innen heraus, das heißt durch ein
geistiges Prinzip, das im Gegensatz steht zu jeder Determination von außen her.
Sie trägt in sich das Urbild eines höheren Seins als des Seins der Natur und
der Gesellschaft. Wenn die Persönlichkeit von außen her kein Teil irgend eines
anderen sein kann, so läßt sie sich auch nicht von innen her aus irgend welchen
Teilen zusammensetzen. Wohl umfaßt sie einen vielfältigen Inhalt, der sich im
Grenzfall universell zu erweitern vermag. Wohl wird sie durch diesen ständig
wachsenden, vielfältigen Inhalt unablässig bereichert. Doch sie ist Einheit in
der Mannigfaltigkeit. Ihre ursprüngliche Einheit und Ganzheit geht der
Mannigfaltigkeit ihres Inhalts voran und bleibt von dieser Mannigfaltigkeit
unabhängig.
Einheit in der Vielheit ist die Persönlichkeit und
zugleich Wandellosigkeit im Wandel. Diese Unwandelbarkeit im Wandel gehört zu
ihren wesentlichsten Bestimmungen. Es gibt keine Persönlichkeit, wo es keine
Bewegung und keine Veränderung gibt. Aber es gibt auch keine Persönlichkeit,
wenn sich im Wandel nicht zugleich Unwandelbarkeit, Einheit und Einzigkeit
zeigt, wenn es nicht immer dieselbe Persönlichkeit ist, an der sich der Prozeß
der Veränderung vollzieht.“
„Die Persönlichkeit hat das Dasein eines Überpersönlichen
zur Voraussetzung: ein Transzendieren über ihre Grenzen hinaus zu
überpersönlichen Werten. Sie kann nicht in sich selbst abgeschlossen bleiben,
sie muß aus sich heraus zu einem anderen hinüberschreiten: zu anderen Menschen,
zur Gesellschaft, zum Kosmos, zu Gott. Die Persönlichkeit bedarf der
Gemeinschaft mit anderen lebenden Wesen und der dienenden Hingabe an das, was
sie als ein Höheres, als Wert, als Heiliges erlebt. Erst dann erfüllt sich ihr
Leben mit einem qualitativen Inhalt. Die Persönlichkeit ist kein Teil der
Gesellschaft und kein Teil des Kosmos, aber sie hat eine soziale und kosmische
Seite. Der Mensch ist nicht bloß ein soziales Wesen, aber er ist auch
ein soziales Wesen und hat die Bestimmung, seine Persönlichkeit auch innerhalb
der Gesellschaft und in der Gemeinschaft und im Verkehr mit anderen Menschen
zur Darstellung zu bringen.“
„Die Realisierung der Persönlichkeit im Menschen hat die
Fähigkeit der Unterscheidung zur Vorbedingung - Unterscheidung seines Ich von
anderen Realitäten, von anderen Persönlichkeiten. Dem aber steht der
Egozentrismus am störendsten im Wege. Alle Menschen sind ein wenig egozentrisch
und müssen gegen diesen Sündenfall in sich ankämpfen. Doch der echte
Egozentriker, im Zustand des Eingeschlossenseins in sich selbst, vermengt alles
mit allem und läßt in dieser Vermengung die Persönlichkeit untergehen. Der
vollendete Egozentriker kann jegliche Idee und jeden beliebigen Wert in ein
Mittel zur eigenen Selbstbehauptung verwandeln. Jede Gemütsbewegung kann den
Menschen aufschließen und ihn doch auch wieder in sich selbst verschließen;
selbst die Demut kann zur schlimmsten Art des Hochmuts, der Selbstvergötterung,
werden. Auch die Liebe zu irgend einer geistigen oder sozialen Idee kann eine
Form des Egozentrismus sein. Das Epitheton 'persönlich' kann auch in negativem,
absprechendem Sinne zur Kennzeichnung des Egozentrismus gebraucht werden; wenn
man von einem 'sehr persönlich betonten' Menschen spricht, so ist damit nicht
gemeint, daß der betreffende Mensch eine stark ausgeprägte Persönlichkeit besitzt,
sondern daß er völlig von sich selbst besessen und unfähig ist, aus sich selbst
herauszugehen. Die wahre Entdeckung der Persönlichkeit im Ich ist immer
zugleich die Entdeckung der Persönlichkeit im Du, die Unterscheidung des Du vom
Ich, die Fähigkeit, sich in das Du zu versetzen, wozu der Egozentriker nicht
fähig ist.
Das Transzendieren der Persönlichkeit, das Hinübergehen zu
anderem vollzieht sich in zwiefacher Weise: durch ein Inbeziehungtreten zu
anderen Persönlichkeiten und durch ein Inbeziehungtreten zu überpersönlichen
Werten und Heiligtümern. Der qualitative Inhalt der Persönlichkeit wächst
hervor aus ihrer schöpferischen Vergemeinschaftung mit einem Du, mit einer
anderen Persönlichkeit, mit einer Vereinigung von Persönlichkeiten, mit der
Persönlichkeit Gottes - aber auch durch ein schöpferisches Inbeziehungtreten zu
überpersönlichen Werten und Heiligtümern, die oftmals die Form von 'Ideen'
annehmen. Eine Persönlichkeit ist arm und inhaltlos, wenn sie nicht irgend
welchen über ihr stehenden Werten und Ideen dient und verpflichtet ist.“
Das alles ist natürlich sehr verkürzt und unvollständig,
und ich kann deshalb allen Interessierten nur empfehlen, das ganze Buch von
Berdjajew zu lesen. Kommen wir jedoch nun wieder zurück zu Ken Wilber:
Er beginnt in seinem Buch mit ein paar allgemeinen
Gedanken „An den Leser - Über Gott und die Politik“ (S. 17). Für ihn stellt
sich das drängendste Problem unserer Zeit in der Frage dar,
„wie man die Tradition des Liberalismus mit einer echten
Spiritualität verbinden kann“ (S. 17).
Wilber hat Recht, wenn er sinngemäß den Liberalismus als
Auflehnung gegen einen tyrannischen Gott charakterisiert, der diesen Gott durch
eine ökonomische Tyrannei zu ersetzen trachtet, wogegen die Konservativen
weiterhin an ihrem Gottvater festhalten, der alle, die sich ihm widersetzen, in
die Hölle schickt und andere Götter nicht duldet. Darüber hinaus sagt Wilber:
„Das Gute am Liberalismus ist seine Betonung der
individuellen Freiheit und die Auflehnung der Herdenmentalität“ (S. 19).
(Ich behaupte jedoch: Auch der Liberalismus ruft eine Form
der Herdenmentalität hervor, ausgerichtet auf die Ökonomie, und hat kein
Verständnis für die Persönlichkeit. Aber dazu gleich noch mehr.)
Dem steht gegenüber:
„Der Vorzug des Konservatismus ist seine Einsicht, daß man
bei aller Bedeutsamkeit des Individuums und seiner individuellen Freiheiten
einem schweren Irrtum erliegt, wenn man das Individuum für eine isolierte Insel
hält. Das Individuum ist vielmehr zwangsläufig in einen innigen Kontext der Familie,
der Gemeinschaft und des Geistes eingebunden, und es hängt sogar seine ganze
Existenz von diesen tiefen Zusammenhängen und Verbindungen ab. Auch wenn man
daher auf seine Individualität pocht, hängen die tiefsten Werte nicht in einem
selbstverliebten Verständnis von Autonomie von der Beziehung zu einem selbst
ab, sondern von der Beziehung zur Familie, zu den Freunden, zur Gemeinschaft
und zum eigenen Gott. Wenn man diese tiefen Verbindungen leugnet, stört man
damit nicht nur das Gefüge der Gemeinschaft und gibt es dem Chaos des
Hyperindividualismus preis, sondern man zerreißt damit auch die tiefste aller
Verbindungen, nämlich diejenige zwischen einer menschlichen Seele und einem
göttlichen Geist“ (S. 20).
Aus dem eben zitierten Absatz geht hervor, daß das
Individuum nur im Kontext der Familie, der Gemeinschaft (bzw. der Gesellschaft)
und des Geistes verstanden werden kann, was zutreffend ist. Das Individuum ist
kontextabhängig und zugleich autonom. Aber das Individuum ist nicht nur eine
auf den Menschen beschränkte Kategorie. Auch das Tier, die Pflanze, selbst ein
Atom bildet eine individuell-autonome Einheit. Das Individuum ist somit eine
Naturtatsache, das einen festen Rahmen hat und somit begrenzt ist. Das
Individuum ist immer ein Teil des sozialen Verbundes vieler Individuen. Die
Kontextabhängigkeit des Individuums ist sein Schicksal. Niemals kann ein
Individuum seinem Schicksal entfliehen, außer es wird vollständig in einen
anderen Zusammenhang hinein aufgelöst.
Aber wo nun befindet sich das existentielle Zentrum? Davon
spricht Wilber in dem oben zitierten Zusammenhang (S. 20) nicht. Wilber
postuliert ein transpersonales Reich, in dem ein Ich, eine Persönlichkeit an
sich keinen Platz mehr hat. Das individuelle Ich muß, Wilber zufolge, in einen
höheren Zustand hinein „transzendiert“ (in der Bedeutung von „erhoben“ und
„aufgehoben“) werden. Er unterscheidet nicht konsequent zwischen einem
Rollen-Ich und einem wahrhaft tiefen Ich, das eine wahrhaftige Persönlichkeit
ausmacht. Wilber läßt für seine Theorie nur ein Rollen-Ich gelten, das er einem
transpersonalen „Ich“ bzw. „GEIST“, einem unpersönlichen Selbst, das wiederum
in eine zustandslose Leerheit einmündet, unterordnet. Dieses Selbst hat, Wilber
zufolge, mit Persönlichkeit an sich nichts gemein. Und da für Wilber letzten
Endes die Persönlichkeit nur eine untergeordnete Rolle spielt, die er quasi mit
dem Rollen-Ich identifiziert, wird der Mensch als Individuum, nicht als
Persönlichkeit, angehalten, nicht nur an sich selbst zu denken und auf seine
selbstverliebte Autonomie zu pochen, weil es angeblich die Vernunft und die
Moral einfach gebietet. Auf diese Weise aber wird nicht klar, woher unser Wille
zur Vernunft den Antrieb erhält, moralisch wirksam zu werden. Und warum soll
sich ein individueller Mensch darüber hinaus einfühlsam in einen anderen
individuellen Menschen hineinversetzen, wenn ihm sein Verstand sagt, daß
dadurch nur seine Konkurrenzfähigkeit geschwächt wird und er deshalb den
anderen Menschen kompromißlos, z. B. wirtschaftlich, in die Knie zu zwingen
hat?! Es muß also ein existentielles Zentrum (als Persönlichkeit) vorhanden
sein, welches, über das Individuum und den bloßen Verstand (die Ratio)
hinausgehend, umfassend integral und motivierend, d. h. vor allem
wertebestimmend im göttlich-schöpferischen Sinne ist. Und da es der Mensch ist,
der vernünftig, integral und schöpferisch handeln soll, muß dieses Zentrum ganz
tief in ihm verwurzelt sein. Und dieses Zentrum muß vor allem beziehungsfähig
sein, d. h., es muß dynamisch sein und muß eine werteschaffende „ethische
Grundintuition“ (wie ich sie nenne) als die authentische Gewissensquelle der
Persönlichkeit zur Grundlage haben. Eine anonyme zustandslose Leerheit
Wilberscher Art – ein transpersonales Reich - kann als existentiell-ethisches
Zentrum nicht in Frage kommen.
Der Mensch als Individuum ist auf der einen Seite autonom
und auf der anderen steht er in einem kontextuellen, d. h. sozialen und
kosmischen Zusammenhang. Es stellt sich also die Frage, die für mich
entscheidend ist, wie der Mensch als Individuum in eine tiefe Beziehung zur
Familie, zur Gemeinschaft und zum Geist treten kann, wenn man davon ausgeht,
daß das Individuum an sich keine integrale Erscheinung ist. Die Beantwortung
dieser Frage muß uns Wilber in letzter Konsequenz schuldig bleiben! Auch wenn
er eine zustandslose Leerheit als das letztlich Höchste behauptet, welches in
sich alles integrieren soll, so ist doch dieses Höchste bemerkenswert statisch
und beziehungsunfähig. Der begrifflich-symbolische Ausdruck „zustandslose Leerheit“
und ähnliche Ausdrücke ziehen sich übrigens wie ein roter Faden durch das
gesamte Buch von Wilber und sollen sozusagen auf die „gemeinsame Basis“ für die
„beiden modernen Feinde, Gott und der Liberalismus“ verweisen, von der er auf
Seite 21 spricht. Die zustandslose Leerheit ist nach Wilber im eigentlichen
Sinn der „GEIST“. Wilber leitet den begrifflich-symbolischen Ausdruck einer
zustandslosen Leerheit aus einer „unmittelbaren Erfahrung“, aus „echten
transpersonalen Praktiken, Paradigmen und Injunktionen“ (S. 383/384) ab. Aber
darauf werde ich später noch zurückkommen.
Nach meiner festen Überzeugung kann erst die
Unterscheidung zwischen Individuum und Persönlichkeit Licht in das Dunkel
bringen und nicht die zwischen Individuum und einer zustandslosen Leerheit oder
so. Das Individuum ist, wie oben schon gesagt, eine Naturtatsache und als diese
eine äußere, soziale Erscheinung. Das Individuum gehört zum Reich der
Notwendigkeit. Und ich behaupte an dieser Stelle: Erst in der Persönlichkeit
kann eine wahrhaftige Integration aller Teile stattfinden! Die Persönlichkeit
ist im Gegensatz zum Individuum eine geistige Kategorie, d. h., die
Persönlichkeit gehört dem Reich des Geistes an. Erst die Persönlichkeit ist in
der Lage, als wahrhaft unabhängiges Ganzes das Viele liebend in sich zu
vereinen. Die göttliche Persönlichkeit ist existent. Und jeder einzelne Mensch
kann ihr in der Tiefe seiner Persönlichkeit wahrhaftig begegnen (im
geistig-freiheitlichen, aber nicht im naturalistischen Sinne) und überschreitet
auf diese Weise seine Grenzen, ohne dabei seine einmalige und unverwechselbare
Persönlichkeit zu verlieren - ganz im Gegenteil.
Genauso verhält es sich mit der Freiheit. Ein Individuum
als solches erweist sich nicht als ein allumfassendes Ganzes. Die Abhängigkeit
des Individuums ist eine natürlich-soziale, da es nicht dem Reich der Freiheit
an sich angehört, sondern dem Reich der Notwendigkeit. Anders verhält es sich
mit der Persönlichkeit, die geistig existiert. Ich möchte an dieser Stelle
zunächst auf die vorangegangenen Zitate aus N. Berdjajews Buch „Die menschliche
Persönlichkeit und die überpersönlichen Werte“ verweisen.
Wie oben schon erwähnt, liegt für Wilber das drängendste
Problem unserer Zeit in der Frage, „wie man die Tradition des Liberalismus mit
einer echten Spiritualität verbinden kann“ (S. 17). Mein Ausgangspunkt ist dazu
folgender: Die wahrhaft liebende Persönlichkeit stellt den höchsten aller Werte
dar und ist schöpferisch bzw. schaffend im gottmenschlichen Sinne. Erst in der
Tiefe der Persönlichkeit findet jeder Mensch seine wahrhaftige Bestimmung. Für
mich ist die Persönlichkeit in keiner Weise mit einem „liberalen Geist“ (S.
22), wie ihn Wilber sich wünscht, vereinbar. Und ein spiritueller Liberalismus
(S. 21) ist für mich ein Ding der Unmöglichkeit, da die Liberalität vor allem
dem Reich der Notwendigkeit angehört und mit Freiheit im eigentlichen Sinne
nichts zu tun hat. Für den sogenannten freiheitlich bürgerlichen Liberalismus
hat sich die Freiheit ganz auf diese Erde zurückgezogen und sucht alles vom
begrenzten Menschen her zu verwirklichen, der ein Höheres scheinbar nicht nötig
hat und auf Gott verzichten kann. Gerade weil es dies ist, die Abtötung Gottes,
was Wilber am Liberalismus kritisiert, halte ich solche Wortverbindungen wie „liberaler
Geist“ (S. 22) und „liberaler Gott“ (S. 25) für denkbar ungeeignet. Der
Liberalismus ist eine Form der sozialen Beziehung und Ordnung in der
Gesellschaft und vertritt das verlogene Prinzip: „laissez faire – laissez
aller“, was auf das wirtschaftliche Leben bezogen unmenschliche bzw.
verbrecherische Konsequenzen nach sich zieht. Der Wirtschaftsliberalismus setzt
permanent das Prinzip der menschlichen Solidarität im ökonomischen Bereich
außer Kraft. Die Liberalität ist weit davon entfernt, die Tiefen einer
Persönlichkeit verstehen, geschweige denn, sich wahrhaft auf sie
einzulassen zu können. Die Persönlichkeit gehört zum Reich des Geistes und ist
auf ein sozialliberales, äußerliches Phänomen nicht reduzierbar. Liberales
Denken orientiert sich empirisch an eine diesseits begrenzte Welt, an ein
berechenbares Leben, an ein ausschließlich berechenbaren Menschen, liberales
Denken ist fremdbestimmtes, objektivierendes Denken und stellt sich der
personalen Existenz des Menschen entgegen. Das Wort „Gott“ wird von den liberal
denkenden Menschen zu einer leeren Worthülse degradiert, die sie benutzen, um
sich rein diesseitige und somit niedere Machtvorteile verschaffen zu können.
Diesseitigkeit ist der eigentliche Schlachtruf des Liberalismus, und er wird
sich nie gänzlich davon lösen können, es sei denn, er gibt den liberalen
Machtanspruch auf und erkennt ein Höheres und Unbegrenztes an.
Auf Seite 21 fragt Wilber weiterhin:
„Könnten diese beiden modernen Feinde, Gott und der
Liberalismus, in irgendeiner Weise eine gemeinsame Basis finden?“
Auch hier kommt es nun darauf an, was man sich unter einer
gemeinsamen Basis vorstellt. Auch diese Frage berührt das Hauptproblem, welches
sich mir in der Auseinandersetzung mit Wilbers Lektüre immer wieder stellte:
Sind wir vor allem deshalb zur Ausbildung einer tiefen Persönlichkeit fähig, da
wir das Bild der göttlichen Persönlichkeit in uns tragen? Und eine weitere
Frage schließt sich dem unweigerlich an: Ist ein transpersonales Reich
wünschenswert und überhaupt erreichbar? Ist Gottes Reich nicht auf das engste
mit der gottmenschlichen Persönlichkeit verbunden? Das Höhere (hier im
außerhierarchischen, außergesetzmäßigen Sinne), für mich die
göttlich-menschliche Persönlichkeit, kann niemals vom Niederen dahingehend
durchdrungen werden, daß es von diesem in irgendeiner Form beherrscht wird. Und
in diesem Sinne sind Gott und Liberalismus unvereinbar. Die einzige Lösung gibt
es nur, wenn das Niedere vom Höheren verklärt wird, wenn schöpferisch vom
Geiste her der Liberalismus seiner (begrenzten) Bestimmung zugeführt und
letztlich überwunden wird. In seinem Buch „Von des Menschen Knechtschaft und
Freiheit. Versuch einer personalen Philosophie.“ sagt Nikolai Berdjajew zum
Liberalismus:
„Die liberale Ökonomie, die sich auf das natürliche Spiel
der menschlichen Interessen stützt, war auf gar zu großem Optimismus begründet“
(Berdjajew 9).
Und:
„Der Liberalismus
war im ökonomischen und sozialen Leben die Ideologie des Kapitalismus; der
Personalismus hingegen ist eine unversöhnliche Verneinung der kapitalistischen
Ordnung. Der Personalismus läßt die Umwandlung der menschlichen Persönlichkeit
in eine Sache, eine Ware, oder um es mit Marx zu sagen – eine Verdinglichung
nicht zu“ (Berdjajew 10).
Vom Geiste her ist erst ein sinnvolles Handeln in unserem
ganzen Leben möglich. Gott ist letzten Endes der Sinn, der sich in uns in
irgendeiner Form immer bemerkbar macht, ohne den das Leben unerträglich und vom
Grunde her nicht möglich wäre. Aber Gott bzw. der Sinn ist niemals diese oder
jene Form an sich und zeigt sich schon gar nicht in der menschen- und
lebensverachtenden Form des Kapitalismus. Schöpferische Verklärung beinhaltet
auch, daß wir über das Niedere (Gesetz, Notwendigkeit) hinaus zum Höheren
gelangen, indem wir erkennen, was alles unmittelbar Gott nicht ist und was er
unmittelbar nur sein kann. Gott ist auf das engste mit der Freiheit und der
Liebe verbunden und ganz und gar nicht „liberalistisch“. Der Liberalismus hat
eine begrenzte soziale Funktion, die sich in unserer Geschichte herausgebildet
hat, die sich regulierend auf unser tägliches Leben auswirken kann, aber
schnell an ihre Grenzen stößt. Das ungebändigte Gewährenlassen des Liberalismus
in allen Bereichen des Lebens würde eben das Leben unweigerlich und vollkommen
zerstören. Der Liberalismus ist nicht für die Ewigkeit bestimmt, sondern muß
von einer wahrhaft ethischen Grundhaltung her beseitigt werden, einer
Grundhaltung, um die es zuvorderst im geistigen Sinne zu kämpfen gilt.
Wilber fragt:
„Kurz, könnte es nicht einen spirituellen Liberalismus
geben? Einen spirituellen Humanismus? Eine Haltung, die die Rechte des
einzelnen in einen tieferen spirituellen Zusammenhang stellt, durch den diese
Rechte nicht geleugnet, sondern vielmehr begründet werden?“ (S. 21)
Ja, die Rechte des Menschen begründen sich von einem
tieferen spirituellen Zusammenhang her! Wilber hat vollkommen Recht. Worauf es
jedoch letzten Endes ankommt, das ist, wo und wie dieser tiefere spirituelle
Zusammenhang wahrgenommen wird, worin er in Wirklichkeit besteht. Der Liberalismus
bietet hier keinerlei Grundlage. Ein spiritueller Humanismus wird für mich erst
dadurch wahrhaft sinnvoll, wenn er sich in einer göttlich-menschlichen
Spiritualität fortlaufend realisiert. Es wird sich der Geist offenbaren, „der
niemandem Leid zufügt“ (S. 25), wie Wilber meint, jedoch ich füge hinzu, der
niemanden Leid im Sinne unseres irdischen Daseins zufügt, welches uns in einem
fort zu erdrücken, d. h. zu entgeistigen droht, der aber eine Tragik und ein
Leid umfaßt, das uns in der konkreten Liebe zu einem Menschen, zum Menschlichen
in Gott – zu Gott selber begegnet und zu ihr erhebt, ohne das die Liebe leer,
fade und im Höchstmaß unvollständig wäre. Das schmerzhafte Opfer, das die Liebe
von uns ständig fordert, das ist die wahrhaftige Überwindung jeglichen
Egozentrismus und die Bereitschaft, für die Liebe frei zu leiden. In der Liebe
ist der Mensch vollkommen bewegt durch die innerliche, aufopferungsbereite
Hinwendung zum konkret Geliebten hin und ist bar jeglichen egozentrischen
Wollens. Er gibt sich ganz dem Geliebten hin und leidet
mit ihm und für ihn, damit sich dieser ganzheitlich-wahrhaftig offenbaren kann.
Der liebende Mensch ist ganzheitlich auf den Geliebten bezogen und ganz von ihm
erfüllt - erfüllt von der ewig bewegten Wahrheit einer tiefbewegten
Persönlichkeit, erfüllt vom Ich und Du im Wir bzw. vom Menschlichen in Gott –
eben von Gott selber. Und auch der Liebende bleibt und wird im Prozeß der Liebe
fortwährend ganzheitliche Persönlichkeit, verliert sich nicht im Du oder im
Wir. Die Liebe würde abrupt enden, würde das Ich sich mit dem Du vollständig
identifizieren oder würden Ich und Du zu einem hierarchisch höherstehenden Wir
als ein Absolutes evolvieren. Ich und Du stehen zueinander nicht in einem
starren dialektischen Verhältnis von These und Antithese, die zu einer
hierarchisch höherstehenden und absolut vereinheitlichenden bzw.
verabsolutierenden Synthese führen. Existentielle Dialektik vollzieht sich
immer nur zwischen zwei unabhängigen und in freier Gemeinschaft
verbundenen Subjekten, welche jeweils im existenzdialektischen
Prozeß vollständig erhalten bleiben und jeweils
schöpferisch-geistig an Tiefe und Fülle gewinnen und innerlich reicher werden.
Jeder Mensch persönlich kann die Wahrheit ganzheitlich verwirklichen und die existentielle
Dialektik in der Liebe zu einem anderen Menschen erfahren. Der Mensch in seinem
Wesenskern ist im mythologischen Sinne überhierarchischer Dreifaltigkeit immer
zugleich göttlich, menschlich und wahrhaftig. Jeder Mensch ist nur dann Mensch,
wenn er selbst bereits höchste Synthese ist. Das ursprüngliche Verhältnis der
existentiellen Dialektik bilden das Göttliche und das Menschliche in einer
jeder Person selbst, welche die Wahrheit zugleich ganzheitlich umschließt
(siehe auch N. Berdjajews Buch: Existentielle Dialektik des Göttlichen und
Menschlichen). Die existentielle Wahrheit steht nicht eines Tages vor uns. Sie
erfordert fortlaufend unsere ganz persönliche und unverwechselbare
Anstrengung, die mit dem Leid und der Tragik auf das engste verbunden ist. Der
Mensch kämpft um sein wahrhaftiges gottmenschliches Gewissen und muß es
befreien von allen Lügen und Verzerrungen der Alltäglichkeit, die ihn in ein
höllisches Dasein hinabzuziehen droht. Das wahre Leid und die wahre Tragik sind
der Dynamik der göttlichen Freiheit eigen. Die Tragik der Liebe liegt vor allem
auch in seiner absoluten Konkretheit, die eine Wahl von uns verlangt. Wir
opfern die Liebe zu einem Menschen, um uns ganz der Liebe zum Menschlichen in
Gott, um uns Gott selber zuwenden zu können. Berdjajew sagt:
„So sieht sich der Mensch manchmal verpflichtet und
innerlich gezwungen, einer Liebe zu entsagen, die er als höchsten Wert und
höchstes Gut auffaßt, im Namen eines Wertes, der zu einer anderen geistigen
Lebenssphäre gehört, im Namen etwa der zutiefst erlebten geistigen Freiheit
oder der familiären Beziehungen, oder endlich aus Mitleid zu anderen Menschen,
denen seine anders gerichtete Liebe Leiden bringt. Oder aber umgekehrt: der
Mensch kann den zweifellosen Wert seiner geistigen Freiheit und seiner Berufung
in dieser Welt, der Familie und Mitleides zu seinen Mitmenschen zugunsten des
unendlichen Wertes der Liebe zum Opfer bringen. Entscheidend ist dabei, daß kein
Gesetz und keine Norm den auf diese Weise entstandenen Wertkonflikt des sittlichen
Willens zu lösen verhelfen können. Der tragische Wertkonflikt appelliert an die
menschliche Freiheit; seine Lösung vollzieht sich
durch die schöpferische sittliche Tat“ (Berdjajew 11).
Liebe bedeutet immer auch Verzicht in dieser oder jener Form.
Gerade auch in der sich erfüllenden, in der von Seligkeit und Freude getragenen
Liebe zweier Menschen schwingt immer noch ein Gefühl des Leidens mit. Die Liebe
ereignet sich immer auch aus einem ganzheitlichen Weinen heraus um die Welt und
das Leben. Im Augenblick der Erfüllung der Liebe jedoch setzen sich die
Geliebten in Gott eins und überwinden letzten Endes das Leid der zu Fremdheit
erstarrten Welt. Die Geliebten vereinigen sich in Freude und Seligkeit aus dem
Weinen heraus und erlösen sich wahrhaftig im Gegensatz zum
Erlösungssuchen in einer objektivierten, begrenzten Welt. Und in dieser
Hinsicht ist Gott Sieg über den Tod und Sieg über das Leiden, Sieg über die
Notwendigkeit. Es ist der Sieg des ewigen Lebens (der gottmenschlichen
Wahrheit) über die Zeit, die wiederum ein Moment der Ewigkeit ist. Aber da wir
Menschen auch als zeitliche Wesen existieren, werden wir um diesen Sieg im
geistigen Sinne kämpfen müssen, denn ein endgültiger Sieg im Diesseits, in der
gefallenen Welt, würde Stillstand und somit höllisches Dasein zur Folge haben.
Ein Leben ohne tiefempfundenes Leid und tiefempfundene Tragik ist ein Leben
ohne Liebe und plätschert seicht an der Oberfläche dahin. Dieses Leben geht der
wahrhaftigen Freiheit aus dem Wege. Die Seichtheit und Oberflächlichkeit dieses
Lebens ist gerade auch ein Markenzeichen der Moderne, die von einer Art
Vernunftbesessenheit getragen wird, die mit geistiger Klarheit nicht mehr viel
zu tun hat. Aber auch die Moderne bleibt nicht gänzlich ungeschont von Leid und
Tragik; jedoch Tragik und Leid werden ganz dem gewöhnlichen, langweiligen und
ungeliebten Leben unterworfen und sind dazu da, in zweckoptimistischer Manier
mechanisch überwunden, d. h. verdrängt zu werden, damit der funktionale Fluß
des Systems nicht übermäßig gestört wird und der platte diesseitige
Fortschrittsglaube nicht ins wanken gerät. Zu einem wahrhaftigen Verständnis
der Tiefe von gottmenschlicher Tragik und gottmenschlichem Leid können und
wollen sich die an die moderne Zivilisation angepaßten Menschen nicht wirklich
durchringen, da sie von vornherein jeder religiösen Regung skeptisch und
ablehnend gegenüberstehen, da sie aber vor allem die Wahrheit, auf die das
wahrhaft existentielle Leiden hinweist, nicht ertragen. Das wahrhaftige Leiden
eines Menschen ist in unserer modernen Zeit eine nahezu verhaßte Erscheinung,
die den mechanischen Fluß dieser Welt nur stört und durcheinanderbringt, weil
sich dieses Leid eben nicht einfach in ein System einordnen läßt, weil es
wahrhaftig von einer anderen, jenseitigen bzw. geistigen Welt ist und die Welt
der Ordnung und Sicherheit in Frage stellt.
Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, daß Ken Wilber
um jeden Preis das so deutlich schmerzhafte Leben dieser begrenzten Welt auf
eine Art und Weise mit Gott in Verbindung bringen will, die letzten Endes jede
Bemühung um diesseitig notwendige Veränderungen vom Geist her und vor allem zum
Geist hin für zweit- oder gar drittrangig hält, d. h., die Vergeistigung des ganzen
Lebens muß nach Wilbers Theorie nicht unbedingt angestrebt werden, denn nach
dieser ist ja alles schon vollkommener „GEIST“. Danach kann es auf der einen
Seite im alten Stiefel weitergehen, z. B. liberal beschränkte und verlogene
Kompromißpolitik, während wir uns auf der anderen Seite in einer mehr oder
weniger knapp bemessenen Zeit auf meditative Weise einer Art „Gottesschau“
annähern, die sinngemäß alles wieder ungeschehen machen soll (S. 424). Das ist
u. a. verantwortungslos gegenüber allen Menschen, die sich nicht dazu
durchringen können, wenigsten auch nur ein einziges Mal auf ihre innere Stimme
(sofern sie noch eine haben) zu hören, die da sinngemäß noch fragt: Wofür tue
ich das alles überhaupt? Wo bleibe ich, wo bleibt mein tiefes Ich dabei? Und
wenn Ken Wilber in seinem Buch „Eros, Kosmos, Logos“ das Internet beschwört, so
darf er dabei aber gleichzeitig die vielen, vielen Menschen nicht vergessen,
die sich in ihrem Leben fast nur noch für Computer und Internet interessieren,
deren Leben nahezu damit ausgefüllt ist, für die Produktion der Computer und
für den Erhalt und die Weiterentwicklung des Internets zu sorgen und die keine
Zeit und irgendwann dann kein Verlangen mehr haben, sich menschlichen, d. h.
ethische Fragen zuzuwenden. Auch die technischen Errungenschaften wie der
Computer und das Internet müssen unter den Bedingungen des Kapitalismus und
seinen geistigen Gundlagen pervertieren, weil sie hier der Bedeutung nach und
in ihrem realen Gebrauch nicht auf den Menschen und seine Persönlichkeit,
sondern hauptsächlich auf marktwirtschaftliche Erfordernisse gerichtet werden.
Computer und Internet werden unter diesen Bedingungen im wahrsten Sinne des
Wortes zu Höllenmaschinen, die die Persönlichkeit des Menschen systematisch
zerstören.
Aus der Tiefe der Persönlichkeit kommt die Ahnung und
Unruhe, die das Leben braucht. Die Unruhe, die wir brauchen, hat nichts mit der
diesseitigen Rastlosigkeit zu tun. Es ist die Unruhe emotionaler Leidenschaft
und Intuition der Liebe zu Gott, zum Sinn, zur Freiheit - zur anderen
Persönlichkeit - zum Du, mit der ich in Gemeinschaft lebe, zu einer
schöpferisch-liebenden Gemeinschaft hin, in der ich mich einzig wahrhaft
verwirklichen kann. Die absolute Ruhe für sich genommen läßt die Fülle nicht
zu, die die Liebe mit sich bringt. Die absolute Ruhe ganz allein gibt es nicht.
Auf der einen Seite weist Ken Wilber auf die Kehrseite des
Liberalismus hin als eine ökonomische Tyrannei, in der
„der Gott des allmächtigen Geldes an die Stelle des Gottes
des Papstes trat. Die Seele konnte jetzt nicht mehr von Gott zerbrochen werden,
dafür aber von der Fabrik. Das Wichtigste im Leben war nicht mehr die Beziehung
zum Göttlichen, sondern vielmehr die Beziehung zum eigenen Einkommen. Und so
konnte es mitten im wirtschaftlichen Überfluß geschehen, daß die Seele langsam
verhungerte“ (S. 18).
Diese Einschätzung ist ganz und gar zutreffend. Aber
glaubt Ken Wilber wirklich, daß ein „liberaler Gott“ die Wogen schon glätten
wird? Meint er wirklich, daß neben ein bißchen liberaler Politik einfach ein
Gott gestellt werden kann, der uns letzten Endes nur immer sagt, daß das alles
nicht wahr ist, daß es eine Illusion ist, wenn wir uns in diesem Leben abmühen?
Und wenn dieses begrenzte Leben wirklich nur illusionär ist, dann besteht auch
kein Grund, an den Verhältnissen in diesem Leben etwas zu ändern. Dies alles
kommt davon, daß Ken Wilber, wie ich weiterhin darzustellen versuche, einen
„GEIST“ annimmt, der nicht wirklich ein Interesse am Leben hat, der als eine
erhabene, zustandslose Leerheit die Welt quasi für nichtig erklärt. Gott
erwartet von uns eine Antwort, die letzten Endes mit Liberalismus nichts gemein
hat, es ist immer wieder die freie Antwort, die eine wahrhaftige Liebe in einer
wahrhaftigen Persönlichkeit hervorrufen kann. Und jeder Mensch muß seine ganz
unverwechselbare, persönliche Antwort im Leben finden.
Wilber möchte auf irgendeine Weise die Spiritualität in
unser Leben zurückholen. Aber wir dürfen nicht auf Teufel komm raus in die
verkommensten Machtzentren hinein irgendwelche Hoffnungen setzen. Wir müssen
die Dunkelheit und Gottverlassenheit in dieser Welt zunächst anerkennen, doch
jeder einzelne selber hat die Chance und die Pflicht, der Machtbesessenheit zu
entsagen. Vom Liberalismus und sonstigen „Lagern“ sind meines Erachtens nur
Halbheiten, nicht Wahrheiten zu erwarten. Jeder Mensch als Ganzheit jedoch
trägt in sich göttliche Potentiale, deren Verwirklichung innere und äußere
Veränderungen zu einer gottmenschlichen Gemeinschaft hin nach sich ziehen
werden. Der Liberalismus dagegen ist ein sozial-geistiges Konstrukt, dem eine eigenständige
Persönlichkeit nicht zugesprochen, der nur von der Persönlichkeit her
verstanden und überwunden werden kann und muß.
Ken Wilber schreibt auf Seite 148:
„Wir haben nun gesehen, daß die westliche Tradition von
Anfang an mit einer Reihe schmerzlicher Dualismen geschlagen war und daß sich
die westliche Philosophie in praktisch all ihren Formen bis auf den heutigen
Tag auf den einen oder anderen dieser Dualismen stützt (Leib/Seele,
Wahrheit/Erscheinung, Noumenon/Phaenomenon, Transzendenz/Immanenz,
aufsteigend/absteigend, Subjekt/Objekt, Signifikat/Signifikant,
Bewußtsein/Gehirn).
Aber diese Dualismen und die mit ihnen zusammenhängenden
Kernprobleme können letztlich nicht vom Auge des Fleisches und seiner Empirie
und nicht vom Auge des Intellekts und seinem Rationalismus aufgelöst werden,
sondern nur vom Auge der Kontemplation und seiner radikalen Erfahrungsmystik
(Satori, oder wie auch immer man es nennen mag)“ (S.148).
In der Kontemplation gelangen wir zum „GEIST“, meint
Wilber, und von dorther erscheint alles in einem anderen Licht. Aber wie äußert
sich der „GEIST“ nun wahrhaftig, wirklich? Wilber schreibt dazu unter anderem:
Es ist die
„strahlende Klarheit allgegenwärtigen Gewahrseins“, ...
„Die Erkenntnis der nichtdualen Traditionen ist kompromißlos: Es gibt nur
GEIST, es gibt nur Gott, es gibt nur Leerheit in all ihrer strahlenden
Herrlichkeit. All das Gute und all das Böse, das Beste und das Schlechteste,
das Aufrechte und das Verkommene - alles und jedes ist - genau so, wie es ist
-, eine überaus vollkommene Manifestattion des GEISTES. Es gibt nichts als Gott,
nichts als die Gottheit, nichts als den GEIST in allen Richtungen, und kein
Sandkörnchen ist mehr oder weniger GEIST als alles andere.
Diese Erkenntnis bringt die große Suche zu einem Ende, die
den Kern der Empfindung eines getrennten Ich ausmacht“ (S.399).
Zunächst einmal - wohin führt die Aussage: „... kein
Sandkörnchen ist mehr oder weniger „GEIST“ als alles andere.“? Sie führt zu
Stillstand. Ein Sandkorn ist ein manifestes Phänomen, hervorgegangen aus dem
Nichts in Verbindung mit dem Logos, und dazu noch ein relativ einfaches. Das
ist keine Abwertung des Sandkorns, sondern eine verhältnismäßige Wahrheit. Vom
menschlichen Standpunkt aus findet der Geist (der Sinn) im Sandkorn an sich nur
seinen symbolischen Ausdruck. Erst im Menschen und durch ihn kann auch das
Sandkorn zur ewigen Wahrheit hin vergeistigt werden. Der Mensch ist ein
Mikrokosmos und Mikrotheos und trägt alles in ebenbildlich-konkretisierter
Weise in sich. Unser geistiges Leben ist immer konkret im wahrhaft realen
Sinne. Nur der Mensch als gottmenschliches Wesen findet den gemeinschaftlichen
Zugang zu allem. Dem subjektlosen Sandkorn kann sich der Geist niemals
offenbaren, dem Menschen ständig. Es gibt keine vollkommene Manifestation des
Geistes. Das Sandkorn spiegelt auf eine sehr unvollkommene und begrenzte Weise
den Geist in seiner dynamischen Ganzheit wider. Vollkommenheit in der
manifesten Welt brächte alles zum Abschluß und würde jede Entwicklung
ausschließen. In welcher Hinsicht könnte ein Sandkorn überhaupt vollkommen
sein? Ich fühle mich außerstande, diese Frage zu beantworten. Genauso wenig
lassen sich die geistigen Kategorien von Gut und Böse mit dem Geist an sich,
der umfassend ganzheitlich ist, gleichsetzen. Es gibt nichts absolut Böses oder
Gutes als eigenständige geistige Wesenheiten innerhalb dieses Dualismus. Auch
diese Kategorien stehen immer in einem Verhältnis zueinander und primär zum
Geist als Gott-Sinn, sie können nur schöpferisch-dynamisch und relativ vom
Menschen verstanden werden. Das Böse ist ein geistiges Phänomen, das
ausschließlich in der gefallenen Welt auftritt und seine Quellen in der
unergründlichen Gottheit hat. Was heute gut ist, kann morgen schlecht sein und
umgekehrt. Das Gute in dieser Welt wird meist schlecht, wenn es verabsolutiert
wird bzw. alles zu unterwerfen und zu vernichten droht. Durch die Kategorie von
Gut und Böse ordnen wir Menschen die manifeste Welt zum Geist hin, dessen
Grundeigenschaft die Freiheit darstellt und der sich jenseits von der
diesseitigen Unterscheidung von Gut und Böse befindet und sich dennoch ohne
diese Unterscheidung letzten Endes nicht als Wahrheit primär innermenschlich
offenbaren und sekundär ohne diese Unterscheidung in die gefallene und sündige
Welt hinein nicht wirken könnte. Letzten Endes gibt es überhaupt keine
Kategorien, mit denen man den Geist erschöpfend darstellen könnte. Letzten
Endes ist weder der Geist noch die manifeste Welt vollkommen oder unvollkommen
im diesseitigen Sinne. Der Geist jedoch, der real nur personal existiert,
enthält in sich alle Möglichkeiten des Ganzheitlichen, da er einzig vollkommen
frei werden und mit allem und allen in Beziehung treten kann. Und vollkommen
frei zu sein, bedeutet hier nicht, frei in seiner Vollkommenheit als etwas
Abgeschlossenes bzw. Absolutes zu sein, um allen Mißverständnissen vorzubeugen.
Das subjektlose Sandkorn ist die Manifestation einer stark eingeschränkten und
äußerst begrenzten Freiheit. Es ist wichtig, hier festzuhalten, daß wir in der
philosophischen Erörterung des Geistes niemals den Dualismus von Geist, dessen
Grundeigenschaft die Freiheit ist, und manifester Welt, die von der
Notwendigkeit bestimmt wird, aufgeben dürfen. Wäre alles gleichermaßen „GEIST“,
so bestände zwischen dem Sandkorn und dem Menschen kein Unterschied. Die
manifeste Welt für sich ist jedoch absolut geistlos in dem Sinne, daß sie
subjektlos, d. h., unpersönlich ist, obwohl wir in ihr individuelle
Erscheinungen wahrnehmen. Der personale Geist stellt eine gänzlich andersartige
und, im wahrsten Sinne des Wortes, eine reale Dimension dar.
Zwischen dem sogenannten Jenseits und Diesseits befindet sich eine tiefe Kluft.
Und dennoch bricht der Geist (als Logos-Sinn und Gott-Sinn) zur manifesten
Welt, die Freiheit zur Notwendigkeit ununterbrochen durch. Der Geist verleiht
der manifesten Welt eine freiheitliche Richtung, und deshalb kann der Mensch
überall den in der Welt wirkenden Logos wahrnehmen als den zur personalen
Offenbarung, zur Gottmenschlichkeit, rufenden Sinn, welcher als Logos der
subjektlosen manifesten Welt zugrunde liegt. Die Freiheit wirkt ständig in
dieser Welt im Verbund mit dem sinntragenden Logos oder dem Gott-Sinn, ob wir
es wollen oder nicht. Das heißt aber wiederum nicht, daß die Freiheit die
Wahrheit kausal hervorruft. Nein, die Freiheit in der manifesten Welt ist auch
immer eine Freiheit zum Chaos. Auch der Mensch hat die Freiheit innerliches und
äußerliches Chaos anzurichten. Es gibt keine Garantie für eine wahrhaftigere
Welt. Das Risiko, das Schicksal und der Zufall, die irrationalen Momente des
Lebens überhaupt, sind unsere ständigen Begleiter. Des Menschen Kraft zur
Wahrheit ist immer verbunden mit seiner wahrhaftigen Fähigkeit zur Intuition -
aber dazu gleich noch mehr. Es gibt keine diesseitig, rein vernunftmäßig
erschöpfende Erkenntnis vom Geist, denn diese Erkenntnis wird immer sekundär
sein, so auch das Bewußtsein. Der Geist offenbart sich im Menschen unmittelbar sinnVoll, was mit einem Gefühl der
Fülle verbunden ist und das Bewußtsein unmittelbar in Beziehung zum wahrhaften
Geist erweitert. Die Behauptung, daß es nur „GEIST“, nur Gott gibt, ist äußerst
irreführend. Diese Behauptung suggeriert uns einen „GEIST“, der als „strahlende
Klarheit allgegenwärtigen Gewahrseins“ und als „Leerheit in all ihrer strahlenden
Herrlichkeit“ einfach alles bedeutungslos macht. Dieser „GEIST“ führt uns,
Wilber zufolge, zu dem Schluß, daß alles Suchen, alle Bewegung, alles Streben
zutiefst zwecklos ist (S.400). Es stimmt, daß wir mitunter zu dem Schluß kommen
können, daß alles auf dieser Welt, alles, was wir tun, all unsere Suche keinen
Zweck und keinen Sinn mehr hat. Uns verlassen die Kräfte, und wir fallen in
eine tiefe Depression. Leerheit macht sich in uns breit. Dies ist ein wichtiger
Moment in unserem Leben. Denn spätestens zu diesem Zeitpunkt keimt in uns immer
wieder die Frage auf, wozu dies alles, wozu existieren wir, weshalb sind wir
überhaupt da? Nur, um diesen ganzen äußerlichen, weltlichen Prozeß in Gang zu
halten? Es ist die Frage nach dem Sinn überhaupt und der Bedeutung unseres
Daseins. Einerseits jedoch hält sich der zivilistierte Mensch nicht lange mit
dieser Frage auf, denn sie unterbricht sein gewohntes und vermeintlich
unaufschiebbares Tageswerk, was ihm gefährlich erscheint. Sie läßt sich darüber
hinaus nicht im Handumdrehen beantworten, wenn wir sie schon ein ganzes Leben
lang immer wieder verdrängt haben. Und sie verlangt auch eine gänzlich
ungewohnte und radikal-revolutionäre Antwort, die an den Festen unseres
angepaßten, äußerlichen Aktivitätsleben kräftig rütteln und unsere scheinbar
rein vernunftmäßigen Überzeugungen über die Welt erschüttern würde. Die
aufkommende Sinnfrage (die uns immer wieder begegnet, wenn wir nicht schon
völlig abgestumpft sind, was auch immer häufiger vorkommt), ruft insbesondere
beim ausgeprägten Egozentriker ein gefürchtetes Gefühl der Leerheit und eine
Art Höllentod, d. h. ein Gefühl der absoluten Sinnlosigkeit, hervor, dem der
Egozentriker ratlos gegenübersteht und der ihm absolut endlos erscheint.
Überhaupt ist gerade der moderne Mensch in unserer heutigen Zeit darauf
bedacht, u. a. durch noch mehr nach außen gelenkter (primär geistiger)
Aktivität Herr über seine immer wieder auftretende Sinnkrisen zu werden. Und es
gelingt ihm in der Regel auch relativ gut, da sich immer noch scheinbar
unabsehbare, endlose Fluchtmöglichkeiten eröffnen, die unter anderem der
wissenschaftlich-technische, rein diesseitige „Fortschritt“ zu bieten hat, an
den der moderne Mensch auch glaubt, der ihm vor allem deshalb sinnvoll
erscheint, da er äußerlich sichtbare Ergebnisse zeitigt und berechenbar ist.
Der Glaube an sich gehört wesentlich zur menschlichen Existenz. Das gilt auch
dann, wenn wir an den Atheismus (der Mensch an und für sich ist alles, ein
Dialog mit Gott existiert nicht) glauben oder an einen atheistischen bis hin
zum antireligiösen Sozialismus, an einen selbstgenügsamen Humanismus, an die
freie Marktwirtschaft, an die Natur, die Technik, das Geld, den Rationalismus,
die buddhistische Leere oder den absoluten Geist usw. usf. Es ist so, daß auch
der moderne Mensch ein Rädchen im Getriebe bleiben will, weil er die Antwort
der Sinnfrage, die mit der Tiefe seines wahrhaftigen Menschseins verbunden ist,
ängstlich scheut. Der moderne Mensch fühlt sich der Verantwortung, die mit der
Sinnfrage verbunden ist, nicht gewachsen und möchte diese weiterdelegieren. Der
moderne Mensch will letzten Endes das Kreuz Christi nicht tragen. Oder aber er
ist erst gar nicht zu einer Antwort in der Lage: Irgend etwas müssen wir doch
machen?! Und wenn wir uns letzten Endes sinnlos zu Tode gearbeitet haben - in
jederlei Hinsicht, hat sich die Sinnfrage ja auch erübrigt! In unserer modernen
Gesellschaft wird der Geist vehement an die Oberfläche verbannt. Er wird zum
Kleingeist bzw. Ungeist. Der kleingeistige, spießige Mensch ist ein
entfremdeter, teilweise ferngesteuerter Mensch, der nicht mehr bereit ist bzw.
nicht mehr dazu in der Lage ist, sich einem geistig realen und
wahrhaft-ethischen Hintergrund zuzuwenden und von dort aus Gewissenhaft
zu agieren. Der Geist der Oberfläche ist ein Konglomerat aus äußerlich
bestimmten Wunschträumen und Vorstellungen, Minderwertigkeitskomplexen,
Illusionen und anderem mehr. Er ist ein gehetzter, verlogener und äußerlich
begrenzter Geist, in dem das Menschliche nur noch ein Aspekt von vielen ist.
Der oberflächliche Mensch ist autoritätshörig, und ich meine damit, daß er sich
in erster Linie von außen her bestimmt und nicht aus der Tiefe seiner
Menschlichkeit, die wesentlich gottmenschlich ist. Die Menschen spüren die
Langeweile. Sie ist zu unserem Markenzeichen geworden. Um von der zersetzenden
Langeweile nicht erdrückt zu werden fangen die Menschen an, sinnlos zu spielen
(Computer), endlos zu reisen oder fernzusehen, Drogen zu nehmen und vieles
andere mehr. Wir sprechen heute auch von einer Spaßgesellschaft, in der sich
der Mensch permanent zerstreuen und amüsieren will, um sein Leiden zu betäuben.
Das Hauptübel aber ist vor allem das viele entäußerte, unhinterfragte, d. h.
das entfremdete Arbeiten an sich, welches der zivilisierte Mensch auch in seine
sogenannten Freizeit hineinträgt, um der Langeweile allenthalben entfliehen zu
können. Vielen ist es nicht mehr gegeben, die Ursache der Langeweile wahrhaftig
zu verstehen und wahrhaftig bzw. geistvoll auf sie zu reagieren, wenn sie dies
schon als Kinder nicht vermochten bzw. ihnen schon als Kinder nicht der
geistige Freiraum für die innere Arbeit (wahrhafte Kontemplation) gelassen oder
mitgegeben wurde. Geistige Flachheit ist von aller wahrhaftigen Freude, von
allem wahrhaftigen Leid und Schmerz aus der Tiefe heraus weit entfernt.
Geistiger Oberflächlichkeit fehlt jeder wahrhaftige Bezug. Der geist- bzw.
sinnentleerte Mensch in der erdrückenden Langeweile ist letztlich zu allen
Unmenschlichkeiten bereit, wenn es nur ein bißchen Kitzel in das triste,
alltägliche Dasein bringt. In der Regel will er dabei nur Zuschauer sein und
aus Scham möglichst unerkannt bleiben. Hierher gehört auch sein sexueller
Impuls, von welchem er bis hin zur ausschließlichen Sucht nach Sexualität
beherrscht oder zu jeder erdenklichen Art sexueller Perversionen getrieben
werden kann, ohne je irgendeine Art Befriedigung erlangt zu haben bzw. zu
erlangen, um somit wiederum immer tiefer in die Abhängigkeit getrieben zu
werden. Der sinnentleerte Mensch vermag es nicht, seinen sexuellen Instinkt zur
ganzheitlichen, gottmenschlichen Vereinigung hinzuführen bzw. zu sublimieren;
er kann nicht verstehen, daß ein von natürlich-biologischer Sexualität
bestimmtes Dasein niemals Erfüllung oder gar endgültige Befriedigung bringen wird.
N. Berdjajew sagt:
„Der Mensch leidet, wenn er den Gegenstand seiner
sexuellen Liebe nicht besitzt. Besitzt er ihn aber, so wird er übersättigt und
empfindet Langeweile und Leere. Diese Widersprüche bedeuten immer eine
unschöpferische Willensrichtung, die nicht zu geben, sondern nur zu verlangen,
die Energie nicht auszustrahlen, sondern sie nur zu verbrauchen vermag. Das
grösste Lebensgeheimnis besteht darin, dass die Befriedigung nur vom Gebenden
und Opfer Bringenden, nicht aber vom Fordernden und Verbrauchenden empfunden
wird. Nur im Gebenden versiegt nicht die Lebensenergie. Das Schaffen
ist eben ihre Unversiegbarkeit. Darum liegt das Geheimnis des Lebens in der
Liebe verborgen, - in der opferbringenden, gebenden, schöpferischen Liebe“
(Berdjajew 12).
Geistige Oberflächlichkeit bedeutet aber auch nahezu
vollständige Apathie - das Schlimmste, was uns passieren kann! Unsere
Gesellschaft arbeitet unentwegt auf diesen Zustand hin. Aber diese Gesellschaft
wird auf Dauer keinen Erfolg haben. Dafür werden letztlich unsere Instinkte und
Lebensimpulse schon sorgen, jedoch in welcher Form, wenn wir mit ihnen nicht
mehr geistvoll umgehen können und in uns nur noch Chaos herrscht?! Geistige
Oberflächlichkeit kann aber auch zu einem seichteren Leben an sich führen. Es
ist ein leichteres, aber unerfülltes Leben, weil es der Freiheit und der mit
ihr verbunden Möglichkeit zur Wahrheit bzw. Liebe permanent aus dem Wege geht.
Die Menschen, die solch ein Leben führen, scheuen jeden wahrhaften Widerstand,
der immer nur geistiger Art sein kann, und sind dazu auch gar nicht in der
Lage. Dieses Leben plätschert an der Oberfläche dahin, gerade weil die
vorherrschend nach außen gerichtete Aktivität den Menschen fortwährend zu
innerer Passivität bzw. Leblosigkeit gewissermaßen verpflichtet und die
Menschen somit zu einer fordernden, verbrauchenden und unschöpferischen
Willensrichtung tendieren. Andererseits gibt es aber in dieser modernen Welt
auch immer mehr Menschen, die die Zeichen ihrer innerlichen Krise ernst nehmen.
Aber allein das bietet noch keine Garantie für deren Bewältigung. Diese
Menschen können z. B. dazu übergehen, scheinbar mit allen Äußerlichkeiten
aufzuhören und sich nur noch der inneren Beschaulichkeit zu widmen. Sie
versuchen, alle Beziehungen zu dieser Welt abzubrechen, in der Hoffnung, ihr
tiefstes Ich zu finden. Es ist der Weg der „nichtdualen Tradition“, der Weg,
der die manifeste Welt verneint und dem tragischen Konflikt mit der Umwelt im
weitesten Sinne auszuweichen versucht. Ich behaupte jedoch, wenn alle Manifestationen
und Konflikte zutiefst bedeutungs- bzw. sinnlos wären, dann wäre es der Geist
auch. Wir wären zu keiner wahrhaften Erkenntnis, zu keinem Bewußtsein, zu
keinerlei Wahrnehmung fähig. Ja, die Suche ausschließlich in unserer begrenzten
Welt führt uns nicht zur Wahrheit. Die Wahrheit entfaltet sich tief in uns.
Aber sie ist eine Wahrheit, die immer in Beziehung zur Welt stehen muß, um
erkannt werden zu können. Sie stellt sich für unser Denken immer im höchsten
Grade dualistisch und paradox dar.
Natürlich werden die Dualismen auch von Wilber
berücksichtigt und dargestellt, wobei schon deutlich unterschieden werden muß
zwischen echten und scheinbaren Dualismen. So ist der Dualismus von Immanenz
und Transzendenz nur scheinbar, und damit meine ich, daß Immanenz und
Transzendenz als eigenständige bzw. getrennte geistige Wesenheiten real
gar nicht existieren, sondern die Trennung verstandesmäßig vorgenommen
wird, um über den Geist, der immer ganzheitlich agiert, letztlich
differenzierte (existential-) philosophische Aussagen machen zu können, die
wiederum der gemeinschaftlichen Kommunikation in Richtung schöpferischer
Verwirklichung der Wahrheit dienen. Als echte Dualismen bezeichne ich dagegen
die zwischen dem jenseits Geistigen und dem diesseits Irdischen – so verhält es
sich z. B. mit der Freiheit und der Notwendigkeit. Wilber verweist bei seiner
Darstellung der Dualismen immer wieder darauf, daß man keinen der sogenannten
vier Quadranten (Spektrum des Bewußtsein) außer Acht lassen darf. Er deutet
darauf hin, daß jedes Ding oder jede geistige Erscheinung in allen vier
Quadranten verankert ist. D. h., daß z. B. ein Gedanke erstens
innerlich-individuell vollzogen wird, daß zweitens dieser Gedanke zugleich
seine korrelative Entsprechung in der äußeren Materie, im individuellen Gehirn
hat, daß drittens der Gedanke immer einen intersubjektiven Hintergrund besitzt,
also zugleich kulturell (innerlich-sozial) ist und daß viertens neben der
innerlich-sozialen Seite immer auch eine äußerlich-soziale Seite existiert. Dies
alles erläutert Wilber auf relativ verständliche Weise in seinem Buch „Eros,
Kosmos, Logos“. Aber worauf es mir in meiner Kritik unter anderem immer wieder
ankommt, daß ist die Frage, wie diese vier Aspekte des Seins zueinander in
Beziehung treten und vor allem, wo sich das existentielle Zentrum befindet und
welche Bedeutung es hat? Wodurch erhält der Gedanke ursächlich seine Bedeutung,
seinen Inhalt und seine Wertung? Wird die Bedeutung, der Inhalt und der Wert z.
B. eines Gedankens einfach nur aus der Summe der intersubjektiven Werturteile
und kommunikativer Übereinkünfte gebildet, oder gibt es da vielleicht doch noch
eine tiefere Intuition, die uns eine wahrhaftigere Einsicht von innen heraus in
diesem Fall in bezug auf den Gedanken verleiht und uns zum schöpferischen
Umgang mit ihm aufruft? Mit anderen Worten: Sind wir einfach nur davon
abhängig, was andere uns erzählen, oder ist in uns selbst eine besondere
Bewertungs- und, vor allem, Umwertungsfähigkeit ursprünglich aktiv? Aber wenn
nach Wilber konsequent gedacht alles gleichermaßen nur „GEIST“ ist, so ist jede
schöpferische Wertung überflüssig, illusionär und falsch - aber zugleich auch
der „GEIST“. Ist jedoch der Geist, Gott, der beziehungsfähige dynamische und
unendlich-höchste Wert an sich, so stellt alles und jedes in bezug auf diesen
ebenfalls einen relativen dynamischen Wert dar. Und in diesem Sinne ist die
gottmenschliche Persönlichkeit für mich von allerhöchstem Wert, da sie alles in
sich umfaßt, was den erfüllten Geist wesentlich ausmacht (Liebe, Mitleid, Leid
und Freude, Freiheit usw. usf.), da sie das schöpferisch-wertende und im
eigentlichen Sinne umwertende existentielle Zentrum ist und eine Tiefe der
Wahrheit an sich behauptet, die von einem Quadrantensystem Wilberscher Herkunft
nie erreicht werden wird. Und ich meine vor allem, und ich denke auch im
Gegensatz zu Wilber, daß sich erst und vor allem in der menschlichen Person als
existentielles Zentrum alle vier Quadranten bzw. Aspekte unseres Seins
ganzheitlich und wahrhaftig zur erlebten höchsten Wahrheit hin konkret
verdichten können, da sich nur im existentiellen Zentrum des Menschen die ewige
Wahrheit konkret offenbaren kann, nicht im rein rationalistischen oder
nondualen, sondern im geistig-freiheitlich-liebenden Sinne. Ein theoretisches
System, das auf ein spekulatives nonduales Höchstes gerichtet ist, kann dies
nicht leisten, denn es ist ein im Höchstmaß konstruiertes System. Die
systematische Darstellung an und für sich hat niemals eine reale Existenz. Sie
dient ausschließlich der rationalen Verdeutlichung. Das System ist immer ein
Stück Lüge, weil es an systematischen Verallgemeinerungen und
Verabsolutierungen nicht vorbeikommt, auch wenn es noch so subtil ist. Die
innere Wirklichkeit ist absolut unsystematisch. Die innere Wirklichkeit ist im
höchsten Maße erlebte Wirklichkeit. Nur unsere innere Wirklichkeit kann und muß
Wahrheit werden, damit sie sich der Welt letzten Endes einzig wahrhaftig
zuwenden kann. Und unter Wahrheit verstehe ich immer die konkrete geistig
freiheitliche Liebe des Gottmenschen, des ganzheitlichen Menschen, der
Persönlichkeit - eine Liebe, die ihrem Wesen nach konkret dem Menschen, der
ganzen Welt zugewandt, auf die Welt bezogen und christlich ist. Wahrheit ist
absolut antidogmatisch. Sie ist niemals reine weltabgewandte Kontemplation,
sondern ständiger Kampf um die ganzheitliche Freiheit in der Tiefe der
Persönlichkeit an sich in der Auseinandersetzung mit einer widerstehenden,
objektivierten Welt! Dieser Kampf ist ein Wechselspiel höchster Seligkeit und
Freude und tiefster Tragik und tiefsten Leids zugleich, weil er, auf das
letztere bezogen, ganzheitlich mit der Welt verbunden ist; dieser Kampf ist
nicht ewig im zeitlichen, sondern im freiheitlich geistigen Sinne. Die Wahrheit
wird uns niemals als ein Geschenk dargereicht. Die Gnade ist niemals
„köstlicher Lohn“ (S. 27) – diese Beschreibung suggeriert uns meiner Meinung
nach eine völlig falsche Vorstellung. Man muß deutlich unterstreichen, daß die
Gnade kein Verdienst ist, den wir uns erwerben können, den man besitzt, etwas
statisches, sondern ein außerzeitlich dynamisches Ereignis, welches uns im
Augenblicke die Wahrheit erleben läßt, weil wir in unserem schöpferischen
Bemühen selbst zur Wahrheit werden. Gnade ist niemals die kausale Folge z. B.
von langandauernden Kontemplationsübungen. Die Kontemplation ist zum einen eine
Atempause, sie ist ein Heraustreten aus dem Zeitenstrudel. Sie ist Ruhe vor der
Rastlosigkeit, welche diese Welt erobert hat. Die Kontemplationsübungen jedoch
bieten uns noch keinerlei Gewähr dafür, daß uns die Gnade zuteil wird. Die auf
reine Erlösung ausgerichtete Kontemplationsübung ist vorzugsweise immer noch
eine Übung und Gesammeltheit in bezug auf die diesseitige, zeitweilig äußerst
anstrengende Welt. Sie ist weit von der ganzheitlichen Anstrengung entfernt,
die mit einer ganzheitlich-wahrhaftigen Kontemplation verbunden ist, die die
Wahrheit von uns verlangt! Die Kontemplation kann zur reinen weltabgewandten
Kontemplation werden. Dann verkehrt sie sich zu einer persönlichkeitszersetzenden
Passivität, die die Welt und insbesondere die Menschen rings um sich zu
vergessen bereit ist. Die göttliche Wahrheit ist zugleich die menschlichste
Wahrheit und des Menschen absolute (d. h. höchste) Bestimmung. Die Wahrheit
ereignet sich im ganzheitlichen Menschen, der zugleich Gottmensch ist, da er im
Geiste frei ist. Und diese geistige Freiheit muß ständig neu erkämpft werden.
Sie ist ein geistig-schöpferischer Akt zur Wahrheit und zum wahrhaftigen Leben
hin. Die Anstrengung im geistig freiheitlichen Sinne ist von einer
unvergleichlich höheren Dimension. Sie ist zugleich aufsteigende und
absteigende Liebe, Liebe zu Gott, zum Menschen und zur ganzen Welt. Erst der
innerlich offenbarten Wahrheit, die sich im Menschen als seine höchste
Qualität, als gottmenschliches Mysterium ereignet, kann eine wahrhaftige,
ganzheitliche, menschlich-göttliche Aktivität nach außen hin folgen, was uns
ein Bedürfnis ist. Doch andererseits könnte die Wahrheit ohne das Vorhandensein
der gefallenen, objektivierten Welt nicht wirksam werden und sich somit in
keiner Weise offenbaren – weder symbolisch noch existentiell. Das heißt
wiederum, daß die Wahrheit immer auch eine dynamisch-paradoxe Verquickung von
Zeitlichem und Überzeitlichem ist. Wahrhaftige Kontemplation ereignet sich aus
dem Akt des Schaffens heraus und ist selber schöpferisch. Nikolai Berdjajew
schrieb folgendes dazu:
„Es bestehen zwei typische Antworten auf die Frage nach
der Bestimmung des Menschen. Entweder ist der Mensch zur Kontemplation, oder
aber zum Schaffen berufen. Irrig ist aber die Gegenüberstellung von Schaffen
und Kontemplation in der Form des Entweder-Oder. Der Mensch ist zum Schaffen
berufen. Er ist nicht nur Zuschauer, sei es auch der göttlichen Schönheit.
Schaffen ist Aktion, Tat. Es setzt Überwindung der Schwierigkeiten voraus und
enthält ein Element der Arbeit. In der schöpferischen Aktivität ist Unruhe
vorhanden. Allein, das Schaffen kennt Augenblicke der Kontemplation, die als
paradiesisch charakterisiert werden können, Momente, in denen die Unruhe ganz
aufhört, eine völlige Ruhe eintritt, in denen alle Schwierigkeiten und Mühsale
verschwinden und der Mensch an dem Göttlichen teilnimmt. Die Kontemplation ist
der höchste Zustand; sie ist Selbstzweck und kann nicht Mittel werden. Aber
auch die Kontemplation ist Schaffen, Aktivität des Geistes, in der
Schwierigkeiten und Unruhe überwunden werden“ (Berdjajew 13).
Und ich persönlich meine aber auch: Die Unruhe des
wahrhaften Schaffens ist eine göttliche Unruhe und ist unzertrennlich
verbunden mit der göttlichen Ruhe der Kontemplation eines aktiven, dynamischen
Geistes. Und: Die göttliche Ruhe der Kontemplation trägt immer einen Moment
göttlicher Unruhe, d. h. schöpferischer Aktivität in sich.
In der wahrhaftigen Kontemplation werden wir uns der Gnade
Gottes, der Wahrheit, bewußt. Mir scheint es in diesem Zusammenhang deshalb
wichtig zu sein, noch kurz auf das Verhältnis von Wahrheit und Bewußtsein mit
einem Zitat von Berdjajew hinzuweisen:
„Das Verstehen der Wahrheit hängt von den Graden des
Bewußtseins ab, von der Ausdehnung oder Zusammenziehung des Bewußtseins. Es
gibt kein durchschnittliches normales transzendentales Bewußtsein. Oder
vielmehr: es existiert, aber es hat einen soziologischen, keinen metaphysischen
Charakter.
Aber hinter den verschiedenartigen Stufen des Bewußtseins
steht der transzendentale Mensch. Man könnte sagen, daß dem transzendentalen
Menschen das Überbewußtsein entspricht. Die Wahrheit wird auf verschiedenen
Wegen entsprechend den Stufen des Bewußtseins offenbart, und die Stufen des
Bewußtseins selbst hängen sehr vom Einfluß der sozialen Umgebung und der
sozialen Gruppierungen ab. Es gibt keine allgemein verbindliche intellektuelle
Wahrheit. Diese existiert nur in den physikalischen und mathematischen
Wissenschaften, am allerwenigsten in den Geisteswissenschaften. Die Wahrheit
ist menschlich, und sie kann nur durch menschliche Anstrengung geboren werden,
durch die Anstrengung jeder menschlichen Existenz.
Aber die Wahrheit ist auch göttlich, sie gehört zur
Gott-Menschheit. Darin liegt die Schwierigkeit auch des Problems der
Offenbarung, die immer die Offenbarung der höchsten Wahrheit sein will. Die
Tatsache, daß die Offenbarung der Wahrheit von den Stufen des Bewußtseins
abhängt, führt dahin, daß es keine allgemein verbindliche intellektuelle
Wahrheit gibt. Der Intellekt ist dem Willen zu sehr zu Diensten. Die Erkenntnis
der Wahrheit beruht weder auf objektiver universaler Vernunft noch auf
transzendentalem Bewußtsein, sonder auf dem transzendentalen Menschen, der sich
selbst nicht plötzlich oder leicht offenbart, der sich manchmal offenbart und
manchmal verbirgt, was die Erkenntnis der Wahrheit im Prinzip - wenn auch nicht
faktisch - göttlich-menschlich macht. Wahrheit, das heißt integrale, nicht
partielle Wahrheit, ist eine Offenbarung der höheren, nicht objektivierten
Welt. Sie kann nicht der abstrakten Vernunft offenbart werden, sie ist nicht
allein intellektuell. Die Erkenntnis der Wahrheit setzt die Menschlichkeit
eines klaren und reinen Bewußtseins voraus“ (Berdjajew 14).
Und ich muß hier auch noch einmal betonen: Wahrheit ist
eine innerlich-dynamische Qualität, der wir uns bewußt werden können. Wahrheit
ist nicht gleichzusetzen mit der völlig haltlosen Behauptung eines absoluten
Bewußtseins, das Ken Wilber immer wieder postuliert. Ein absolutes Bewußtsein
hat keinerlei wahrhaftige Realität, weder in uns noch außerhalb von uns. Die
Behauptung solch eines Bewußtseins hat mit dem Menschen nicht wirklich was tun
(zum „Absoluten Bewußtsein“ siehe auch Teil 5 und 7).
Auch wenn Ken Wilber um die Dualismen in seiner Theorie
sehr bemüht ist, so empfinde ich seine Darstellungen über den „GEIST“ in dem
hier besprochenen Buch „Das Wahre, Schöne, Gute“ so einseitig geistverhaftet
und weltabgewandt, daß ich daraus für mich keine befriedigende Antwort für das
Zusammenwirken und die Integration der Dualismen zum Geist hin entnehmen kann
(z. B.: In welchem Verhältnis stehen Freiheit und Notwendigkeit zueinander usw.
usf.?). Einerseits erteilt er jeder dualistischen Sicht eine Abfuhr:
„Es gibt ..., nichts als den GEIST in allen Richtungen“
(S. 399).
Andererseits bemüht er sich vorerst um eine
Konkretisierung der dualistischen Theorie. Der nichtdualen Sichtweise mißt
Wilber jedoch scheinbar die größere Bedeutung bei. Es ist eine kalte und
herzlose Art, die Welt als illusionär abzutun. Und aus dem zuletzt Gesagten
bleibt es irgendwie auch immer wieder unverständlich, weshalb er dennoch so
sehr um eine integrative Theorie bemüht ist. Vielleicht kommt darin eine
gewisse Unzufriedenheit mit dem „Auge der Kontemplation“ zum Ausdruck, eine
gewisse Unrast, der er nachgehen muß? Eine weitere Möglichkeit wäre, daß er
sich insgeheim von einer integrativen Theorie doch eine absolute, letztgültige
Aussage verspricht, auch wenn er dem an verschiedenen Stellen deutlich
widersprochen hat. Und eine verabsolutierende Theorie und ein absoluter Geist
liegen meines Erachtens auch gar nicht so weit auseinander! Vom Grunde her ist
Wilber vielleicht sogar eher Theoretiker. Aber er spürt deutlich, daß eine
Theorie ihre Grenzen hat. Mit dem „Auge der Kontemplation“ versichert er sich
auf der anderen Seite eines absoluten Wahrheitsanspruches. Doch beide
Herangehensweisen stehen für sich allein und kommen niemals zusammen.
Das Reich des Geistes, Gottes, der Freiheit und der Liebe,
das Reich der Wahrheit - es ist einzig völlig bedingungslos. Aber die
Offenbarung der Wahrheit ist ausschließlich dem ganzheitlichen Menschen
vorbehalten. Diese Offenbarung ist subjektiv und im höchsten Sinne geistig
real; sie ist fern aller Subjekt-Objekt-Spaltungen und tritt völlig aus
jeglicher Subjektabgeschlossenheit heraus. Wir Menschen sind zum einen den
Gesetzmäßigkeiten dieser Welt unterworfen, zum anderen jedoch sind wir
göttlicher Herkunft. Die Persönlichkeit ist des Menschen wesentlichste Bestimmung,
die mit sich die Wahrheit erst schaffend realisieren kann. Sie ist die
lebendige Einheit der paradoxalen und existenzdialektisch-dialogischen
Beziehungen. Sie ist einerseits raum- und zeitlos und nur in diesem Sinne
unendlich ewig, andererseits kann sie sich immer nur im Verbund mit der Zeit
realisieren. Die Persönlichkeit ist der wahrhaftig geistige Wesenszug des
Menschen, der aber auch einen Körper hat, der wiederum in geistiger Hinsicht
einen Teil der Persönlichkeit ausmacht. Der Geist (Gott) kann wahrhaftig erst
im Menschen existieren, da der Mensch das Wesen ist, das sich aus der Welt der
Notwendigkeit zur Welt der Freiheit der Persönlichkeit geistig-bewußt erheben
kann. Die Persönlichkeit hat den menschlichen Körper zur Grundlage. Dieser ist in
geistiger Hinsicht ein Teil von ihr. Das lebendige Gesicht eines Menschen, das
Strahlen seiner Augen sind das untrügerische Wehen des Geistes selbst und
gehören dem Reich des Noumenalen an. Die Persönlichkeit ist eine geistige
Realität, die mit einem Seelenbewußtsein verbunden ist. Die Persönlichkeit
erfüllt sich durch die in ihr wirkenden überpersönlichen Werte. Solange wir die
Persönlichkeit in uns aufrechterhalten können, sind wir vom Grunde her frei.
Sie ist die einzig wahrhaftige Freiheit, die sich allen äußeren autoritären
Einflüssen widersetzen kann. Sie ist in keiner Weise manipulierbar, weil sie
mein wahrhaftig tiefstes Ich ist, welches ich vergessen, verdrängen oder im
diesseitigen Sinne zerstören kann. Sie ist unabhängig davon im dynamischen Sinne
das einzig Ewige in mir. Die Persönlichkeit tritt in dieser Welt in Erscheinung
und ist im Grunde von einer anderen, geistig unendlichen Dimension. Sie ist vom
Gefühl her das Wandellose im Wandelbaren und ist dennoch vollkommen bewegt,
weil sie voller Liebe und geistiger Freiheit ist. Sie verleiht dem Menschen ein
Gefühl der Fülle an sich, die sich aus dem Nichts heraus, vom Ungrunde her
erhoben hat. Nur in der göttlich-menschlichen Persönlichkeit kann sich die
ganzheitliche Integration ereignen als Offenbarung der gottmenschlichen
Wahrheit. Die göttlich-menschliche Persönlichkeit ist das geistig-existentielle
Zentrum der Welt, des Kosmos überhaupt.
Immer wieder frage ich mich, weshalb sich Ken Wilber zu
dieser ganzen Auseinandersetzung über den Geist gedrängt fühlt. Befindet er
sich denn nicht in der Freiheit, die er als
„Zustand des reinen und schlichten Zeugen, des wahren
Sehers, der unermeßliche Leerheit und reine Freiheit ist, ...“ (S. 410/411)
beschreibt? Genügt ihm diese Freiheit nicht? Ist solch eine
Freiheit überhaupt möglich? - Nein! Diese Art Freiheit ist weit von einer
wahrhaft geistigen Freiheit entfernt. Freiheit erfordert unsere ganzheitliche
Anstrengung als Gottmensch und schließt das sogenannte Diesseitige und
Jenseitige gleichermaßen ein. Aber die Freiheit an sich ist letztlich eine
existentielle, d. h. geistige Offenbarung.
Auf Seite 400 schreibt Wilber:
„Aber es gibt keinen Ort, an dem der GEIST nicht ist. Der
GEIST ist an jeder Stelle des Kósmos gleichermaßen und ohne Einschränkung. Alles
Suchen, alle Bewegung, alles Streben ist zutiefst zwecklos. Die große Suche
verstärkt lediglich den großen Irrtum, daß an irgendeinem Ort der GEIST nicht
wäre und daß man von dort, wo er nicht ist, dorthin gelangen müsse, wo er ist.
Aber es gibt keinen Ort, an dem weniger, und keinen Ort, an dem mehr GEIST
wäre. Es gibt nur GEIST.“
Auf Seite 403 fährt Wilber unter anderem fort:
„In der nondualen Meditation oder Kontemplation aber kommt
die Aufgeregtheit der Empfindung eines getrennten Ich zu tiefer Ruhe, und das
Ich entspannt sich in die große Weite des Alls. Dann erkennt man, daß man nicht
‚da drinnen’ ist und die Welt ‚da draußen’ betrachtet, weil diese Dualität zu
reiner Gegenwart und spontanem Leuchten zusammengefallen ist.“
Die Konsequenz dieser Haltung heißt Mitleidlosigkeit. Die
Menschen im KZ zum Beispiel hätten es bei etwas Meditation viel leichter gehabt
- denn überall ist ja nur „GEIST“, undd wenn es nur Nazigeist ist. In einem
nondualen Gewahren hätte sich alles Leid der Welt verflüchtigt, denn im Zustand
einer nondualen Meditation erkennt man immer nur die Sinnlosigkeit des Leidens
in dieser Welt, wovon man sich gänzlich zu befreien hat (siehe auch Teil 6
dieser Auseinandersetzung). Aber es bestand für die Menschen im KZ wohl kaum
die Möglichkeit, sich einer nondualen Meditation zu unterziehen, viel zu sehr
wurden sie vom Leid geplagt, welches nicht abzusehen war und sie fortwährend
quälte. Die höllischen Zustände in dieser Welt überlebten die Menschen immer
nur deshalb, weil sie in sich einen Funken lebendiger Gemeinschaft, einen
Funken wahrhafter Liebe, die immer personale Liebe ist, aufrechterhalten
konnten, eine Liebe, die nichts mit der Illusion einer nondualen Identität bzw.
Gleichgültigkeit zu tun hat. Im KZ an sich bot sich kaum die Möglichkeit,
irgendeine Form geistiger Gemeinschaft zu entwickeln, wenn die Gemeinschaft im
Leben zuvor nicht schon wahrhaft erlebt worden war, woraus die Menschen einzig
ihre eigentliche Lebenskraft schöpfen konnten, indem sie den Glauben an diese
wahrhafte personale Gemeinschaft innerlich und in den Beziehungen zu den
anderen „Häftlingen“ schöpferisch gegenwärtig hielten und vertieften. Das KZ
war vor allem eine von geistig verwirrten und im hohen Grade bösartigen,
sinnentleerten Menschen erdachte Einrichtung, es war ein Ausdruck der Lüge und
Geistlosigkeit an sich. Es war ein sinn- bzw. geistentleerter Ort, an dem die
betroffenen Menschen in tiefe Zweifel stürzten, an dem ihr Glaube an sich
selbst, an den Menschen überhaupt und – damit verbunden - an die Wahrheit einer
äußerst harten und gerade auch in diesem Ausmaß niemals zu rechtfertigenden,
unvergleichlich grausamen Prüfung unterzogen wurde. Aber die Hölle währte nicht
ewig, auch nicht innerhalb ihrer äußeren Erscheinung. Es gibt keine ewige
Hölle, sie ist nur Durchgang und Teil der Erkenntnis. Und gleiches läßt sich
auch von unserer hochtechnisierten westlichen Lebensweise sagen. Auch sie
entpuppt sich immer mehr als ein höllisches, geist- und sinnentleertes Dasein,
deren Konsequenzen unabsehbar sind - vor allem in menschlicher Hinsicht, aber
auch angesichts der sich ausweitenden ökologischen Katastrophe als ein
krankhaftes Symptom, welche uns vielleicht tödlich treffen kann. Auch in diesem
Falle besitzt eine gleichmacherische, weltflüchtende Meditation eine bösartige
Dimension.
„Alles Suchen , alle Bewegung, alles Streben ist zutiefst
zwecklos“ (Wilber; S. 400).
Aber weshalb ist all diese Suche, sind all die Bewegungen
überhaupt da? Sollte man nicht unterscheiden zwischen einer lügenhaften und
einer wahrhaftigen Suche? Eine „große Suche“ (S. 400) sollte uns läutern auf
dem Weg zum Geist, zur Wahrheit hin. Sie nähert uns der wahrhaftigen Antwort,
die Gottes Gnade von uns verlangt, ohne die die Gnade Gottes unmöglich wäre. Es
ist die schöpferische Freiheit, die der Mensch in seine Gottmenschlichkeit
einfließen läßt. Ohne die schöpferische Freiheit, ohne die schöpferische
Anstrengung und Suche bliebe uns der Weg zu Gott versperrt. Die lügenhafte
Suche dagegen ist eine begrenzte, den Notwendigkeiten der endlichen Welt
angepaßte Suche. Sie ist letztlich ein bis zum Fanatismus ausartender Glaube
ausschließlich an die sichtbaren Dinge dieser Welt und die damit verbundenen
Gesetze.
Der Mensch in der schöpferischen Freiheit fühlt sich aus
dem Geist heraus zum Schaffen bestimmt. Aber es ist immer ein Kampf, immer eine
Anstrengung notwendig, die die Freiheit von uns verlangt. In unserem
wahrhaftigen Schaffen sind wir ständig auf der Suche nach dem Sinn, welcher der
Sinnlosigkeit gegenüber gestellt ist, welcher die Sinnlosigkeit letzten Endes
in sich umschließt. Der Sinn offenbart sich uns erst im Durchgang durch die
Sinnlosigkeit. Wir Menschen werden fortlaufend konfrontiert mit der
Sinnlosigkeit und müssen sie frei, d. h. schöpferisch überwinden auf dem Weg
zur existentiellen Wahrheit hin. Der Sinn und die Sinnlosigkeit sind ein
Gegensatzpaar und werden auf dem Weg hin zur Wahrheit als höchstem Sinn
läuternd umschlossen. Dieses Gegensatzpaar gibt uns erst die Möglichkeit, uns
für den Weg hin zum Geist als Freiheit zu entscheiden oder auch nicht - damit
verbunden ist wiederum die Entwicklung und Aufrechterhaltung eines klaren
Bewußtseins, geistiger Klarheit überhaupt. Und ich bin fest davon überzeugt,
daß die Offenbarung des Geistes gleichzeitig die Offenbarung des höchsten Sinns
hervorruft. Die Sinn- bzw. Geistlosigkeit in dieser Welt ist nicht nur eine
Täuschung, wie Wilber uns weismachen will. Aus diesem Gedanken heraus entsteht
die große Gefahr, die Welt als eine Illusion zu betrachten und das Böse zu
leugnen. Dieser Gedanke suggeriert uns einen Geist, der sich von der Welt
abwendet und nicht bereit ist, diese läuternd zu umschließen und zu verändern
bzw. zu verklären, indem die Wahrheit, der Sinn, die Liebe und die Freiheit
sich ins Diesseits ergießen. Es besteht so gesehen eine große Gefahr darin, die
Welt der äußeren Bewegung als Täuschung und somit als zwecklos abzutun. Das ist
die Konsequenz eines Denkens, welches den Geist als eine Art Leerheit
darstellt, zu der die diesseitige Welt nur in einem unerklärlichen Verhältnis
der Sinn- und Zwecklosigkeit steht. Dieses Denken ist das Produkt der
sogenannten
„echten transpersonalen Praktiken, Paradigmen und
Injunktionen“ (S. 383/384).
In dieser Welt besteht die Möglichkeit, daß Gott
verlorengeht. Wenn Gott nicht mehr gegenwärtig ist, wird die Hölle zur
Wirklichkeit - ein Alptraum, der sich tagtäglich in dieser Welt sehr real
ereignet. Eine gottlose Empfindung, ein gottloser Geist können eine teuflische
Empfindung, ein teuflischer Geist sein. Auch der technische Geist kann zum
Alpdruck werden, regiert er alles sinn- bzw. geistentleert und würdigt dabei
den Menschen zu einem reinen Funktionswesen herab. Technischer oder
mathematischer Geist ist an die Welt der Gesetze und Notwendigkeiten gebunden.
Ein gott- bzw. geistloser Mensch (Geist im Sinne von Liebe und Freiheit) kann
sich z. B. voll und ganz der Technik, der Natur (insbesondere auch als
neuzeitlich pervertierte Naturreligion), dem Kollektiv oder dem Geld und dem
Kapital unterwerfen. Er trifft gott-, sinn- bzw. geistlose Entscheidungen.
Dieser Mensch wird von einem niederen, eingeschränkten Geist beherrscht. Es ist
ein teuflisch-destruktiver Geist dahingehend, daß er in der Absicht, alles zu
kontrollieren, einer wahrhaftigen Integration des ganzen Lebens, der ganzen Welt
entgegenwirkt. Wenn Gott nicht mehr gegenwärtig ist, dann wird die Welt sinnlos
und leer: Das ist der bitterböse Zustand eines Egozentrikers und einer
Gesellschaft, die sich vorrangig aus einem rational-egozentrischen Zustand
heraus begreift und das Leben danach ausrichtet. Wir dürfen nicht so tun, als
gäbe es keine Sinnlosigkeit. Wir müssen die Sinnlosigkeit als solche
anerkennen. Die bewußte Wahrnehmung der Sinnlosigkeit kann uns den Weg zum Sinn
an sich öffnen. Darin besteht ihre unbestreitbare und ewige Bedeutung. Wenn wir
einfach nur behaupten, daß Sinnlosigkeit eine Illusion sei, dann bestreiten wir
im gleichen Atemzuge auch jeglichen Sinn und wollen uns so in Wirklichkeit dem
nötigen Konflikt, der nötigen Auseinandersetzung nicht stellen. Wir vermeiden
die wahrhaft innere Anstrengung, die sich der Sinnlosigkeit schöpferisch
stellt. Wir weichen dem inneren Ruf Gottes nach unserer schöpferischen Freiheit
aus, die uns eine völlig andere Sicht über uns und die ganze Welt offenbaren
könnte und verstehen wahrhaft gar nichts! Wir errichten gerade so ein
sinnloses, erstarrtes und äußerliches Lügengebäude, auf dem wir vehement
beharren, das uns in jeder Hinsicht tödlich bedroht. Die Sinnlosigkeit ist dazu
da, daß wir den Sinn letzten Endes ins Blickfeld rücken, was uns ein innerstes
Bedürfnis ist.
Es kommt also darauf an, was man unter einer „großen
Suche“ versteht. Die Suche an sich ist nur im Zusammenhang mit dem Menschen als
göttliches Wesen, als Gottmensch denkbar! Es kommt darauf an, auf welche Weise wir
suchen, um letzten Endes den Sinn des Suchens zu verstehen. Es gibt eine
endliche und notwendige Suche, die in der Orientierung auf eine objektivierte
Welt besteht, eine Suche, die für sich genommen sinnentleert ist. Und es gibt
eine jenseitig orientierte, sinnvolle Suche, deren Bedeutung auf dem Weg zu
Gott verstanden werden muß, damit wir sie als existentielle Wahrheit erkennen
können. Die wahrhaftige Suche beinhaltet all die Anstrengung, die uns für die
Gnade zur gottmenschlichen Offenbarung hin frei macht. Aber da die Wahrheit
letzten Endes nicht absolut ist, sondern dynamisch-existentiell, wird die
wahrhaftige Suche für uns Menschen nie zu einem Ende kommen: Es ist die
fortwährende Suche eines aus der schöpferischen Freiheit heraus wirkenden Menschen
zur Wahrheit hin. Diese Suche hat mit der sinnentleerten Suche nach einer
sogenannten reinen Gegenwart leeren Gewahrseins aber auch gar nichts gemein. In
der reinen Gegenwart zu verweilen, ohne zu lieben, ohne liebende Bewegtheit,
das bedeutet, nicht aus sich heraustreten zu können, nicht in Beziehung zu
treten zum Du im Wir, zu Gott - zum wahrhaft tiefen Ich meiner und einer
anderen göttlichen Persönlichkeit zugleich. Erst der Mensch als Gottmensch aus
der existentiellen Wahrheit heraus wirkt befreiend und vor allem sinnvoll und
sinngebend auf diese Welt zurück. Gott ist der Sinn, der erst im Menschen sinnVOLL wird.
Auf Seite 403 beschreibt Wilber die „reine Gegenwart“
folgendermaßen:
„Man betrachtet einen Berg und entspannt sich in die
Anstrengungslosigkeit seines eigenen gegenwärtigen Gewahrens. Plötzlich ist der
Berg alles und man selbst nichts. Die Empfindung eines getrennten Ich ist
plötzlich und vollständig verschwunden, und es gibt nichts weiter als alles,
was von Augenblick zu Augenblick entsteht. Man ist vollkommen wach, vollkommen
bewußt, alles ist ganz normal, nur ist nirgendwo mehr ein Ich zu finden. Man
ist nicht auf dieser Seite seines Antlitzes und schaut auf den Berg da draußen;
man ist einfach der Berg, man ist der Himmel und die Wolken, man ist alles, was
von Augenblick zu Augenblick entsteht, ganz einfach, ganz klar, einfach so.“
Ich könnte dieses Ereignis als ein Heraustreten aus den
Qualen und dem Leid dieser Welt deuten, als ein zur Ruhe kommen, auf das wir
auf keinen Fall verzichten können. Aber es ist nicht die Offenbarung des freien
Geistes als höchste Wahrheit an sich. Im höchsten Falle ist dies ein Ereignis
der Erlösung, und so gesehen ist ein reines Gegenwärtigen ganz und gar
unverzichtbar. Aber niemals können wir in einem Zustand der Erlösung verharren,
es sei denn, wir üben uns in der Aufrechterhaltung des Gefühls von Leere und
Sinnlosigkeit bzw. quälen uns durch Übungen der Enthaltsamkeit von dieser Welt.
Für einen lebendigen Menschen ist es unmöglich, im zeitlichen Sinne eine absolute
Erlösung zu erreichen und auch gar nicht wünschenswert. Auch die Erlösung kann
nur Durchgang sein zu einer höheren, freiheitlichen Dimension. Und wenn die
Persönlichkeit dieses Menschen nicht vollkommen zersetzt oder verdeckt worden
ist, wird er im Ansatz auch immer ein tiefes Ich spüren bzw. wahrnehmen. Im
Zustand der Erlösung tritt dieses tiefe Ich aus seiner partiellen Potentialität
oder Verdrängung heraus und gewinnt an Bedeutung für unser Dasein. Doch dies
geschieht nicht „einfach so“. Ohne jegliche geistig-schöpferische Anstrengung
wird uns die ewige Wahrheit dieses Ichs verschlossen bleiben. Im ganzen heißt
dies: Solange wir leben, werden wir uns immer wieder erlösen müssen von dieser
zeitlichen Welt - doch letzten Endes ist es, authentisch vollzogen, immer eine
Erlösung zur Tiefe, zur dynamisch-existentiellen Wahrheit hin im
göttlich-ewigen Sinne. Nichts ist in Wahrheit „ganz normal“. In der Tiefe der
Persönlichkeit wird alles zu einer uns wahrhaft erschütternden und ganz und gar
nicht normalen überzeitlich-dynamischen Veränderung führen. Und sofern diese
wahrhaftig ist, wird uns die diesseitige Welt nicht unberührt lassen. Die
wahrhaft innere Veränderung wird sich immer in Beziehung zu allem Manifesten
setzen und auf dieses integrativ zurückwirken, da diese innere Veränderung
immer ganzheitlich ist. Der Konflikt zwischen der Notwendigkeit dieser Welt und
meinem Verlangen nach Freiheit wird in mir wahrhaftige Veränderungen
hervorrufen, durch welche ich diesen Konflikt dynamisch-schöpferisch, d. h.
fortwährend überwinden kann. Ich kann nicht auf die soziale Seite des Lebens
verzichten, ich kann die Freiheit nur aus einer sozial-geistigen Gemeinschaft
heraus begreifen, um deren Verwirklichung ich kämpfe. Zur Bedeutung der
Gemeinschaft werde ich mich im weiteren Verlauf dieser Auseinandersetzung noch
äußern. Ohne jeglichen Widerstand, ohne jegliche Anstrengung in dieser Welt
wäre jede Freiheit inhaltslos und leer, es gäbe sie für uns Menschen eigentlich
gar nicht. Das Höchste ist nicht der begrenzt-symbolhafte Berg, auf dessen
Niveau ich mich nicht reduzieren kann und will. Ich sehne mich letzten Endes
immer nach dem Inhalt, nach dem konkreten, dem physisch-seelisch-geistig, d. h.
ganzheitlich geliebten und liebenden Menschen als Träger der gottebenbildlichen
menschlichen Persönlichkeit, des Ich und Du im Wir, ich sehne mich nach einer
wahrhaftig göttlich-menschlichen, d. h. christlichen Gemeinschaft. Und dies
alles gibt es schon, aber nicht in seiner weltlich-schöpferischen Erfüllung.
Und je deutlicher mir das Streben zum bösartigen Nichtsein in dieser Welt
bewußt wird, um so belastender wird für mich dieser Zustand.
Der von Wilber beschworene Zustand einer reinen Gegenwart
wäre für sich genommen ein wirklich vollkommen entleerter Zustand. Ich glaube nicht,
daß es solch einen Zustand jemals gab, wie ich weiter oben schon angedeutet
habe. Dieser Zustand kann nach meinem Dafürhalten niemals in seiner absoluten
Konsequenz von irgendeinem lebenden Wesen je erreicht werden. Man müßte ganz
Nichts sein. Doch es gibt kein Nichts ohne das Sein, welches von der Tiefe her
die Freiheit und von der Höhe den wirkenden Sinn zur Grundlage hat. Die
Erscheinung der konkreten Liebe (wahrhaftige Liebe ist immer konkret) führt die
Annahme eines leeren Gewahrseins, eines reinen Zeugen ad absurdum. Gäbe es den
Zustand einer reinen Gegenwart Wilberscher Art, so würde ich mich immer fragen,
wie und warum ich in Beziehung zum Du im Wir und überhaupt zu irgend etwas
treten sollte und trete?
Nikolai Berdjajew hat deutlich zwischen einer zeitlichen
und einer ewigen Gegenwart unterschieden, und ich kann dem nur zustimmen:
„Das Paradies ist nicht in der Zukunft, es ist überhaupt
nicht in der Zeit, sondern in der Ewigkeit. Die Ewigkeit wird aber im
Augenblick der Gegenwart erlangt, sie tritt nicht in der Gegenwart ein, die nur
ein Teil der zerrissenen Zeit ist, sondern in der Gegenwart, die Austritt
aus der Zeit bedeutet. Ewigkeit ist kein Stillstand, kein Aufhören des
schöpferischen Lebens; sie ist schöpferisches Leben anderer Ordnung, ist
Bewegung nicht im Raum und in der Zeit, sondern eine innere Bewegung, die durch
ein Kreis (nicht durch eine Gerade) symbolisiert werden kann; sie ist also das
innere Mysterium des Lebens, das Mysterium des Geistes, in das die gesamte
Tragödie des Weltlebens aufgenommen wird. Im Paradies wird mehr Leben, mehr
Bewegung sein, als in unserer sündigen Welt; diese Bewegung wird die des
‚Geistes’, nicht aber die der ‚Natur’ sein, die sich in der zerrissenen Zeit
vollzieht“ (Berdjajew 15).
Die folgende Äußerung Wilbers auf Seite 405 treibt es auf
die Spitze:
„Diese zustandslose Verfassung ist die wahre Natur dieses
und jedes anderen vorstellbaren Bewußtseinszustandes, weshalb jeder Zustand, in
dem man sich befindet, völlig in Ordnung ist. Die Änderung des Zustandes ist
nicht das höchste Ziel, sondern das Anerkennen der Wandellosigkeit, das
Anerkennen der ursprünglichen Leerheit, und wenn man bloß in einem
Schlummerzustand ruhig atmet, dann ist dieser Bewußtseinszustand eben auch in
Ordnung“ (S. 405).
Wenn jeder Bewußtseinszustand völlig in Ordnung ist, so
relativiert sich ja auch jeder nazistisch gefärbte Bewußtseinszustand
dahingehend, daß er die besten Voraussetzungen mitbringt. Für die zustandslose
Verfassung (welche ich in diesem Zusammenhang als reine Gegenwart leeren
Gewahrseins interpretiere) mag dies ja zutreffen, aber für die authentische
Liebe, für die existentielle Wahrheit muß der nazistisch orientierte Mensch auf
seiner jeweiligen Bewußtseinsstufe grundsätzlich geläutert werden und muß das
Bewußtsein darüber hinaus in einem für die Wahrheit notwendigen Maße
entwickeln! Wenn also die zustandslose Verfassung das Höchste ist, was wir in
jedem Bewußtseinszustand einfach nur wahrzunehmen brauchen, dann wird jedes
äußerlich lügenhafte Leben gleichermaßen gerechtfertigt. Das widerstrebt mir
zutiefst! Und warum verweilen wir nicht fortlaufend im Schlummerzustand? Dieser
Zustand bietet doch die ideale Ruhe, um sich ganz der sogenannten reinen
Gegenwart hingeben zu können? Aber unser „lästiger“ Körper läßt uns nicht in
Frieden und verlangt, daß wir uns um die profanen Dinge kümmern, damit wir was
zu Essen haben, und darüber hinaus müssen wir die Grundlage für eine Kultur
schaffen, damit wir letzten Endes unseren geistigen Ansprüchen gerecht werden
können. Und eine wahrhaftige Kultur setzt einen wahrhaftigen wertebestimmenden
Geist voraus. In einem Schlummerzustand wird uns wohl die nötige Spannung für
die erforderliche Anstrengung fehlen, die ein schöpferisch-freier Geist von uns
verlangt, der einzig nach außen hin wahrhaft wirksam werden kann und muß. Erst
vom schöpferischen Geist her sind wir wahrhaft motiviert in der Welt wirksam zu
werden. Der Geist und die Freiheit können nur auf der Grundlage und in der
Auseinandersetzung mit der gefallenen Welt der materiellen und geistigen
Objekte verstanden werden und stellen dennoch eine höhere, völlig andere
Dimension dar. Und wiederum ist es der Gottmensch, der den Geist und die
gefallene Welt wahrhaft in sich vereint, woraus sich letzten Endes seine
Bestimmung zur Ganzheitlichkeit ergibt. Der Mensch ist wesentlich göttlich und
doch fest im Diesseits verankert. Er wird sich aus diesem Grunde mit einer
lügenhaften Welt nicht abfinden können - wie auch immer.
Auf Seite 407 spricht Wilber von
„der Einsicht, daß das reine Selbst, der transpersonale
Zeuge, ein allgegenwärtiges Bewußtsein ist“. „Man ist in einer einfachen,
anstrengungslosen, spontanen Weise Zeuge von allem Gegenwärtigen.“ „Aber was
ist dieser Zeuge selbst? Wer oder was ist es, daß alle diese Objekte gewahrt, das
die Wolken vorüberziehen sieht, die Gedanken, die Objekte? Wer oder was ist
dieser wahre Seher? Dieser reine Zeuge, der das Zentrum von allem ausmacht, was
ich bin?
Dieses schlichte Zeugen-Gewahrsein ist den Traditionen
zufolge der GEIST selbst, der erleuchtete GEIST, die Buddha-Natur selbst, Gott
selbst in seiner Gänze.
Den Traditionen zufolge ist es also nicht sonderlich
schwierig, Kontakt mit dem GEIST, mit Gott oder dem erleuchteten GEIST zu
erlangen. Dies ist einfach das eigene Zeugen-Gewahrsein in genau diesem
Augenblick. Wenn man dieses Buch sieht, hat man dieses Gewahrsein in seinem
ganzen Umfang in genau diesem Augenblick“ (S. 407).
Auf den Seiten 409 und 410 fährt er fort:
„Es spielt keine Rolle, welche Objekte oder Inhalte
gegenwärtig sind; alles, was zum Vorschein kommt, ist in Ordnung.“ „Wenn man
deshalb so im reinen Zeugen ruht, wird man nichts Besonderes sehen – alles, was
man sieht, ist in Ordnung. Was man aber spürt, wenn man im radikalen Subjekt
oder Zeugen ruht und aufhört, sich mit Objekten zu identifizieren, ist eine
Empfindung unermeßlicher Freiheit. Diese Freiheit ist nichts, was man sehen
könnte: Man ist diese Freiheit. Wenn man der Zeuge von Gedanken ist, ist man
nicht durch Gedanken gebunden. Wenn man der Zeuge von Gefühlen ist, ist man
nicht durch Gefühle gebunden. Statt des zusammengezogenen Ich ist da einfach
eine große Empfindung der Offenheit und Befreiung. Als Objekt ist man gebunden;
als der Zeuge ist man frei.
Man sieht diese Freiheit nicht; man ruht in ihr. Es ist
ein unermeßlicher Ozean unendlicher Leichtigkeit“ (S. 409/410).
Der „GEIST“ dieser Leichtigkeit ruft zu absoluter
Verantwortungslosigkeit auf. Alles, was Wilber uns als „... ‚hinweisende’
Instruktionen“ und „direkte ‚Wegweiser’ zur grundlegenden Natur des GEISTES“
(S. 406) zu sagen hat, läuft auf das Gleiche hinaus: Die von ihm vertretene
Freiheit entledigt sich der Liebe und der Wahrheit in der Tiefe des Menschen
und Gottes an sich. Eros und Agape werden zu leeren Worthülsen und verlieren
jede Bedeutung. Ken Wilber ruft dazu auf, der Last der Freiheit, die mit
Schmerz und dem Leiden auf das tiefste verbunden ist, keine Bedeutung und
überhaupt gar nichts irgendeine Bedeutung beizumessen außer dem leeren
Zeugen-Gewahrsein. Wenn dieser „GEIST“ etwas außerhalb des Leidens Stehendes
ist, so muß das Leid als etwas geistloses angesehen werden; und das hat mit dem
Leben nichts zu tun. Ein Leben ohne Leid wäre ein entsetzlich fades, ödes und
seichtes Leben. Ist es nicht sogar so, daß wir gerade im wahrhaftigen Leid und
Mitleid (Mitgefühl) eine Art tiefe Erleichterung erfahren, weil uns aus dieser
Erfahrung heraus der Sinn des Ganzen wieder sichtbar wird? Und ist es nicht so,
daß wir unter einer permanent gewollten und erzwungenen und letztlich rein
oberflächlichen „Heiterkeit“ (permanenter Optimismus) unermeßlich leiden, daß
uns diese Art „Heiterkeit“ unerträglich wird? Die Freiheit gibt sich bei Wilber
als ein „Paradies der Wonnen“ und als ein „unendliches Vergnügen“ (S. 417) zu
erkennen, aber dieses „unendliche Vergnügen“ ist nicht mit irgendeinem Gefühl
verbunden oder weiß der Teufel womit sonst. Ich persönlich weiß jedenfalls
nicht, was ich mit einem „unendlichen Vergnügen“ verbinden soll – auf jeden
Fall nicht Gott! Für mich ist die Leichtigkeit nur ein Teil der gottmenschlichen
Wahrheit, sie ist ein Moment in der Gottesempfindung; aber die Leichtigkeit als
etwas Absolutes ist vollkommen sinnlos und verkehrt sich ins Bösartige. Ken
Wilber behauptet den Monismus eines als „unendliches Vergnügen“
charakterisierten leeren Zeugen-Gewahrseins, was letzten Endes einer rein
eudämonistischen Sichtweise entspricht. Genauer betrachtet jedoch entpuppt sich
sein Monismus als ein Dualismus zwischen Leichtigkeit auf der einen und Schmerz
und Leid auf der anderen Seite, wonach Leichtigkeit sich nur in der
Gegenüberstellung zum Schmerz und Leid zu erkennen gibt. Dieser dualistische
Monismus verkennt die Möglichkeit einer ganzheitlich-gottmenschlichen
Liebeserfahrung, in der göttliches Leid und göttliche Freude in
mystisch-göttlicher Leidenschaft vereint werden. Die Schwere dieser Welt kann
in der Tat schöpferisch überwunden werden, sie geht dann aber nicht über in
eine Art unberührbarer Leichtigkeit, die endgültig die liebende Verantwortung
angesichts der Schwere von sich weist und jeglicher Anstrengung enträt.
Der „reine Zeuge“, der nach Wilber „das Zentrum von allem
ausmacht, was ich bin“, hat mit dem göttlich-existentiellen Zentrum des
Gottmenschen nicht das Geringste gemein. Und ich behaupte: Dieser „reine Zeuge“
an sich ist eine Illusion, es gibt ihn nicht. Bewegung ist nach Wilber eine
häßliche Eigenschaft der manifesten Welt und ist mit einem bewegungslosen
„reinen Zeugen“ nicht zu vereinbaren. Aber wie kann ein „reiner Zeuge“ z. B.
Wolken, die vorüberziehen, überhaupt „gewahren“? Der „reine Zeuge“ könnte dies
nur unter der Voraussetzung, daß er selber innerlich bewegt ist. An dieser
Stelle muß man natürlich deutlich zwischen einer begrenzt-diesseitigen Bewegung
und der unbegrenzt-jenseitigen, d. h. ewigen Bewegtheit unterscheiden. Der
„reine Zeuge“ müßte in sich im jenseitigen Sinne bewegt sein, um überhaupt
irgendeine Beziehung zu irgend etwas aufnehmen, um überhaupt irgend etwas
gewahren und nachvollziehen zu können. Und ein bewegter „reiner Zeuge“ wäre nur
möglich, wenn er fortlaufend aus seiner Beobachterposition heraustritt und
schöpferisch-aktiv am Prozeß an sich teilnimmt. Aber sobald dies geschieht,
werden wir in uns keinen „reinen Zeugen“ mehr wahrnehmen können. In der
Verfassung der wahrhaftigen Kontemplation sind wir weit von einem rein passiven
Zeugen-Gewahrsein entfernt, das im eigentlichen Sinne nur spekulativ angenommen
werden kann. In der wahrhaftigen Kontemplation befinden wir uns in der Ruhe
eines aktiven, dynamischen Geistes. Aber als Gottmenschen, d. h. als menschlich-irdische
und essentiell göttliche Wesen, sind wir zum schöpferisch-göttlichen Schaffen
berufen. Auch die göttliche Ruhe umfaßt einen Moment göttlicher Unruhe. Es ist
nicht alles in Ordnung, was zum Vorschein kommt. Wir sind dazu berufen, dem
göttlichen Ruf, unserem gottmenschlichen Gewissen zu folgen und die Welt von
der Sünde zu befreien. Unser gottmenschliches Gewissen muß sich
schöpferisch-schaffend in die sündige Welt ergießen, muß in ihr wirken, damit
wir letzten Endes zur göttlichen Kontemplation fähig sind. Denn:
„Allein, das Schaffen kennt Augenblicke der Kontemplation,
die als paradiesisch charakterisiert werden können, Momente, in denen die
Unruhe ganz aufhört, eine völlige Ruhe eintritt, in denen alle Schwierigkeiten
und Mühsale verschwinden und der Mensch an dem Göttlichen teilnimmt.“
(Berdjajew 16).
D. h., aus dem Schaffen heraus sind wir zur wahrhaftigen
Kontemplation fähig, die wiederum selber Schaffen und Aktivität des Geistes
ist; wobei ich (und letztlich auch Berdjajew), wie oben schon erwähnt, den
Augenblick von absoluter Ruhe im lebenden Menschen und überhaupt ausschließe.
Der anstrengungslose Geist wird schnell zu einem müden, spannungslosen Geist.
Anstrengend ist es auf der irdischen Welt. Diese Anstrengung ergibt sich aus
der irdischen Notwendigkeit. In der Freiheit an sich erhält die Anstrengung
eine geistig-übernatürliche Dimension und darf niemals mit der
begrenzt-notwendigen Anstrengung verwechselt werden. Es ist eine schöpferische
Anstrengung notwendig, damit wir der Gnade Gottes, der Wahrheit, teilhaftig
werden können. Das scheint ein Widerspruch zu sein, jedoch da die Wahrheit
nicht notwendig, sondern frei ist, müssen wir uns ihr nicht zuwenden. Wir
können auch ohne Wahrheit, und zwar in der Lüge bzw. Hölle leben und uns mit
einem begrenzten, auf das Notwendige dieser Welt reduzierten Leben begnügen,
wir können auf Gott partiell verzichten, und das geschieht in unserer modernen
Zeit ununterbrochen. Wir verzichten immer wieder gern auf die Wahrheit, da wir
uns davor fürchten, ihr das genormte Leben zum Opfer bringen zu müssen. Wir
fürchten uns vor dem Verzicht auf ein scheinbar vollkommen durchorganisiertes,
mechanistisch-kontrolliertes, auf ein unpersönliches, gottlos-höllisches Leben.
Wir fürchten uns vor allem vor unserer inneren Stimme des Gewissen, vor der
Stimme Gottes; wir fürchten uns vor der Freiheit, die nur schöpferisch zu
bewältigen ist. Wir vertrauen nicht unserem tiefsten Wesen. Wir fürchten uns
vor uns selbst! Aber alle Phänomene, die in die irdisch-notwendigen Welt hinein
geboren werden, werden einmal ein Ende haben. Und ich frage mich aus diesem
Grunde immer wieder, woran halten wir da eigentlich so verbissen fest?! Haben
wir das wirklich nötig? Und ich fordere hier nicht die Überwindung des
Notwendigen in unserem Leben, sondern ich frage: Sollten wir uns von dem
Prinzip der Notwendigkeit beherrschen und bestimmen lassen und uns ihm
ausschließlich unterwerfen? Letzteres wird an sich nie möglich sein. Es kann
für uns immer nur eine schöpferische Antwort auf den echten Dualismus von
Freiheit und Notwendigkeit geben. Und solange wir noch ein inneres Gewissen
spüren und wahrnehmen, solange wir dazu überhaupt noch in der Lage sind, haben
wir auch eine Chance, um unser Gewissen und unsere Freiheit zu kämpfen, was
nicht immer leicht und oft sehr tragisch ist. Es ist der Kampf um meine, um die
ganzheitliche Persönlichkeit überhaupt und dessen Behauptung gegenüber dem
Gesetz des Allgemeinen und Sozialen. Es ist aber nicht der egozentrische Kampf
des Individualisten für seinen Individualismus, der im Gegensatz zur
Persönlichkeit zu einer gottmenschlich-wahrhaftigen Integration des Sozialen
und Universellen nicht fähig ist. Der Kampf des Individualisten findet gerade
auf dem Boden des modernen Kapitalismus und seiner allgemein-liberalen und
subtil-machtvollen Forderung nach absoluter Funktionserfüllung und absolutem
Gehorsam statt. Der Kapitalismus und die entsprechend liberalen Prinzipien sind
es, die den Individualismus geradezu erzeugen und fördern. Von der Ebene dieses
Systems aus wird sich die Fülle der Wahrheit im ganzen, im eschatologisch-ethischen Sinne, niemals erheben können. Der
Individualist verneint Gott und erhebt sich zum egozentrischen Mittelpunkt, von
welchem aus er nur sich selbst anerkennen und andere für sich selbst nur gebrauchen kann. Er leidet sehr an seiner destruktiven,
unschöpferischen Einsamkeit bzw. Isolation, sofern er sich darüber nicht mit
einer unbändigen Sucht nach Macht und Reichtum hinwegzutrösten vermag, sofern
die Schmeicheleien seiner Bewunderer und Untertanen ihm nicht ausreichend
Genugtuung verschaffen. Und je mehr sich der Individualist gegenüber den Rest
der Welt durchzusetzen vermag, um so einsamer und verlassener wird er werden,
auch wenn ihm dies nicht zu Bewußtsein kommt, da sein Geist von einer Illusion
vermeintlich prallen Lebens äußerlicher Observanz umnebelt wird. Der
Individualist befindet sich im Teufelskreis egozentrischer Selbstbehauptung, im
Bannkreis diesseitig-funktionaler Logik.
In der Liebe offenbart sich die höchste ethische Verantwortung;
sie schließt die ganze Welt mit ein, obwohl sie immer konkret ist. Liebe ist
ganzheitlich-konkret-gebend. Liebe ist höchste Freude und tiefstes Leid
zugleich; in ihr ereignet sich göttliche Freiheit. Sie umschließt aus der
freiheitlichen Tiefe und aus Gott heraus die sündige Welt. Die Liebe erfordert
all unsere ganzheitlich-schöpferische Kraft, und wir geben diese Kraft
selbstlos hin. Die ethische Verantwortung der Liebe äußert sich darin, daß sie
sich ganz aus der Gnade Gottes, der Wahrheit, heraus dem Geliebten an sich
schöpferisch und dienend zuwendet, damit die Wahrheit konkret Wirklichkeit
werden kann. Liebe, Freiheit und Wahrheit ereignen sich, niemals getrennt
voneinander, in einem wahrhaftigen Schaffensprozeß und in der wahrhaftig-schöpferischen
Kontemplation. Erst aus der Liebe heraus erschaffen wir als Gottmenschen
Schönheit; nur als Gottmenschen erschaffen wir fortwährend das Wahre,
das Schöne, das jenseitig Gute an sich gemeinschaftlich in uns, das sich über
uns in unsere diesseits-irdische Welt ergießt und sich dort in einem wahrhaften
symbolischen Ausdruck widerspiegelt, der wiederum in der diesseitigen Welt
jedoch niemals endgültig und vollkommen sein kann. Ein Leben lang werden wir
Menschen uns niemals endgültig zurücklehnen können, weil das wahrhafte Leben,
das Leben überhaupt schöpferisch-dynamisch ist, so wie das wahrhaft
innermenschliche und Gottes Leben schöpferisch-dynamisch sind. In dieser Welt
gibt es sehr viel Häßlichkeit. Es ist ausschließlich die Häßlichkeit des gottlosen
Menschen und dessen gottlosen Schaffens – innen und außen. Erst durch seine
Tiefe, durch seine Gottmenschlichkeit, kann der Mensch die Häßlichkeit
überwinden. Die ganze Welt, einschließlich der Kosmos, erhält ihre Bedeutung
vom absoluten, göttlichen, vom transzendentalen Menschen, von der Wirkstätte
Gottes her. Und die Entstehung des Gottmenschen verklärt die ganze Welt zur
Schönheit, zu Gott hin. Und die Welt und der Mensch werden wahrhaft schön, wenn
dies aus der göttlichen Unermeßlichkeit heraus geschieht. Und so erst wird uns
in der konkreten Liebe zu einem Menschen seine ganze, wahre und göttlich
unendliche Schönheit offenbar.
Was passiert, wenn man im Zeugen-Gewahrsein verharrt? Ich
wundere mich nicht, wenn den Menschen „Niedergeschlagenheit befällt“ und –
sinngemäß wiedergegeben - Tränen ihre Wangen hinabrinnen (S. 408). Es gibt,
entgegen Wilbers Ansicht, einen Grund, traurig zu sein. Wir sollen der
wahrhaftigen Liebe entsagen. Wir sollen uns in Gleichmut üben. Welch eine Qual
für das Herz, welches nicht stillstehen kann, solange es schlägt! All die
Übungen, die sich das leere Zeugen-Gewahrsein zum Ziel setzen, sind von
bösartiger, höllischer Dimension. Sie haben den entpersönlichten Menschen zum
Ziel. Sie sollen den Menschen von seiner Wahrheit schaffenden, von seiner
schöpferischen Bestimmung abhalten. All die in diesem Sinne Übenden, die gegen
ihre schöpferischen Kräfte kompromißlos ankämpfen und/oder ihnen kein Ventil
öffnen wollen oder können, werden geradewegs die Hölle erleben. Und warum schrieb
denn Ken Wilber all seine Bücher – weil ihn eine Schöpferkraft drängte, die von
keiner Leerheits- bzw. Zeugen-Meditation endgültig aufgehalten werden konnte.
Denn wir wollen nicht Leerheit, sondern Fülle spüren. Leerheit spüren die
ausgesprochen egozentrischen Menschen, deren schöpferische Energien die
wahrhaftige Beziehung zur göttlichen Intuition, zum Göttlichen in ihnen selber
nicht herstellen können, deren einstmals schöpferische Energien vom Unbewußten
her nun destruktiv und sinnlos, sinnentleert, nahezu bösartig in Erscheinung
treten und diesen Menschen in den Wahnsinn treiben können. Aber zu letzterem
muß es nicht kommen, solange dieser Mensch noch die Möglichkeit hat, seine
wilden Energien z. B. an den kapitalistischen Konsum- und Technikwahn zu verschleudern
oder durch Machtspiele abzureagieren. Es findet täglich ein höllischer Krieg
unter und in den Menschen statt, der u. a. durch eine geld-, konsum- und
technikorientierte Lebensweise gezähmt wird, der aber auch immer wieder zu
einem unverhüllten, unbarmherzigen Krieg zwischen einzelnen Menschen und
zwischen ganzen Völkern ausarten kann. Die neonazistischen bzw.
rechtsextremistischen Umtriebe sind Beispiele dafür, was unsere derzeitige
Lebensweise in ihrer Konsequenz hervorbringt – die Neonazis sind in vielerlei
Hinsicht das konsequente Spiegelbild unserer Gesellschaft.
Ken Wilber geht zu weit in seiner Abgrenzung des Geistes.
Seine Abgrenzung ist so „radikal“, daß letztlich nur noch ein Nichts
übrigbleibt. Und er identifiziert dieses Nichts mit einem Zeugen-Gewahrsein,
und das ist absolut spekulativ. Geistige Realitäten werden bei ihm rational
umgedeutet und zu Objekten degradiert und besitzen keine elementare,
wesentliche Bedeutung mehr. Aus Ken Wilbers „GEIST“-Ansatz ist jedes wahrhaft
ethische Grundempfinden gewichen. Dieser „GEIST“ ist in seiner Konsequenz
erbarmungslos. Aber ausgehend von all seinen Büchern bezweifle ich, daß Ken
Wilber diese Erbarmungslosigkeit wirklich lebt.
Für Wilber ist es - von seinem Buch „Das Wahre, Schöne,
Gute“ ausgehend - völlig egal, was man letzten Endes in seinem Leben tut oder
läßt. Es ist egal, ob man, wie auf Seite 425 beschrieben, entsprechend seiner
„eigenen höchsten Potentiale“ besonders mitleidig oder besonders gut im
künstlerischen, sportlichen Bereich ist oder vielleicht ein „erzieherisches
Talent“ besitzt, oder ob man „vielleicht einfach der beste Blumengärtner in
seinem Viertel ist“, um nur einige Beispiele zu nennen. Es ist egal, solange du
„im schlichten, klaren, allgegenwärtigen Gewahrsein ruhst“ (S. 425). Von diesem
Standpunkt aus könnte ich mich auch als ein Sadist, als ein Mörder, ein
kriegsbesessener Mensch, als ein kompromißloser Manager oder Kapitalist, als
absoluter Individualist rechtfertigen. Am reinen Zeugen ziehen all diese
Erscheinungen völlig gleichgültig vorüber. Eine wahrhaft ethische Wertung und
Wirkung gibt es nicht. Daraus ergibt sich für mich nun eindeutig, daß die
Behauptung des Zeugen-Gewahrseins als höchster Zustand völlig haltlos ist.
In seiner Argumentation ist Ken Wilber nicht eindeutig. Er
verwendet Begriffe und tätigt Aussagen, die im Zusammenhang mit einem „GEIST“
als leerem Zeugen-Gewahrsein für mich unverständlich bleiben müssen:
„Vielmehr kann ich nur als Zeuge ruhen... Ich koste die
Unendlichkeit und bin in Fülle gebadet“ (S. 417/418).
Es ist das Wort „Fülle“, das mich hier irritiert, und
vielleicht soll es das auch. Dieses Wort wird einfach im Zusammenhang mit dem
leeren Zeugen-Gewahrsein verwendet. Doch diese willkürliche Gleichsetzung von
Fülle und Leere, Leere hier als Urzustand des Geistes an sich, bleibt für mich
reine Spekulation, reines Wunschdenken und ist letztlich eine Verdrehung der
geistigen Realität. Allein, es gibt eine geist- bzw. gottlose Leere im
Menschen, aber diese ist ein Dilemma.
Zur Problematik der „Fülle“ und „Leere“ habe ich auch an
anderer Stelle ein paar Gedanken geäußert, die ich an dieser Stelle
auszugsweise wiedergeben möchte:
„Ich glaube nicht an eine
‚radikale Leere’ (Wilber), die sich als eine wahrnehmbare, existentielle
Realität an sich im Menschen offenbaren kann, man kann sich diese ‚radikale
Leere’ als wahrnehmbare Realität im Höchstfall einreden bzw. suggerieren. Für
mich muß die ‚Leere’ zur Fülle der Persönlichkeit erhoben werden, um Realität
werden zu können. Darüber hinaus ist mir der Begriff des ‚Nichts’ lieber, da er
für mich vom Inhalt her wertefreier ist. Der Begriff der ‚Leere’ hat für mich
einen stark wertenden Bezug (Mangel). Es ist möglich, sich leer zu fühlen, das
Nichts an sich kann man nicht fühlen. Im Begriff des ‚Nichts’ drückt sich für
mich weder Mangel noch Fülle aus, und das entspricht meiner Vorstellung vom
Nichts. Das Nichts ist danach reine Potentialität. Im Nichts selber findet kein
Schaffensprozeß statt und somit auch keinerlei Erfahrung bzw. Wahrnehmung.“
Weiterhin schrieb ich:
„Für mich ist auch das wahrhafte
meditative (kontemplative) Versunkensein ein geistig-schöpferisches Ereignis im
Menschen zur erlebten Fülle hin, in der sich die ‚Leere’, das Nichts konkret
ereignet und niemals umgekehrt. Das Nichts wird im Ereignis der
gottmenschlichen Fülle erfahrbar und nicht die Fülle im unergründlichen Nichts.
Fülle und Nichts sind eins und doch nicht eins. Genau diese Paradoxie läßt sich
rational nicht lösen. Gelöst wird dieses Problem geistig - durch die
fortwährende Realisierung der Persönlichkeit.“ - „Das Nichts ist absolute
Potentialität, aber nicht Fülle im realisierten Sinne. Und unrealisierte
‚Fülle’ (Nichts) ist für mich keine ‚Fülle’, die man erleben kann.“
Auf Seite 421 kommt Wilber zu folgender Aussage:
„Du wirst erkennen, daß das allgegenwärtige Gewahrsein,
das ganz in dir gegenwärtig ist, dasselbe Gewahrsein ist, das ausnahmslos in
allen fühlenden Wesen als eines und dasselbe vollständig gegenwärtig ist, als
ein Herz, eine Seele, ein Geist, der atmet und pocht und pulsiert in allen
fühlenden Wesen, und deine bloße Haltung pulsiert in allen fühlenden Wesen“.
An dieser Stelle wird nach meiner Interpretation der Zeuge
durch die Verben atmen, pochen und pulsieren charakterisiert. Diese Verben
drücken eine Bewegung aus und bleiben ebenfalls unverständlich in bezug auf ein
reines Zeugen-Gewahrsein, das nach Wilbers spekulativen Ansatz letzten Endes
nichts mit Bewegung zu tun hat.
Wie ich am Anfang meiner Auseinandersetzung schon
erwähnte, geht es Ken Wilber in seinem Buch „Das Wahre, Schöne, Gute“ vor allem
um eine integrale Sicht, die letzten Endes in einer „integralen Philosophie“
zusammengeführt werden soll. Dazu schreibt er auf den Seiten 435/436 folgendes:
„Der Kern der integralen Philosophie, wie ich sie
verstehe, ist also vor allen Dingen die mentale Tätigkeit, durch die die
verschiedenen Modi der Erkenntnis und des Seins koordiniert, aufgehellt und
begrifflich integriert werden, so daß die integrale Philosophie, auch wenn sie
selbst die höheren Modi nicht herbeiführt, diese doch anerkennt
und es der philosophia erlaubt, sich für die Praktiken und Modi der contemplatio
zu öffnen. Integrale Philosophie ist aufgrund ihres umfassenden Charakters auch
eine ausgeprägt kritische Theorie, und ihre Kritik richtet sich gegen alle
weniger umfassenden Ansätze in Philosophie, Psychologie, Religion,
Gesellschaftstheorie und Politik. Und schließlich ist sie auch eine theoria,
die auf allen Ebenen und in allen Quadranten untrennbar mit der praxis
verbunden ist“ (S. 435/436).
Wird nun Ken Wilber selber dem nach ihm definiertem
Anspruch einer „integralen Philosophie“ gerecht? In gewisser Weise, denke ich, ja.
Aber diese Philosophie leidet genau an dem gleichen Dilemma, wie auch die von
ihm in Kapitel 3 in dieser Hinsicht kritisierte Philosophie eines Aristoteles
oder eines Platons. Die „brennende Frage“ (S. 132) nach dem Verhältnis von der
„absolute(n) Einheit zu der Welt der relativen Vielheit“ kann auch er uns nicht
beantworten mit der Begründung, daß sich „ihre überaus bezwingende Antwort“
nicht in Worte fassen läßt,
„obwohl sie ein metaphysischer ‚Supertrick’ ist, der
garantiert alle Probleme löst, solange man nicht danach fragt“ (S. 136).
Ken Wilbers „integraler Philosophie“ werfe ich vor, daß in
ihr die Frage, die mich zuallererst interessiert, die Frage nach dem Menschen,
dem göttlichen Menschen, dem Gottmenschentum (siehe zum „Gottmenschentum“ u. a.
N. Berdjajews Buch: Die russische Idee. Grundprobleme des russischen Denkens im
19. Jahrhundert und zu Beginn des 20. Jahrhunderts.), der gottmenschlichen
Gemeinschaft und allem, was damit zusammenhängt, nicht gestellt wird. Die für
Wilber „brennende Frage“ nach dem Verhältnis von „absoluter Einheit“ und
„relativer Vielheit“ ist vom Grunde her falsch gestellt. Im Verhältnis zur
relativen Vielheit kann es niemals um eine alles negierende „absolute Einheit“,
sondern immer nur um eine ganzheitliche Einheit der paradoxalen Person gehen.
(Zur Problematik einer „absoluten Einheit“ siehe vor allem auch Teil 5.) Die
wirklich brennende Frage ist die Frage nach der Einheit der Person, die die
relative Vielheit in sich ganzheitlich umschließen kann. Die Frage nach der
ganzheitlichen Einheit der Person kann nur durch die Offenbarung des
Gottmenschen, der gottmenschlichen Persönlichkeit, beantwortet werden, wie
durch die Existenz Christus geschehen. Die Existenz des Gottmenschen ist die
lebendige Antwort! Wesentlicher ist somit das existenzdialektische und
dialogische Verhältnis von Mensch und Gott. Indem der Mensch die
göttlich-menschliche Persönlichkeit in sich realisiert, findet er als ein
Mikrokosmos und Mikrotheos, der als vollständig Ganzes alles in sich geistig zu
vereinen vermag, die einzig wahrhaftige Antwort. Der Mensch als
geistig-ganzheitliches bzw. personales Wesen ist niemals ein Teil der
kosmischen oder sozialen Welt, er ist selber ein unabhängiges Ganzes und kann
in sich die allumfassend göttlich-menschliche Fülle realisieren. Es ist wahr,
daß die Unmittelbarkeit gottmenschlicher Intuition oder wahrhaftiger
Kontemplation nicht durch Worte ersetzt werden kann, die an sich keine
existentielle Realität besitzen. Aber durch Worte kann man, symbolisch oder
mythologisch verwandt, die mystischen Ereignisse in uns in unsere Sprache
übertragen; unsere Sprache kann zur symbolischen Sprache unserer göttlichen
Eingebung und zu einer Art personalistisch-religiösen Philosophie schöpferisch
verdichtet werden. Und diese ist immer die einzigartige Philosophie einer
wahrhaft einzigartigen, unverwechselbaren Persönlichkeit. Erst diese
Philosophie ist wahrhaft sinnvoll und erfüllt eine unverzichtbare, göttlich
inspirierte, prophetische Aufgabe zu einem erfüllten Leben in Wahrheit hin, das
letzten Endes nur durch eine innere geistige Gemeinschaft von Persönlichkeiten
verwirklicht werden kann. Diese prophetische Philosophie steht immer im
eklatanten Widerspruch zum sozialen Zwang, zum Zwang des Allgemeingültigen
einer Welt, in der die realexistierende Persönlichkeit nur als ein Teil eines
allgemeingültigen „Ganzen“ bzw. Größeren (z. B. Staat, Nation und/oder
Wirtschaft) verstanden wird. Aber in Wirklichkeit kann sich das
Allgemeingültige konkret nur im individuellen Menschen gedanklich offenbaren
als eine soziale Funktion des Lebens; der Allgemeingültigkeit offenbart sich
umgekehrt gar nichts, da sie an sich kein zur existentiellen Wahrnehmung
fähiges Zentrum darstellt. Unsere göttliche Eingebung fließt in die Sprache
ein, letztere wird dadurch erst wahrhaft lebendig. Aber in diesem Vorgang liegt
auch eine große Gefahr: Die zunächst von der gottmenschlichen Eingebung
inspirierte Sprache kann ihren göttlichen, existentiellen Bezug verlieren und
verkehrt sich dann zu einem festgeschriebenen Dogma, zu einem allgemeingültigen
Gesetz, das die Grundlage weltlicher Machtausübung im weitesten Sinne bildet.
Eine Sprache ohne existentiellen Bezug ist unlebendig bzw. tot. Durch den
Gehorsam des Menschen gegenüber einem allgemeingültigen Phantom belügt er sich
selbst und verneint seine eigentliche personalistisch-konkrete Bestimmung, aus
der erst die wahrhaft sozialen Beziehungen zur gottmenschlichen Gemeinschaft
hin entstehen können. Das Problem liegt also nicht darin, daß die Ereignisse in
der Kontemplation in die weltliche Sprache symbolisch übertragen werden,
sondern daß wir dazu neigen, diese symbolische Sprache wörtlich zu nehmen und
sie götzendienerisch für die höchste Wahrheit an sich zu halten, eine Wahrheit,
die so mit dem Menschen und mit Gott nichts zu tun hat. In Wirklichkeit erhält
die Sprache erst von unserer göttlichmenschlichen Eingebung her ihre wahrhaft
einzigartige Form und kann so in ihrer Schönheit und ihrem Ausdruck erst von
uns Menschen umfassend verstanden und erfahren werden. Und erst im
Zusammenwirken von Gott und Mensch kann unter anderem die Sprache, und darüber
hinaus alles Weltliche, verklärt, d. h. vergeistigt werden. Gott und Mensch
bilden die absolute Bedingung der existentiellen Wahrheit; in ihrem
ganzheitlichen Zusammenwirken sind sie die Wahrheit, der Gottmensch. Der Sinn
überhaupt kann sich erst durch das göttlich-menschliche Zusammenwirken in
uns offenbaren. Der Sinn des Ganzen existiert schon vor dem Menschen;
der Sinn bringt den Menschen hervor. Der Sinn ist wesenhaft das Menschliche und
Göttliche zugleich. Aber der Sinn allein vollendet sich nicht in der unbewußten
Welt; er vollendet sich nur im bewußten Gottmenschen, der allein das
göttlichfreiheitliche Werk allumfassend schöpferisch und fortwährend (aber nicht
absolut, letztgültig) vollenden kann. Und dies geschieht mittelbar über eine
Philosophie, die nur solange Philosophie ist, solange sie
personalistisch-existentiell ist, die gleichermaßen aus der freiheitlichen und
göttlichen Tiefe eines Menschen entsteht, der in sich immer die wahre
Gemeinschaft, das Wir des wahren Ich und Du, trägt, eine Gemeinschaft, die
nicht von einem kalten, allgemeingültigen Es (wirksam als Norm bzw. Gesetz)
eines formal organisierten Gesellschaftsgefüges beherrscht wird. Erst diese „Philosophie
des freien Geistes“ (nach Nikolai Berdjajew) wirkt wahrhaft integrativ, weil
sie an die Freiheit und an das Göttliche im Menschen appelliert, weil sie auf
die Verwirklichung der göttlich-menschlichen Persönlichkeit gerichtet ist, weil
wir Menschen uns erst mit ihr zu einem erfüllten Leben in Wahrheit (in Gott)
hin befreien können. Das Ziel einer wahrhaften Philosophie kann letzten Endes
nur in der Orientierung auf die Verwirklichung des ganzheitlichen Menschen
liegen, welcher aus sich heraus zu einem wahren, göttlichen Leben auf Erden
strebt. Ich persönlich habe in Nikolai Berdjajews Werk genau diese Philosophie
wiedergefunden. In dieser Philosophie findet man tiefe Einsichten und Aussagen
zu den sogenannten letzten „Dingen“ an sich.
Wilbers Quadrantensystem hat nicht wirklich eine
realexistierende Dimension, es ist eben ein System, das durch eine vermeintlich
„integrale Philosophie“ formal zusammengehalten wird. Wilber selber behauptet
nichts anderes. Für mich ergibt sich daraus jedoch die Frage, woher die
Motivation eigentlich kommt, „die verschiedenen Modi der Erkenntnis und des
Seins“ (S. 435) in einer „integralen Philosophie“ darstellen zu wollen? Und,
vor allem, wer ist der Motivationsträger? Ist es in diesem Fall nicht Ken
Wilber selber? Die sogenannte „integrale Philosophie“ nach Wilber führt real
gesehen überhaupt keine Integration durch, sie führt nicht wirklich zum Ganzen
hin. Es findet nur eine einfache Darstellung rationaler Vermutungen statt, die
sich jedoch immer aus einem realexistierenden Hintergrund speisen müssen. Aber
dieser Hintergrund, das geistig-existentielle Zentrum des Menschen, die
Persönlichkeit selbst, findet als wahrhaft integrative Kraft keine
Berücksichtigung und wird auf diese Weise verkannt. Wilbers „integrale Philosophie“
befindet sich ohne das existentielle Zentrum des Menschen außerhalb irgendeines
wahrhaften Bezugs. Der Mensch wird in Wilbers „Philosophie“ zum Lakaien, zum
bloßen Medium eines völlig unerklärlichen „GEISTES“. Die Existenz der
„verschiedenen Modi der Erkenntnis und des Seins“ (S. 435) ist von diesem
„GEIST“ aus völlig belanglos und ebenfalls unerklärlich. Der Mensch wird zu
einem Epiphänomen; er kann aber in den großen „GEIST“ jederzeit, einfach so,
unmittelbar eintreten, wozu eine ganze Palette von sogenannten Injunktionen
bzw. meditativen Techniken zur Verfügung steht. Das Reich Gottes ist nach
Wilbers „integraler Philosophie“ transpersonal, d. h. für mich unmenschlich.
Wilber hat sich aus meiner Sicht in eine Mutmaßung verrannt, die sich von einem
„GEIST“ leeren Gewahrseins blenden ließ. Und dementsprechend fällt auch Wilbers
Theorie aus. Sein berechtigter Vorwurf gegenüber den Gnostikern, sie sähen die
Welt als bloße Erscheinung, als Täuschung und nur böse an (S. 135), trifft in
abgewandelter Form auch für ihn zu. In der Konsequenz seines Denkens und seiner
meditativen Praktiken ergibt sich das Bild eines „GEISTES“, der die Welt zwar
zuläßt, aber im Grunde zu überhaupt keiner sinnvollen Beziehung
zu ihr in der Lage ist. Worin die Ursache der Existenz der Welt und damit
verbunden des Lebens besteht, bleibt ein Rätsel. Die Welt wird als gegeben
hingenommen, aber nicht als von Gott (zunächst als Logos-Sinn, als in Freiheit
wirkender Sinn) geschaffen angesehen. (Zum Verhältnis von Logos-Sinn und Logos-Gott
siehe Teil 7.) D. h., die Welt wird so gesehen zu einer in jederlei Hinsicht
endlos statischen Anwesenheit degradiert. Schönheit in der Welt wird zu einem
Ding der Unmöglichkeit. Schönheit wird herbeigeredet, aber nicht verwirklicht.
Wenn ich versuche, Wilbers „integralen Ansatz“ konsequent zu Ende zu denken
(was mir schwer fällt, da Wilbers Argumentation unvereinbar widersprüchlich
ist), ergeben sich für mich zumindest zwei Erklärungsmöglichkeiten: Entweder
hat diese Welt keine Ursache (Gott als ewig in Freiheit wirkender Logos-Sinn
oder Logos-Gott, aber nicht als kausale oder absolute Ursache, die es an sich
nicht gibt!) und ist in jederlei Hinsicht eine unerklärliche Angelegenheit und
aus diesem Zusammenhang heraus zumindest als entwickeltes manifestes Phänomen
eine optische Täuschung, oder diese Welt ist bereits vollkommener „GEIST“ und
somit die Ursache selber:
„Aus diesem Blickwinkel ist keine Erscheinung dem GEIST
näher als irgendeine andere, denn alles ist gleichermaßen ‚aus GEIST gemacht’“
(S. 83).
Aber wenn alles schon gleichermaßen nahe am „GEIST“ ist,
kann das Problem des Bösen nicht wahrhaft erklärt werden. Das Böse in dieser
Welt wird von Wilber nicht wirklich ernst genommen. Ich persönlich kann letzten
Endes aus Wilbers „philosophischem Ansatz“ für das Wirken zu einem
ganzheitlichen, wahrhaftigen Leben hin überhaupt keine Schlußfolgerungen
ziehen. Aber mir kommt es gerade darauf an.
Das Thema „Die drei Augen der Erkenntnis“ nimmt in Wilbers
Denken eine zentrale Stellung ein. Danach gibt es grundsätzlich drei Modi der
Erkenntnis: eine sinnliche (das Auge des Fleisches, Empirismus), eine
intellektuelle (das Auge des Intellekts, Rationalismus) und eine kontemplative
(das Auge der Kontemplation, Mystik) (S. 136/137). In der
„integralen Philosophie... [sollen nun] vor allen
Dingen... [durch] die mentale Tätigkeit... die verschiedenen Modi der
Erkenntnis und des Seins koordiniert, aufgehellt und begrifflich integriert
werden“ (S. 435).
Da sich die Frage nach der Überwindung der Dualität jedoch
nur durch eine Erleuchtungserfahrung, durch „Satori“ beantworten (S. 146), d.
h. durch ein Ereignis, daß sich nach Wilber nicht in Worte fassen läßt, steht
die „integrale Philosophie“ an diesem Punkt vor einem großen Problem. Wie soll
sie etwas integrieren, wenn gar keine adäquaten Worte bzw. Begriffe zur
Verfügung stehen können? An dieser Stelle hat sich Ken Wilber in eklatante
Widersprüche verwickelt. Er selber macht in diesem Buch (Das Wahre, Schöne,
Gute) fortlaufend Aussagen zum „GEIST“ an sich. Und dennoch meint er, das Worte
immer nur rationale Aussagen treffen können. Worte gehören ausschließlich dem
„Auge des Intellekts“ an, und selbst die sinnliche Welt könnte demzufolge nicht
in Worte gefaßt werden. Auch die sinnliche Welt läßt sich danach wahrhaftig nur
empirisch erfahren, was korrekt ist, aber konsequenterweise sind alle Worte,
die man über die sinnliche Welt äußert, eigentlich unangebracht und gehen an
der empirischen Wahrheit vorbei. Das heißt also, diese Art „integrale
Philosophie“ kann gar nichts zur Integration der verschiedenen Erkenntnismodi,
deren Existenz ich nicht anzweifle, beitragen. Die Trennung der Erkenntnismodi
bleibt so lange bestehen, solange das einzig mögliche integrative Zentrum fehlt
– die existentielle, göttlich-menschliche Persönlichkeit. In ihr können die
verschiedenen Erkenntnismodi zusammengeführt werden. Und sie werden fortlaufend
zusammengeführt, da wir ansonsten absolut lebensunfähig wären! Wortsymbole,
Wortbegriffe für sich genommen haben keine Tiefe. Aber sobald wir Menschen die
Worte im Erkenntnisprozeß sinnvoll gebrauchen und in einen sinnvollen
Zusammenhang stellen, verleihen wir ihnen einen Gehalt und eine Bedeutung, die
weit über ihren rationalen Charakter hinausreichen und, wie oben schon
angedeutet, zur symbolischen Sprache Gottes im Verhältnis zu unserer diesseits
begrenzten Welt werden können. Die Bedeutung der Sprache für uns Menschen
besteht letzten Endes darin, daß mit ihr u. a. eine Philosophie
entsteht, mit deren Hilfe wiederum der Mensch vor allem die Persönlichkeit
realisieren und damit verbunden das Reich Gottes auf Erden verwirklichen kann.
Auf Seite 144 macht Ken Wilber den Rationalisten und Empirikern folgenden
Vorwurf:
„Sie möchten, daß wir unsere aus der Kontemplation
gewonnenen Schlußfolgerungen aussprechen und diese an ihren Injunktionen prüfen
lassen. Sie möchten unsere Aussagen von den spezifischen Injunktionen trennen“
(S. 144).
(Auf das Problem der Injunktion und damit verbunden des
Beweises komme ich gleich noch zu sprechen.) Ganz abgesehen davon, daß hier Ken
Wilber auch zugibt, Aussagen über die kontemplativen Erfahrungen machen zu
können, muß auch er sich den Vorwurf gefallen lassen, daß er im Endeffekt eine
vollständige Trennung zwischen den verschiedenen Erkenntnismodi vollzieht, um
gleichzeitig seinen Favoriten, den kontemplativen Erkenntnismodus und dessen
Referenten, die „Transzendelia“ (S. 137), letztendlich doch an die absolute
Spitze der drei Erkenntnismodi stellen zu können – der „GEIST“ schwebt über
allem. Das wiederum widerspricht Wilbers Feststellung, daß der „GEIST“
„gleichermaßen und vollständig in allen manifesten Dingen und Ereignissen“ (S.
83) vorhanden ist, daß der „GEIST“ in pantheistischer Hinsicht einfach alles
ist und somit die Einheit und Paradoxie von Immanenz und Transzendenz
verschwinden läßt. Doch ausgehend von einem pantheistischen „GEIST“ kann man
keine Aussagen zum schöpferischen Augenblick, zum Entstehen von etwas Neuem in
der Welt machen. Das der Geist nicht einfach nur ein anonymes, „leeres
Zeugen-Gewahrsein“ ist, wird spätestens mit dem Erscheinen der Persönlichkeit
klar. Ob es Wilber gefällt oder nicht, sein „GEIST“ ist absolut und letzten
Endes absolut gleichmacherisch. Satori kann nur eine passive Wahrnehmung dieses
„GEISTES“ sein, was real gesehen jedoch nicht möglich ist. Das schöpferische
Element, durch die Freiheit des Menschen erst wahrhaft möglich, wird absolut
negiert. Solange es den Menschen nicht gab, mußte die Schöpfung durch Gott (als
in Freiheit wirkender Sinn), durch Gott allein unvollständig bleiben! Das liegt
in der Natur Gottes, der auf jeden Fall absolut dynamisch ist und erst im
Menschen als Mikrokosmos und Mikrotheos die qualitativ höchste Vollendung im
ganzheitlichen, im personalistischen Sinne erfährt. Diese Vollendung ist nicht
das Ende, sondern der Anfang des göttlichen Lebens im Menschen, der
göttlich-menschlichen Persönlichkeit, die sich nur über die geistige
Gemeinschaft realisieren kann, was zu guter Letzt im höchsten Grade durch die
innere Gemeinschaft mit Gott geschieht. Durch seine Freiheit kann der Mensch
dem Göttlichen in sich, Gott etwas hinzufügen, etwas Neues, was zuvor noch
nicht dagewesen ist. Wilbers „GEIST“ schließt diese Möglichkeit vollkommen aus!
In Wahrheit wird Gott durch den Menschen schöpferisch bereichert und umgekehrt.
Mensch und Gott vollenden sich ganzheitlich in der Liebe
zueinander.
Die innere Gemeinschaft mit Gott ist zugleich die innere
Gemeinschaft mit den Menschen. Denn Gott ist das wesentlich menschliche Prinzip
im Menschen. Auf diese Weise überwinden der Mensch, aber auch Gott wahrhaft
ihre Einsamkeit in der Welt. Die Wechselbeziehung zwischen Mensch und Gott ist
zugleich die wahrhaftige Wechselbeziehung zwischen den Menschen an sich. D. h.,
in der inneren Gemeinschaft mit Gott verwirkliche ich die innere Gemeinschaft
mit den Menschen. Diese innere Gemeinschaft schließt immer die soziale Seite
des menschlichen Lebens ein. Ohne diese soziale Seite ist die Realisierung der
Persönlichkeit und damit verbunden die Gemeinschaft nicht möglich. Der Mensch
kann sich nur über seine gemeinschaftlich-sozialen Beziehungen erkennen. Er muß
aus seinem Ich heraustreten. Der Mensch erkennt sein wahres Ich im Umgang mit
dem anderen Menschen, indem er sich in dessen Du intuitiv einfühlt (das
zugleich das Du Gottes umfaßt) indem er zu diesem Du transzendiert, ohne dabei
sein Ich zu verlieren. Der wesentliche Punkt, auf den es mir in diesem
Zusammenhang ankommt, ist der, daß sich uns Gott zunächst nur in der wahren
Beziehung zu einem anderen Menschen offenbart, und daß sich erst darauf bezogen
für uns Menschen der unmittelbare Zugang zu Gott und darüber hinaus zu allen
göttlichen Wesen in dieser Welt erschließen kann. Die Offenbarung Gottes im
Menschen hat somit das Vorhandensein der menschlichen Gesellschaft zur
Voraussetzung. Die Gesellschaft wird aber erst im Gottmenschen, durch das
Entstehen des Gottmenschentums vergemeinschaftet, oder anders ausgedrückt,
vergeistigt. Die Gesellschaft als solche jedoch ist eine aus Individuen
bestehende rein soziale Ordnung und niemals ein vollständiges Ganzes in
Analogie zum Menschen. Die Gesellschaft ist kein Mikrokosmos. Sie ist die
äußerlich soziale Seite des menschlichen Lebens, die erst aus dem Inneren des
Menschen heraus ihre gemeinschaftliche Verwirklichung erfährt. Die Gesellschaft
ist ein Teil der menschlichen Persönlichkeit und niemals umgekehrt! Und der
Grad der Realisierung der Persönlichkeit in einer Gesellschaft bestimmt den
Grad der Verwirklichung dieser Gesellschaft zu einer inner- und äußerlich
wahrhaft göttlichen Gemeinschaft hin.
In einem einzelnen Menschen realisiert sich unmittelbar
die göttliche Freiheit, die gottmenschliche Tiefe an sich, wenn sich ihm in der
Beziehung zu einem anderen Menschen dessen tiefes Du offenbart. Die Freiheit
und Gott haben im Menschen zueinander gefunden und erreichen in ihm ihre
höchste qualitative Zwei-Einheit. Und von diesem Augenblick an nimmt der
einzelne Mensch an der Wahrheit teil – er wird selber zur konkreten,
einzigartigen gottmenschlichen Wahrheit! Aber da die Wahrheit aus ihrem
freiheitlichen und göttlichen Grund heraus absolut dynamisch ist, ist sie dem
Menschen nicht ein für alle Mal gegeben - der Mensch muß fortlaufend um die
Wahrheit kämpfen in dieser Welt, die uns immer wieder vor das Problem der Lüge
stellt; denn der diesseitigen Welt ist ein statischer Zug, ein Streben zum
Nichtsein eigen. Und auch zur Höhe der kontemplativen „Ruhe“ gelangen wir nur
über diesen Kampf. Schaffen und Kontemplation sind nicht voneinander zu
trennen. Das Wesentliche ist aber, daß sich schon der einzelne Mensch zur
Wahrheit erheben kann, daß er durch die Prüfung der Freiheit in dieser Welt,
unter der Voraussetzung des Seins überhaupt, in der Beziehung zu den Menschen
in erster Linie, darüber hinaus in der Beziehung zu den Tieren, Pflanzen, in
der Gestaltung unserer Welt (Wissenschaft und Technik, Kultur usw. überhaupt
eingeschlossen), die Wahrheit frei erkennen kann und das
unabhängig davon, ob andere Menschen diese Wahrheit formal bestätigen oder
nicht. Die Lüge dieser Welt kann demzufolge auch von einem einzigen Menschen
erkannt werden, dem sich die echte, originäre Wahrheit, das ursprüngliche
Gewissen wahrhaft zu offenbaren vermochte. Aus dem echten Gewissen heraus
handeln heißt prophetisch handeln, was von dem an die Lüge gewöhnten Menschen
immer verachtet und sogar gehaßt wird. Auch wenn die Menschen den Propheten
hassen, der wahrhaftige Prophet tut alles aus der Liebe zum Menschen und zu
Gott an sich, damit der Gottmensch Wirklichkeit wird, damit die Menschen ihre
wahrhaftige Bestimmung finden können.
Das Problem der Erkenntnis stellt sich für Ken Wilber
folgendermaßen dar:
„In Die drei Augen der Erkenntnis sage ich,
daß alle gültige Erkenntnis auf jeder Ebene und in jedem Quadranten die drei
folgenden Stränge umfaßt: 1. Instrumentelle Injunktion. Diese hat
immer die Form: ‚Wenn du dies wissen willst, tue dies.’ 2. Intuitive Apprehension.
Dies ist die unmittelbare Erfahrung des von der Injunktion enthüllten Bereichs,
das heißt die direkte Erfahrung oder Daten-Wahrnehmung (selbst wenn die Daten
vermittelt sind, werden sie im Augenblick der Erfahrung unmittelbar
wahrgenommen). Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich dabei um eine
Sinneserfahrung, eine mentale oder eine spirituelle Erfahrung handelt. 3. Gemeinschaftliche
Bestätigung (oder Widerlegung). Dies ist die Überprüfung der Ergebnisse
– der Daten, der Befunde – durch andere Menschen, die die Stufe der Injunktion
und der Wahrnehmung in angemessener Weise durchgeführt haben“ (S. 137/138).
Die Wahrheit dieses Ansatzes kann ich dahingehend
bestätigen, daß die sogenannte „Instrumentelle Injunktion“ bereits durch das
Leben, in der Welt fortlaufend frei vollzogen wird. Der Mensch
steht in Wechselbeziehung zu einer materiellen und geistigen Umwelt. Wir können
uns in keiner Weise isolieren und müssen reagieren auf die Welt und diese
bewerten, damit wir in ihr leben können. Daraus ergibt sich, daß wir Menschen
immer unmittelbare Sinneserfahrungen machen, daß wir immer mental in
irgendeiner Weise aktiv sind und daß sich zugleich immer spirituelle
(unmittelbar intuitiv-ethische) Grunderfahrungen in uns ereignen. Aber die
sogenannten spirituellen Erfahrungen werden nicht durch die äußere
Umwelt determiniert; aus diesem Grunde zweifle ich die Notwendigkeit einer von
außen zu erfolgenden „Gemeinschaftlichen Bestätigung (oder
Widerlegung)“ dieser Erfahrung an. Gemeinschaft kann wahrhaftig nur innerlich
vollzogen werden, in der unmittelbaren existentiellen Wahrnehmung der
Persönlichkeit. Diese Wahrnehmung vollzieht sich zwar subjektiv, ist aber vom
Wesen her ganzheitlich-integrativ, d. h. fern aller Subjektabgeschlossenheit
und schließt das Du, den anderen Menschen, Gott gleichermaßen ein. Im Vollzug
der inneren Gemeinschaft, wodurch die äußere, soziale Seite dieser Gemeinschaft
geformt wird, findet die Persönlichkeit ihre Bestätigung.
Wilber dagegen bezieht sich in seiner Darstellung auf eine von außen
herangetragene Bestätigung, auf eine äußerlich vollzogene Bestätigung durch
andere Menschen. Wilber unterscheidet nicht deutlich zwischen einer
sozial-äußerlichen, d. h. objektivierten „Gemeinschaft“ und einer
subjektiv-innerlichen Gemeinschaft und ist aus diesem Grunde zu einer
differenzierten Betrachtungsweise nicht in der Lage. Wäre der Mensch
grundsätzlich und in erster Linie in seiner höchsten Erkenntnis von einer
äußerlich herangetragenen sogenannten „gemeinschaftlichen Bestätigung“
abhängig, so wäre der Mensch nur ein Teil, ein Sklave des von der äußeren
„Gemeinschaft“ geheiligten höheren Prinzips und im Verhältnis zu diesem absolut
unfrei. Alles wäre sinnlos! Die Existenz des einzelnen Menschen wäre sinnlos,
da er dem höchsten Prinzip nichts hinzuzufügen hat - etwas Neues und
entsprechend seiner einzigartigen Persönlichkeit noch nie Dagewesenes, was
keinerlei sekundären Bestätigung bedarf. Ich denke, daß die höchste Erkenntnis
eines Menschen von einer äußerlichen Bestätigung nicht abhängig ist. Sie ist
von dorther nicht wirklich möglich. Die höchste Erkenntnis ist eine Erhellung,
ist das Licht, das sich ins Dunkel dieser Welt ergießt. Und die Quelle dieses
Lichts befindet sich im Menschen selber. Die höchste Erkenntnis ereignet sich
als freiheitlich-göttlicher Akt im einzelnen Menschen - in der unmittelbaren
geistigen Gemeinschaft mit den anderen Menschen und mit Gott zugleich.
Die Gesellschaft ist die äußerlich-soziale Grundlage der Kultur. Sie ist eine
äußerlich-soziale Kategorie. Die Persönlichkeit steht in äußerlicher
Abhängigkeit zur Gesellschaft, ist jedoch von innen her die ursprünglichere, unabhängig
göttliche Kraft im Individuum. Im eigentlichen Sinne verlangt Wilber eine
allgemeine Bestätigung für eine Erkenntnis, die sich als etwas im Höchstmaß
Unkonkretes (leeres Zeugen-Gewahrsein) entpuppt; das Konkrete kann dagegen
niemals durch eine allgemein soziale Erkenntnis bestätigt werden. Nach Wilber
ist auch die Wahrheit letztlich absolut unkonkret. Es wird von ihm eine
Wahrheit behauptet, die für alle und alles eine absolute, unpersönliche
Gültigkeit besitzt. Die konkrete existentielle Wahrheit, die sich der
Persönlichkeit bewußt erschließen kann, findet in Wilbers Denken keine
Berücksichtigung. Diese Wahrheit ist immer ein konkretes, unwiederholbares und
vor allem ganzheitlich-primäres Ereignis in der Tiefe des einzelnen Menschen.
Es kann eine äußere Bestätigung der höchsten Erkenntnis erfolgen. Diese äußere
Bestätigung ist aber sekundär im Verhältnis zur höchsten existentiellen
Erkenntnis, die sich uns zugleich als Wahrheit offenbart. Das bedeutet, die
höchste Erkenntnis ist das Ereignis der primär-existentiellen Wahrheit im
Menschen. Die äußere Bestätigung dieses wahrhaftigen Erkenntnisprozesses durch
andere Menschen ist nicht notwendig; sie bleibt sogar sehr oft aus; eher wird das
auf die höchste Erkenntnis aufbauende Denken (z. B. in der Philosophie)
entweder ignoriert oder belächelt und, wenn das nicht hilft, erbittert
bekämpft. Denn die Wahrheit ist für den Menschen, der sich an dogmatische
Allgemeingültigkeiten und an die objektivierte Welt klammert, unverständlich
und gefährlich. Solch ein Mensch hat Angst vor tiefgreifenden Veränderungen
überhaupt. Und an dieser Stelle nun ist es wiederum äußerst wichtig zu betonen,
das es für dieses Problem wahrhaftig nur eine Lösung geben kann: Es ist die
Realisierung der gottmenschlichen Persönlichkeit, die durch ihr eigenes Moment
der Freiheit die schöpferische Verwirklichung der Wahrheit in dieser Welt erst
möglich macht! Erst im und durch den Gottmenschen ereignet sich die Wahrheit
konkret, die mittelbar über die entsprechend sekundären Erkenntnisformen in
dieser Welt ganzheitlich wirken kann. Existentielle Erkenntnis
kann ihren Ausdruck nur in einer existentiell-personalistischen bzw.
religiös-ethischen Philosophie finden, einer Philosophie, die weitestgehend
auch in den künstlerisch-schöpferischen Schaffensprozeß Eingang finden kann und
letzten Endes der Anstoß zu einem wahrhaft schöpferischen Leben ist. Eine
gemeinschaftliche Bestätigung kann nur innerlich vollzogen werden; es ist die
schöpferische Bestätigung der ganzheitlichen Persönlichkeit. Eine äußere
Gemeinschaft an sich gibt es nicht; sie ist nur von innen her möglich und hat
ohne die innere Gemeinschaft keine Realität. Eine äußere Gemeinschaft muß
gleichzeitig immer eine innere sein, ansonsten ist sie nur eine rein soziale
Kategorie, ein rein äußerlich organisiertes Gesellschaftsgebilde, das die
schöpferische Freiheit des Menschen schmerzhaft begrenzt, das den Menschen
vergewaltigt.
Ken Wilber betont, daß der Weg zu neuen Erkenntnissen die
sogenannte instrumentelle Injunktion voraussetzt.
„Diese hat immer die Form: ‚Wenn du dies wissen willst,
tue dies’“ (S. 138). „Daten sind nicht einfach fertig gegeben, so daß jeder sie
sehen kann, sondern sie entstehen durch gültige Injunktionen. Durch gültige
Injunktionen entstandene Erkenntnisse stellen in der Tat echtes Wissen dar,
weil Paradigmen Daten enthüllen und sie nicht einfach
erfinden. Die Gültigkeit dieser Daten wird dadurch nachgewiesen, daß schlechte
Daten verworfen werden können“ (S. 139/140).
Erkenntniserwerb setzt demnach eine Aktivität vom
Erkennendem voraus. D. h., der Erkennende muß zur Erkenntnis etwas beitragen. Dem
kann ich nur zustimmen. Aber daß sich dem Menschen einfach nur sogenannte
„Daten“ (ein für geistige Erfahrungen unangemessener Begriff, da er statisch
ist) enthüllen
sollen, daß diese nicht völlig neu sein können, vorher noch nie dagewesen, das
ist für mich eine vollkommen unakzeptable Feststellung, wie ich weiter oben
schon angedeutet habe. Demnach wäre die ganze Welt (die geistige
eingeschlossen) doch eine ein für alle Mal gegebene, d. h. statische Größe; der
Erkenntnisprozeß reduziert sich letzten Endes auf eine bloße Wahrnehmung von zu
enthüllenden Daten. Und die Gültigkeit der Erkenntnisse ist wiederum davon
abhängig, ob die entsprechenden „Daten“ „von der Gemeinschaft derjenigen, die
den Injunktions- und Erleuchtungsstrang abgeschlossen haben...“ (S. 146)
bestätigt oder verworfen werden. Die Freiheit des Menschen im Erkenntnisprozeß
wird so ausgeschlossen, er wird zum Mittel bzw. Medium einer scheinbaren
Gotteserkenntnis. Die Gleichheit der Menschen vor Gott vor allem hinsichtlich
ihres intuitiven bzw. schöpferischen Potentials wird in Frage gestellt. Die
„instrumentelle Injunktion“ nach Wilber hat mit einem schöpferischen
Schaffensprozeß nichts zu tun, das Leben und damit verbunden die wahrhafte
Erkenntnis dagegen schon! Die Gleichheit der Menschen vor Gott ist dahingehend
grundlegend, daß jeder Mensch seinen einzigartigen und unverwechselbaren Zugang
zu seinem gottmenschlichen Wesenskern erleben kann. Nur so ist der Mensch zu
einem selbstbestimmten, freien Denken und Handeln fähig. Der menschliche Wesenskern
ist in seiner Gültigkeit nicht von einer äußerlichen Bestätigung abhängig,
obwohl er immer eine soziale bzw. gemeinschaftliche Komponente ganzheitlich
umfaßt und ohne diese nicht existiert. In der Liebe rebellieren wir mehr oder
weniger offensichtlich gegen den allgemeinen Zwang eines wohlgeordneten Lebens
und sind auf eine äußerliche Zustimmung nicht angewiesen. Aber Gott wäre auch
nicht Gott, wären wir Menschen nur seine zur ausschließlichen Erkenntnis Gottes
strebenden Lakaien. Und die Gleichheit vor Gott, ich muß das immer wieder
betonen, setzt das Prinzip der Persönlichkeit als höchsten Wert voraus – das
Prinzip und vor allem die Einheit der göttlich-menschlichen Persönlichkeit.
Eine unpersönliche Philosophie ist keine Philosophie, weil sie den Menschen und
Gott gleichermaßen negiert, und eine unpersönliche spirituelle Erfahrung wird
es nie geben – man kann sich diese nur suggerieren. Um Mißverständnissen
vorzubeugen, sei an dieser Stelle noch hinzugefügt:
"Gleichheit bedeutet nur, daß Freiheit und Würde für
jede menschliche Person, für alle Menschen behauptet wird, und daß kein
einziger Mensch als Sache und Mittel behandelt werden darf. In der Gesellschaft
als Geist muß gerade eine metaphysische, charismatische Ungleichheit und ein
qualitativer Unterschied der Menschen zutage treten. In der Gesellschaft als
objektive Natur dagegen besteht eine ungeheure Ungleichheit, die Herrschaft der
einen und die Knechtschaft der anderen verbindet sich mit einer Nivellierung
der Person, mit der Unterordnung der Persönlichkeit unter das
Gattungsbewußtsein und mit der Herrschaft der Gesellschaft über den Menschen.
Der schrecklichen Versklavung des Menschen in der objektivierten Gesellschaft,
der vampirhaften Herrschaft der unmenschlichen und entmenschlichten hierarchischen
Prinzipien und Gattungsideen muß man Menschlichkeit, reine göttliche
Menschlichkeit, eine menschliche Rangordnung und charismatisches hierarchisches
Prinzip entgegensetzen. Innerhalb dieser Grenze bedeutet dies das Ersetzen
einer Gesetzesgesellschaft durch eine charismatische Gesellschaft, durch eine
Gesellschaft oder - genauer gesagt - eine Vereinigung von im Geist befreiten
Menschen. Der Knechtschaft des Menschen, welche die verschiedensten Formen
annimmt, steht nur der Personalismus gegenüber, der noumenale Grundlagen
hat" (Berdjajew 17).
Übrigens, wenn Ken Wilber auf Seite 148 feststellt, daß
man nach entsprechend durchgeführter Injunktion spirituelle Erfahrungen doch in
Worte fassen kann, so bringt das ein gewisses Eingeständnis zum Ausdruck und
eine Rechtfertigung der Niederschrift der eigenen Theorie – wir haben ein
großes Bedürfnis uns über unsere Tiefe (auch verbal) dem anderen Menschen
mitzuteilen, weil sich die existentielle Wahrheit des einzelnen Menschen immer
in der Gemeinschaft ereignet und mit letzterer in Wechselbeziehung steht. Die
Sprache an sich (die emotional-gefühlsmäßige und die körperliche gleichermaßen
eingeschlossen) spielt hierbei eine herausragende Rolle. Aber Wilber erkennt z.
B. Worte weitestgehend nur als beschreibende Sprache, nur als Abbild eben auch
sogenannter spiritueller Tatsachen an; die schöpferische Neugestaltung der
Sprache, der schöpferische Gebrauch der sich dabei verändernden Sprache durch
den Menschen, vor allem die Sprache als ein ganzheitlich-dynamisches Element in
der Erkenntnis wird von diesem Standpunkt aus verneint. Die Sprache besitzt
immer einen existentiellen Bezug, und das trifft selbst für vermeintlich rein
logische bzw. mathematische Sprachen zu. Erwähnen möchte ich in diesem
Zusammenhang auch, daß die Sprache einen langen Prozeß in sich aufgenommen hat,
den der Mensch über die Sprache bewußt und unbewußt verinnerlicht hat und
verinnerlicht. Auch über die Sprache nimmt der einzelne Mensch an der
Menschheitsgeschichte unmittelbar teil. Und ich meine hier vor allem nicht den
oberflächlichen, horizontalen, rein informell-sozialen Aspekt der Sprache,
sondern ihre vertikale Tiefenwirkung im Menschen durch ihren Gebrauch.
Ken Wilber schreibt:
„Sir Karl Popper betont die Bedeutung der Falsifizierbarkeit:
Echte Erkenntnis muß widerlegbar sein, da sie sonst bloß ein verkapptes Dogma
ist. Popper verweist also auf die Bedeutung des Strangs der Bestätigung/ Widerlegung bei aller gültigen Erkenntnis, und wie wir sehen werden, gilt
dieser Falsifizierbarkeitsgrundsatz auf allen Gebieten, von den Sensibilia über
die Inteligibilia zu den Transzendelia“ (S. 140).
„Echte Erkenntnis muß widerlegbar sein...“ – Ich weigere
mich, diese Behauptung für die höchste Erkenntnis, für die primär-existentielle
Wahrheit im Menschen anzuerkennen, die auch immer zugleich ganzheitlich ist.
Die gottmenschliche, existentielle Wahrheit ist nicht widerlegbar, weil sie die
Urrealität des lebendigen Mensch ist. Ich kann nicht widerlegen, was ich
unmittelbar selber bin – lebendige, wahrnehmbare Persönlichkeit. Ein Dogma ist
eine sekundäre objektivierte Erkenntnis, die jedoch immer aus einer
existentiell-schöpferischen Erkenntnis hervorgehen und symbolisch auf den
existentiellen Prozeß verweisen kann. Es gilt hier deshalb zwischen einem
autoritär festgelegten Dogma und einem symbolisch hinweisenden, antiautoritären
Dogma zu unterscheiden. In diesem Sinne ist die „Allmächtigkeit Gottes“ ein
autoritär festgelegtes Dogma der Herrschaft und die „Liebe Christus“ ein
symbolisch hinweisendes Dogma auf eine tiefere, herrschaftslose Wahrheit im
Menschen. Der Mensch kann die wahrhaftige, ganzheitliche Erkenntnis
existentiell erleben, aber nicht beweisen und deshalb auch nicht widerlegen
oder bestätigen entsprechend des Prinzips wissenschaftlicher
Falsifizierbarkeit. Widerlegen läßt sich nur festgelegte objektivierte
Erkenntnis. Im Menschen ereignet sich der Erkenntnisprozeß unabhängig davon, ob
dieser bestätigt oder widerlegt wird, widerlegt werden kann nur das
objektivierte Produkt dieses Erkenntnisprozesses. Wahrheit als höchste
Erkenntnis ist ein ganzheitlicher, liebender Akt des Geistes im Menschen
selbst. Im Zusammenhang mit dem Problem der Erkenntnis weiß N. Berdjajew in
seinem Buch „Das Ich und die Welt der Objekte, Versuch einer Philosophie der
Einsamkeit und Gemeinsamkeit“ folgendes zu sagen:
„Das erkennende Subjekt ist nach zwei verschiedenen
Richtungen hin aktiv. Es ist aktiv in der Objektivierung; die Objektivierung
ist vom Subjekt geschaffen. Dies ist eine der Orientierungen des Subjekts in
der sich im Dunkel befindenden Welt. In der gefallenen Welt orientiert sich das
Subjekt durch die Objektivierung. In ihr enthüllt sich nicht das Geheimnis des
Existierens, aber in ihr unterwirft sich das Subjekt die Welt. Die ganze
Technik ist in der Hauptsache ein Ergebnis dieser objektivierten Erkenntnis.
Gerade weil eine Objektivierung erfolgt, kann man nicht von einem passiven
Eindringen des Objekts in das Subjekt sprechen. Darum ist die Welt der
Objektivierung keine ‚objektive Welt’, wie es oft heisst. Damit soll jedoch
nicht gesagt sein, dass dies keine reale Welt sei; es ist die Welt einer
bestimmten Realitätsstufe und ein bestimmter Seinszustand. Das Erkennen
jeglichen Seins ist jedoch Aktivität des schöpferischen Subjekts, ist Zusammenwirken
des Erkennenden und des Zu-Erkennenden. Der andere Orientierungsweg des
Subjekts in der Welt ist der Weg der existentiellen Philosophie. Auf diesem
Wege erfolgt keine Objektivierung, hier erkennt der Mensch als Subjekt nicht
das Objekt, sondern das sich enthüllende Existieren des Menschen und durch den
Menschen das Existieren der Welt und Gottes. Dieser Weg der Erkenntnis ist
ebenfalls aktiv und schöpferisch, doch sind hier Aktivität und Schaffen anders
geartet. Gerade auf diesem Wege fällt Licht auch auf die objektivierte Welt.
Gerade auf diesem Wege enthüllt sich der Sinn, der Sinn des Existierens des
Menschen und der Welt durch das Existieren Gottes. Jede Aufdeckung des Sinns
ist aber eine Aktivität des Geistes, eine Aktivität der ganzheitlichen, nicht
der zerspalteten Vernunft. Die Erkenntnis des Existierens ist Zunahme des
Lichts und des Sinns im Existieren, ist Erhellung des Seins und folglich
Wiedergeburt des Seins und dessen Bereicherung durch noch nicht Gewesenes.
Der schöpferisch-aktive Charakter der Erkenntnis ist in den Wissenschaften vom Geist ein anderer als in den
Wissenschaften von der Natur. In den Naturwissenschaften äussert sich die
Aktivität der Erkenntnis in der Objektivierung und in der Unterordnung der
Erkenntnis unter die Mathematik. In den Geisteswissenschaften äussert sich die
Aktivität der Erkenntnis im Durchbruch zum Sinn des Existierens.
W. James sagt richtig, dass die Erkenntnis ein Akt und
kein Ergebnis ist. Erkenntnis ist Wirksamkeit des Geistes, der Geist aber ist
Akt. Der Geist ist sowohl dann aktiv, wenn er sich in der Kontemplation von der
Welt absetzt, als auch dann, wenn er die Welt umbildet. Das sind zwei Formen
der schöpferischen Aktivität des Geistes. Die Aktivität des Geistes setzt
voraus, dass dieser sich in der Schau festgelegt und in der Ewigkeit Wurzeln
gefasst hat. Doch auch die Schau selbst setzt eine schöpferische Aktivität des
Geistes voraus“ (Berdjajew 18).
Da Ken Wilber von einer sogenannten „echten Erkenntnis“
(S. 140) ausgeht, die widerlegbar sein muß, und diese Widerlegbarkeit auch auf
den Bereich kontemplativer Ereignisse ausweitet, findet man in seinem Buch „Das
Wahre, Gute, Schöne“ keine ernstzunehmenden Erwägungen über die Erkenntnis als
einen Akt, das kein Ergebnis ist. Wäre jede „echte Erkenntnis“ widerlegbar,
gäbe es für das Schöpferische, für das Schaffen von etwas Neuem keine Gründe.
Die Welt wäre ein ewig alter monolithischer Block, den man auf unerklärliche
Weise zur Kenntnis nehmen kann. Unmittelbare existentielle Erkenntnis bzw.
Erfahrung (auch die eines Tieres) kann man nicht widerlegen. Und auf keinen
Fall kann man von „unumstößlichen Fakten des spirituellen Welt-Raums“ (S. 142)
sprechen. Was sind Fakten? Gott ist kein Fakt, keine Tatsache, sondern ein
mystisch-geistiges Ereignis, durch das sich im Menschen die
göttlich-menschliche Persönlichkeit herausbilden kann. Die Persönlichkeit
selber ist ein Ereignis und zugleich die wahrhaftige Verbindung von Zeit und
Ewigkeit, von Veränderung und Unveränderlichkeit. Zum Paradoxon der
Persönlichkeit schreibt Nikolai Berdjajew:
„Die Persönlichkeit ist ewig, sie bleibt immer sie selber,
unwiederholbar; und sie verändert sich immer, wird gestaltet und braucht Zeit
zur Erlangung der Fülle des Existierens. Die Persönlichkeit muß immer den
Widerspruch überwinden. Die Persönlichkeit steht der Zeit als einem
todbringenden Faktor feindlich gegenüber, und die Realisierung der
Persönlichkeit gebiert die Zeit. Dies ist das grundlegende Paradoxon der
Persönlichkeit, der Verquickung von Veränderung und Unveränderlichkeit, von
Zeit und Überzeitlichem“ (Berdjajew 19).
Und durch die Herausbildung der Persönlichkeit findet der
Widerspruch zwischen Veränderung und Unveränderlichkeit, zwischen Zeit und
Überzeitlichem die wahrhaftig sich offenbarende, tiefgehendste Bestätigung
seiner Bedeutung und Berechtigung.
Nun schreibt Ken Wilber auf Seite 139:
„Der Vorzug des Empirismus ist seine Forderung, daß alle
echte Erkenntnis auf experimentell zu erbringenden Beweisen beruhen müsse, und
ich schließe mich dieser Forderung voll und ganz an. Nur: es gibt nicht nur
sinnliche Erfahrung, sondern auch geistige und spirituelle Erfahrung.“
Eine wahrhaft existentialistische Philosophie wird diesem
Gedanken, „daß alle echte Erkenntnis auf experimentell zu erbringenden Beweisen
beruhen müsse“, aber auch in keiner Weise zustimmen können. Es wird niemals
völlig identische sinnliche Erfahrungen geben. Jede subjektive Erfahrung
(objektive Erfahrungen gibt es nicht) wird immer individuell einzigartig sein,
und dieser Umstand schließt einen allgemeingültigen Beweis vollkommen aus.
Darüber hinaus beruht die Einzigartigkeit der Erfahrungen vor allem darauf, daß
diese immer ganzheitlich sind. Es gibt im Menschen keine ausschließlichen
sinnlichen oder geistigen oder spirituellen Erfahrungen. In einer menschlichen
Erfahrung vereinen sich immer alle diese Wahrnehmungsweisen ganzheitlich. Die
menschliche Erfahrung ist immer subjektiv-ganzheitlich. Beweise sind dagegen
objektivierte Festlegungen, verallgemeinernde Dogmen, kommunikative
Übereinkünfte, die uns Menschen eine Orientierung und ein gemeinsames Handeln
in der gefallenen (Berdjajew), äußerlich dunklen Welt der Dinge und Gesetze
ermöglicht. Grundlegend gibt es zwei Erkenntnisweisen. In seinem oben bereits
erwähnten Buch „Das Ich und die Welt der Objekte“ schreibt Nikolai Berdjajew:
„Das Grundproblem dieses Buches ist das Problem der
Beziehungen zwischen der Erkenntnis aus der Perspektive der objektivierten
Gesellschaft und der Erkenntnis aus der Perspektive der existentiellen
Gemeinschaft“ (Berdjajew 20).
Diese außerordentliche Herangehensweise ermöglicht erst
eine wahrhaft differenzierte und tiefergehende Auseinandersetzung zum Thema der
Erkenntnis überhaupt. Berdjajew fährt fort:
„Die wissenschaftliche Erkenntnis war bislang in erster
Linie das Werk einer Gruppe von Gelehrten, von
Akademikern. Aber die Ergebnisse der wissenschaftlichen Erkenntnis gewannen,
besonders in den sogenannten exakten physikalisch-mathematischen Wissenschaften
den Charakter einer universalen Verbindlichkeit, sie dienen der Kommunikation
zwischen allen Menschen, sogar zwischen solchen Menschen, zwischen denen
jegliche Gemeinschaft aufgehoben ist. Durch die wissenschaftliche, z. B.
mathematische und naturwissenschaftliche Erkenntnis ergibt sich zwischen den
Menschen eine universale Kommunikation, aber keine Gemeinschaft. Diese
Erkenntnis setzt nur die niedrigste Stufe der Gemeinsamkeit zwischen den
Menschen voraus. Menschen von ganz verschiedener Geistigkeit, verschiedenen
religiösen Glaubensvorstellungen, aus verschiedenen sozialen Klassen,
verschiedenen Nationalitäten und Kulturen können miteinander auf der Grundlage
der mathematischen und physikalischen Wahrheiten verkehren.
Die Wissenschaft mit ihrer Allgemeingültigkeit ist die
Erkenntnis einer objektivierten und sozialisierten Welt, in der die
Kommunikation auch bei Verlust der Gemeinschaft unter den Menschen erreicht
wird, sie setzt eine minimale Gemeinsamkeit zwischen den Menschen voraus.
Ergebnisse der Erkenntnis, die sich mitteilen lassen, bedeuten immer das
Erreichen irgend einer Gemeinsamkeit zwischen den Menschen, vor allem eine
Gemeinsamkeit in der Symbolik der Sprache.
Diese Stufe der Gemeinsamkeit kann aber auch bei Verlust der Gemeinschaft
unter den Menschen bestehen. Ein besonderes Problem der Soziologie der
Erkenntnis ist das Problem der Untersuchung der Erkenntnis aus zwei
Perspektiven - aus der Perspektive der Gesellschaft und aus der Perspektive der
persönlichen Gemeinschaft. Die Erkenntnis aus der Perspektive der Gesellschaft
kennt die universalste Allgemeingültigkeit, den weitesten Kreis menschlicher
Kommunikation, kennt aber nicht das innere Existieren und die Gemeinschaft. Die
Erkenntnis aus der Perspektive der Gemeinschaft kennt ein Teilhaben am Geheimnis
des Existierens, am Geist als ihrem Gipfel, sie besitzt jedoch keine universale
Allgemeingültigkeit und dient nicht wie jene als ein solches Mittel der
Kommunikation. Die Wahrheit der philosophischen Erkenntnis setzt schon eine
viel höhere Stufe geistiger Gemeinsamkeit voraus als die
physikalisch-mathematischen Wahrheiten. Die religiösen Wahrheiten aber setzen
die höchste Stufe geistiger Gemeinsamkeit voraus. Von aussen her stellen sich
diese Wahrheiten als durchaus ‚subjektiv’, als nicht beweisbar und nicht
überzeugend dar, sie scheinen nichts zur universalen Kommunikationsfähigkeit
der Menschen beizutragen. Dagegen sind im Innern der geistigen Gemeinsamkeit,
im Innern dessen, was man ‚Kirche’ nennt, die religiösen Wahrheiten die
universalsten, universaler als die mathematischen Wahrheiten. Sie setzen jedoch
den Glauben und die Einheit der Gläubigen voraus. In der Epoche einer maximalen
sozialen Objektivierung des Christentums, z. B. im Mittelalter, bildete sich
eine Gemeinsamkeit der christlichen Menschheit, für die die Wahrheiten des
Christentums absolut universal waren. Auf der anderen Seite waren die
wissenschaftlichen Wahrheiten damals noch nicht sozialisiert und wirkten in
keiner Weise überzeugend, ja sie riefen sogar Entrüstung hervor. In verschiedenen
Epochen ist das verschieden. In unserer Epoche erweisen sich die Ergebnisse der
wissenschaftlichen Erkenntnis als maximal objektiviert, und die mit ihnen
verbundene Kommunikationsfähigkeit der Menschen hat universalen Charakter. Die
Wahrheiten der religiösen Ordnung stellen sich als ‚subjektiv’ dar, wenn man
auch den willkürlichen Charakter dieser Terminologie im Auge behalten muss.
In der Möglichkeit der Kommunikation des einen
Bewusstseins mit dem anderen gibt es verschiedene Stufen der Gemeinsamkeit. Für
die gefallene Welt, die sich in dem Zustand des sündigen Verlustes der
Gemeinschaft befindet, bildet die soziale Objektivierung die Grundlage für die
universale Gemeinsamkeit. Das Gefallensein und der sündhafte Verlust der
Gemeinschaft liegen hier nicht in der Objektivierung der wissenschaftlichen
Erkenntnis, sondern im Seinszustand selbst. Denn die wissenschaftliche
Erkenntnis mit ihrer Objektivierung ist ein positiver Wert, sie ist analog dem
Erreichen einer Rechtsverbindlichkeit für die Welt der aufgehobenen
Gemeinschaft. Das, was wir Existenz-Philosophie nennen - die eine nicht
objektivierte Welt enthüllt - erlangt in der Erkenntnis keine universale
Allgemeingültigkeit. Das, was nicht mit der Objektivierung verbunden ist, kann
nicht ‚objektiv’ erscheinen, es erscheint ‚subjektiv’. Das ‚Subjektive’ ist
aber nicht unwahr oder falsch — im Gegenteil, es kann in höchstem Masse wahr
sein, es erscheint aber nicht als universal-allgemeingültig für die
Kommunikation zwischen den Menschen. Das, was geistige Gemeinsamkeit und
Gemeinschaft voraussetzt, kann ein schlechter Weg zur Kommunikation zwischen
den Menschen sein. Das ist eines der Grundparadoxa der Erkenntnis in der
gefallenen Welt. Mit Hilfe der objektivierten Erkenntnis, die keine
Gemeinsamkeit voraussetzt, mit Hilfe der Mathematik, und nicht der Erkenntnis
des Geistes und des menschlichen Existierens selbst werden erzwungene
Kommunikationen zwischen den Menschen hergestellt...“ (Berdjajew 21).
Das Problem der Erkenntnis muß immer aus zwei Perspektiven
betrachtet werden; sie kann sich als objektivierende und als subjektive
existentialistische Erkenntnis ereignen. Letztere ist schließlich einzig die
wahrhaft authentische. Erkenntnis an sich kann aber niemals etwas Losgelöstes
sein. Immer ist der Erkennende daran beteiligt, wie auch immer. Höchste
Erkenntnis ist letzten Endes liebende Gemeinschaft. Das ist die Schlußfolgerung
eines existentialistischen Denkens, wie es uns Nikolai Berdjajew vorführt. Ken
Wilber ist durch seine Beweisforderung gefesselt und kann aus diesem
Blickwinkel heraus nicht wirklich die liebende Persönlichkeit in einer durch
Liebe getragenen Gemeinschaft in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen rücken.
Wilbers Nichtdualität, sein Satori, sein leeres Zeugen-Gewahrsein führen zu
absoluter Einsamkeit, die es jedoch real gesehen niemals geben wird. Das
Geheimnis der menschlichen Existentialität wird durch diese Ausdrücke in keiner
Weise erfaßt. Der Glaube soll letzten Endes bei Wilber durch Beweise ersetzt
werden. Aber für das Geheimnis im Menschen werden diese nicht erbracht werden
können, weil dieses sich offenbarende Geheimnis die Urrealität der
gottmenschlichen Existenz ist. Der Glaube an die Tiefe, an das göttliche
Geheimnis im Menschen ist die Voraussetzung unserer Existenz überhaupt. Und
dieses Geheimnis wird immer ein Geheimnis bleiben insbesondere für unser
objektivierendes Denken. Aber im Inneren kann sich uns dieses Geheimnis in der
wahrhaft authentischen, personalen Liebe offenbaren als das Wertvollste an
sich. Der dritte Strang des sogenannten echten Wissenserwerbs, die
„Falsifizierbarkeit“ (S. 140), gilt ausschließlich für die objektivierende
Erkenntnis. Der dritte Strang besitzt einen praktischen, organisierenden Wert
und ist für unser Leben in der objektivierten Welt unverzichtbar. Und dennoch
hat selbst der wissenschaftliche Erkenntnisdrang, der sich durch Beweise zu
rechtfertigen sucht, einen irrationalen Beweggrund – die vorseiende,
unergründliche Freiheit (Berdjajew). Jeder echte Wissenschaftler schöpft
ursächlich aus diesem Beweggrund, um zu neuen Erkenntnissen kommen zu
können. Doch des Rätsels endgültige, zu beweisende Lösung wird in keiner Weise
je erbracht werden. Und gerade dieser Umstand macht das Leben so lebenswert, da
es offen ist für Veränderung, in der sich die Persönlichkeit realisiert. Das
Gefühl des Stillstandes ist dagegen eine Lüge, auch wenn sich dieses Gefühl
sehr real in einem Egozentriker, in einem vereinsamten Narzißten vollzieht.
Reines „objektives Denken“ (eine Verdrehung der Tatsachen) macht den Menschen
letztlich zum einsamen Sklaven der Dinge. Berdjajew sagt:
„Narzißmus ist Zerspaltung, weil das ‚Ich’ für sich selbst
zum Objekt wird, d. h. sich objektiviert. Das ‚Ich’ gehört für sich selbst zur
objektivierten Welt. Die Überwindung des Narzißmus besteht darin, daß das ‚Ich’
Widerspiegelung im anderen ‚Ich’, aber nicht in sich selbst sucht. Narzißmus
ist eine Erscheinung, die auch in der Sphäre der Erkenntnis existiert“
(Berdjajew 22).
Ken Wilber appelliert nun hinsichtlich meditativer
Praktiken an den Leser:
„Statt dessen muß der Schüler eine Injunktion befolgen, ein
Paradigma, ein Musterbeispiel, eine Praktik, die in diesem Fall Zazen (‚Sitzen
in Versunkenheit’) heißt. Und um eine sehr lange und komplexe Geschichte etwas
gewaltsam abzukürzen: Nach durchschnittlich fünf bis sechs Jahren einer
rigorosen paradigmatischen Schulung kann es geschehen, daß beim Schüler eine
Reihe tiefer Erleuchtungen auftritt. Und man muß es mir einfach abnehmen, daß
niemand eine solche Quälerei auf sich nehmen würde, wenn sein einziger Lohn ein
epileptischer Anfall oder eine schizophrene Halluzination wäre“ (S. 145).
Aber es gibt genug andere Gründe, weshalb sich Menschen
bestimmten Quälereien aussetzen. All die Selbstkasteiungen und asketischen
Selbstverneinungen ziehen sich durch die gesamte Geschichte der Menschheit -
oft zeugen sie von einem selbstzentrierten, aufgeblähten Ego, welches sich
allein zum Mittelpunkt der Welt erhebt, oder von einer Verirrung des Glaubens,
die die Welt der Sünde gewaltsam, dogmatisch von sich zu weisen versucht.
Heutzutage glaubt man vor allem immer noch an die ausschließliche Macht der
„Vernunft“ oder an all die technikorientierte Sicherheit unseres
diesseitsverhafteten Lebens. Dafür plagt man sich täglich über Stunden hinweg
mit nahezu sinnlos gewordener, entfremdeter Arbeit herum und leidet wegen der
innerlichen Einsamkeit, die damit verbunden ist. Zu meditativen Praktiken ist
man nicht nur selbstlos bereit, man kann damit auch Anerkennung erheischen und
sich bedeutend fühlen und auf diese Weise illusorisch die Einsamkeit
überwinden. Durch Meditation erhoffen sich viele Menschen den Erwerb von
Weisheit und, damit verbunden, den Erfolg im Alltäglichen oder eben die Lösung
all ihrer Probleme. Durch vermeintliche Meditation ergibt sich aber scheinbar
auch die Möglichkeit, vor der Wirklichkeit dieser Welt zu flüchten und somit
die Schmerzen zu umgehen, die in einer wahrhaft schöpferischen
Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit des Lebens immer mitenthalten sind. Auf
diese Weise wird meditative Kontemplation Mittel zum Zweck. Es geht nicht mehr
um die Wahrheit. Durch eine vordergründige Meditationsaufforderung wird
schließlich die Freiheit des Menschen negiert.
„Das Reich Gottes wird nicht nur durch Betrachtung
gewonnen.“
Nikolai
Berdjajew
Ken Wilber zufolge war „vom Beginn des menschlichen
Erkenntnisstrebens an“ (S. 32), das Erkenntnisstreben selber in einen inneren
Ansatz (subjektive Erfahrung, Bewußtsein, unmittelbares gelebtes Gewahrsein
usw. – S. 33) und einen äußeren Ansatz (die sogenannte objektive, äußere
Beschreibung der Welt; „empirisch-analytische“ Richtungen – S. 32) gespalten.
Ihm geht es nun darum, diese Ansätze durch eine „integrale Sichtweise“ „zu
integrieren“ (S. 37).
Zunächst einmal stellt Wilber fest, daß das „Ur-Datum“ die
„primäre Tatsache der unmittelbaren Erfahrung“ ist und den „sekundären
Ableitungen“ aus „naturalistischen und empirischen Ansätzen“ als ursprünglicher
vorausgehen (S. 33). Mit dieser Feststellung stimme ich voll und ganz überein.
Es kommt nun darauf an, ob diese Feststellung von Wilber überzeugend
dargestellt werden kann und ob er sie konsequent beibehält und zu Ende denkt.
Auch hier geht es mir vor allem darum, was eine unmittelbare Erfahrung ist, wie
sie sich zeigt und welche Bedeutung sie für unser Leben hat.
Wenn Ken Wilber das Thema „Unmittelbare Erfahrung“
zur Sprache bringt, denke ich unweigerlich an das existentielle Zentrum, an die
Persönlichkeit, an den inneren bzw. geistigen Menschen. Für Wilber zeigt sich
die unmittelbare Erfahrung zunächst als
„tatsächliche Erfahrung unseres inneren Bewußtseins...,
[als] ...eine Welt von Bildern und Vorstellungen, von Hunger und Schmerz, von
Gedanken und Wahrnehmungen, Wünschen und Begierden, Absichten und Abneigungen,
Hoffnungen und Ängsten. Und wir erkennen diese inneren Daten unmittelbar und
direkt: Sie sind uns einfach gegeben, sie sind einfach da, sie tauchen einfach
auf, und wir gewahren sie in dem Umfang, wie wir sie gewahren möchten... Meine
inneren Zustände sind dem Bewußtsein schlicht unmittelbar gegeben, sooft ich
mich ihnen zuwende“ (S. 30/ 31).
An dieser Stelle lautet die Frage nun: Ist das Bewußtsein
selber schon ein ursprüngliches, ewiges Phänomen, welches als „GEIST“ letzten
Endes absolutes Bewußtsein ist? (Wilber-Zitat einschließlich zum „Absoluten
Bewußtsein“ folgt gleich.) Oder ist Bewußtsein immer an die Person gebunden,
und ist somit die Existenz eines präpersonalen und transpersonalen Bewußtseins
ausgeschlossen? (Auf Seite 99 heißt es bei Wilber:
„Auf jeder Stufe dieses Prozesses der Rückkehr des GEISTES
zu sich selbst erinnern wir uns,..., daß wir einst bewußt [Hervorhebung
von mir] eins mit diesem Göttlichen selbst waren.“)
Wenn Wilber behauptet, daß für ein sogenanntes
transpersonales Bewußtsein die Person zunächst einmal verwirklicht worden sein
muß und daß das transpersonale Bewußtsein in der Folge die Person einschließt
und auf irgendeine Weise überwindend „transzendiert“, um schließlich zu sich
selbst zurückzukehren („Rückkehr des GEISTES zu sich selbst“ - S. 99), so
bleibt doch unverständlich, weshalb ein abstraktes, absolutes und
uncharakterisierbares Bewußtsein das Entstehen einer Person überhaupt zuläßt.
Für mich stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage: Was ist ursprünglicher –
das Bewußtsein oder die Person? Und hier schließt sich unmittelbar die
Gottesfrage an: Ist Gott geistige Person oder absolutes Bewußtsein? Stellt Gott
als geistige Person einen überpersönlichen Wert, einen geistigen Wert
(Gewissen, Liebe, göttliche Freiheit, Mitleid, Opferbereitschaft, Hingabe ohne
Selbstaufgabe, innere Gemeinschaft usw.) dar, der sich unserem persönlichen
Bewußtsein unmittelbar, intuitiv, existenzdialektisch-dialogisch offenbart,
oder ist Gott letzten Endes ein abstraktes, persönlichkeitsauflösendes,
absolutes Bewußtsein und bildet mit der Gottheit im „Urgrund“ (nach Wilber)
eine absolute Identität? Für mich ergibt sich aus meiner unmittelbaren
existentiellen Erfahrung, daß ein absolutes Bewußtsein als Gott zu einer
liebevollen, transzendierenden Hinwendung nicht in der Lage wäre
(transzendieren hier im Sinne von einem subjektiven „Hinübergehen“ des Ich zu
einem Du bzw. anderen). Es kann auf der wahrhaft geistigen Höhe immer nur ein
Gottesbewußtsein geben, eine existentielle Erfahrung des ganzen, des ewig neuen
Menschen als gottmenschliche Persönlichkeit. Person und Bewußtsein voneinander
zu trennen ist existentiell gesehen ein Ding der Unmöglichkeit. Ohne die
Einheit von Person und Bewußtsein gäbe es keine wahrhaftige Intuition, keine
Liebe, der Mensch an sich könnte nicht existieren. Die Entwicklung im Universum
wäre über die Stufe primitiver Lebensformen ohne Bewußtsein niemals
hinausgekommen. Ja, letzten Endes, wenn der physische Tod eintritt, wird sich
der individuell-einzigartige Mensch als geistiges Wesen in die
unergründliche Gottheit, in das Nichts hinein auflösen, in dem es weder Person
noch Bewußtsein gibt. Aber das hat nichts mehr mit einem göttlich-menschlichen
Leben, mit einem schöpferischen Dialog zwischen Gott und Mensch zu tun, ein
Dialog, der im nichtkausalen, ewigen Sinne ursprünglicher ist als das
Bewußtsein, aber letzteres ganzheitlich umfaßt und erweitert in der
Auseinandersetzung mit der Welt. Über das Bewußtsein realisiert sich die
Person. Durch die Person, die um die Welt leidet, wird das Bewußtsein spürbar
lebendig. (Dostojewski sieht im Leiden die einzige Ursache des Bewußtseins –
siehe auch N. Berdjajews Buch: Die Weltanschauung Dostojewskis.) Bewußtsein und
Person bilden eine untrennbare Einheit. Und was nach dem physischen Tod
geschieht wird ein ewiges Geheimnis bleiben, auch wenn wir noch so viel darüber
spekulieren. Im Leben geht es jedoch vor allem darum, nicht geistig zu sterben.
Der geistig-religiöse Tod ist des Menschen größtes Übel. Ich meine vor allem,
daß ein geistiger Tod einen gefallenen, erniedrigten bzw. pervertierten Geist
zur Folge hat. Es wäre falsch, den geistigen Tod in einer Absolutheit zu
denken, denn selbst der niedrigste Geist in einem Menschen ist noch lebendiger
Geist in seiner zerrissensten, verstümmelsten Form. Der Geist steckt auch in
der Materie, darin stimme ich mit Wilber überein, aber nicht als eine primitive
Form irgendeines Bewußtseins, sondern als eines bis zum äußersten Rand
objektivierten, nahezu erstarrten Zustandes des Geistes. In der Materie ist der
Geist in seiner erstarrtesten Form objektiviert bzw. verdinglicht. In der
Materie ist der Geist auf der primitivsten Realitätsstufe gefesselt und unlebendig,
d. h. er ist auch unbewußt. Materie ist nicht „GEIST“, das wäre
naturalistischer Pantheismus. Wahrhaftiger Geist offenbart sich erst durch das
innere Leben, welches immer nur bewußt persönlich sein kann. Komplizierter
stellt sich dies bezüglich der Mathematik dar: Sie ist zum einen die äußerste
Anpassung des menschlichen Geistes an die mechanistischen Gesetze der Natur.
Mathematischer Geist ist der unpersönlichste Geist, den der Mensch
hervorbringen kann. Zum anderen erhält die Mathematik durch den Menschen ein
schöpferisch-lebendiges und in sehr geringen Umfang persönliches Element,
welches er bei ihrer Erfindung und Anwendung und Weiterentwicklung hineinträgt.
Die Mathematik bildet in der Erkenntnis eine äußerst wichtige Grundlage für die
Meisterung und Verbesserung unseres praktischen Lebens. Die Mathematik als
Erkenntnisweise spielt jedoch in jederlei Hinsicht (vor allem in der
Philosophie) nur eine untergeordnete Rolle, da sie an sich keine religiösen
Fragen der Menschen berühren kann und immer von einem übergeordneten Geist bzw.
Wert abhängig ist. Gefährlich wird es, wenn man das mathematische Prinzip zum
übergeordneten Wert erhebt, um das Leben durch und durch berechenbar zu machen.
Gerade die sogenannte Moderne der westlichen Hemisphäre, die einen immer
größeren Kreis umschließt, wird von diesem äußerlich orientierten Geist
beherrscht, da die Menschen einem innerlich-religiösen Leben skeptisch oder gar
ablehnend gegenüberstehen und ihre Quellen allmählich verdorren und sie deshalb
nur noch ein berechenbares Leben verstehen bzw. verstehen wollen. An dieser
Entwicklung war vor allem und ist zum geringeren Teil heute noch die
Institution Kirche schuld, die eine innere, d. h. wahrhaft gemeinschaftliche
Kirche niemals dulden konnte und dulden kann, weil sie zum einen einem
rächenden Machtgott huldigte und zum anderen bis heute einem autoritären
Selbstverständnis verfallen ist. Der westliche Mensch hat die mittelalterliche
Vorstellung von Gott überwunden und sich einen neuen Ersatzgott geschaffen –
das Geld, welches in der heutigen Welt die zwischenmenschlichen Beziehungen und
das Leben überhaupt in destruktiver Weise beeinflußt und im starken Maße
bestimmt. Mittlerweile ist es so, daß der Geldgott verheerendere Konsequenzen
nach sich zieht als es der mittelalterliche Gott je vermochte (dritte Welt,
Elend und Hunger in nie gekanntem Ausmaß, maximale Verdinglichung des Menschen
u. u. u.). Zum Problem der Kirche will ich mich an dieser Stelle nicht weiter
auslassen, auch weil dies differenziert geschehen muß und ich im einzelnen
nicht den Überblick habe (siehe dazu vor allem Nikolai Berdjajew!!). Vielleicht
fällt gerade aus diesem Grunde (religiöse Armut, unpersönliche
Lebensverhältnisse) der zum Unpersönlichen tendierende Buddhismus im modernen
Westen auf fruchtbaren Boden. Der Buddhismus verlangt nicht wirklich eine
ethische Neuorientierung, er ruft vor allem zur destruktiven Gelassenheit auf,
auch wenn die Apologeten immer wieder an ein ethisches Wirken appellieren, aus
welchen Gründen auch immer. (Unter einem ethischen Wirken verstehe ich ein Wirken
von innen, aus unserer religiösen, gottmenschlichen, d. h. christlichen Tiefe
heraus. Dazu gehören ein ursprüngliches Gewissen, geistige Freiheit, Liebe
usw.) Ein ethisches Wirken ist im Buddhismus von seiner spekulativ-religiösen
Grundlage her nicht wirklich motiviert. Und buddhistisches Mitleid ist weit von
einem wahrhaft christlichen Mitleid entfernt – buddhistisches Mitleid negiert,
„nichtet“ (auch Heidegger) die Welt zu einem spekulativen Absoluten hin. Und
verhält sich ein Buddhist wahrhaft mitleidvoll seinen Mitmenschen gegenüber, so
ist sein Verhalten letzten Endes christlichen Ursprungs. Doch jetzt wieder
zurück zu Ken Wilber. In „Eros, Kosmos, Logos“ sagt er zum sogenannten
„Nichtdualen“:
„Das Formlose und die gesamte Welt der manifesten Form –
die reine Leerheit und der gesamte Kósmos – werden hier als nicht-zwei gesehen
und der Zeuge als alles Betrachtete: ‚Hier verschmelzen schließlich das
Betrachtete und der Betrachter, so daß nur noch Absolutes Bewußtsein herrscht.’
Aber dieses nichtduale Bewußtsein steht nicht in Opposition zur Welt, denn
‚Brahman ist die Welt’“ (Wilber 23).
Eine Philosophie, orientiert an einem nichtdualen Gewahren
bzw. absoluten Bewußtsein, ist reine Spekulation. Die Teilwahrheit dieser
Spekulation ist die, daß rational-intuitiv erkannt werden kann, daß in der
Abgeschiedenheit der Gottheit (Meister Eckhart), im Ungrund (Jakob Böhme) sich
alles in ein Nichts, in eine unergründliche Freiheit hinein
auflösen muß, daß es dort den Unterschied, die Beziehung und das „Zusammenwirken
des Erkennenden und des Zu-Erkennenden“ (Berdjajew: Das Ich und die Welt der
Objekte) nicht mehr gibt. Bewußtsein dagegen ist immer personal und
differenzierend. Im negativen Sinne ist es egozentrisches, narzißtisches
Bewußtsein, welches sich selbst zum Maßstab erhebt bzw. in den Mittelpunkt
stellt. Dagegen ist das von der gottmenschlichen Offenbarung fortwährend
gelichtete Bewußtsein ein Segen und vor allem eine Verpflichtung allem
gegenüber, die Verantwortung schlechthin – das Kreuz Christi! Nikolai Berdjajew
hat auf die Indifferenz und Unmenschlichkeit, d. h. Lieblosigkeit eines
Gottheitsmonismus hingewiesen:
„Die Mystik kann zwei Tendenzen haben: die Vergöttlichung
des Kosmos oder die Vernichtung des Kosmos, die Vergöttlichung
des Menschen oder die Vernichtung des Menschen. Diese entgegengesetzten
Tendenzen können sich überschneiden. Wenn Mensch und Kosmos in einem
Gottheitsmonismus vermengt und identifiziert werden, kann man ebensogut sagen:
sie werden vergöttlicht, als auch: sie werden vernichtet. Der Monismus leugnet
das Mysterium des Gottmenschentums, die Zwei-Einheit, die sich nur im
Christentum vollkommen enthüllt. Das Christentum vereint durch seinen
Personbegriff Monismus und Pluralismus, und nur eine Mystik der Liebe bringt
diese Einheit zum Ausdruck. Es kann keine Liebe ohne Person geben, die Liebe
geht von Person zu Person. Die personalistische Einstellung ist vor allem
ethisch, die kosmische vor allem ästhetisch“ (Berdjajew 24).
Was nun Ken Wilber als „tatsächliche Erfahrung unseres
inneren Bewußtseins“ (S. 30) benennt, wie Hunger und Schmerz, Gedanken und
Wahrnehmungen usw. (S. 31), sind offensichtlich nur Formen eines absoluten
Bewußtseins; denn es gibt, Wilber zufolge, noch andere Formen, die er in einem
erweiterten „Spektrum des Bewußtseins“ zusammenfaßt (siehe auch S. 76/77), in
welchem die innerlich-individuelle Seite des Bewußtseins nur einen von vier
Teilbereichen darstellt. In diesem Zusammenhang kommt Wilber auf Seite 42ff
noch einmal auf die vier Quadranten zu sprechen, denen er „Die vier Antlitze
der Wahrheit“ zuordnet. Danach bezeichnet er das subjektiv-individuelle Ich
als den Bereich der Wahrhaftigkeit, das intersubjektiv-kollektive Wir
als den Bereich der Gerechtigkeit, das individuell-objektive Es
als den Bereich der Wahrheit und das interobjektiv-kollektive Es
als den Bereich des funktionellen Passens. Wilber faßt diese vier
Teilwahrheiten darüber hinaus in eine Ich-, Wir- und Es-Sprache zusammen
und nennt diese wiederum die „Großen Drei“ (S. 51). Die „wichtigsten Elemente dieser
drei Hauptgebiete“ sind nach Wilber:
„Ich: Bewußtsein, Subjektivität, Selbst und
Selbstausdruck (u. a. Kunst und Ästhetik), Wahrhaftigkeit, Aufrichtigkeit.
Wir: Ethik und Moral, Weltsichten,
gemeinsamer Kontext, Kultur, intersubjektive Bedeutung, gegenseitiges
Verständnis, Angemessenheit, Gerechtigkeit.
Es: Wissenschaft und Technik,
objektive Natur, empirische Formen (u. a. Gehirn und Gesellschaftssysteme),
propositionale Wahrheit (Singular und funktionelles Passen)“ (S. 51).
Der entscheidende Punkt nach Wilber ist nun folgender:
„Aber weil sich keiner der Quadranten auf einen anderen
reduzieren läßt, können auch diese Sprachen [Ich, Wir, Es – siehe oben] nicht
auf eine der anderen reduziert werden. Jeder Quadrant ist außerordentlich
wichtig und bildet einen wesentlichen Bestandteil des Weltganzen“ (S. 51).
Und:
„Der integrale Ansatz ist einer alle Ebenen und alle
Quadranten umfassenden Vorgehensweise verpflichtet, die das ganze Spektrum des
Bewußtseins nicht nur im Ich-Bereich, sondern auch im Wir- und Es-Bereich
abdeckt und dadurch Kunst mit Moral und Wissenschaft, Selbst mit Ethik und
Umwelt, Bewußtsein mit Kultur und Natur, Buddha mit Sangha und Dharma und das
Wahre mit dem Schönen und dem Guten integriert“ (S. 73).
Obwohl nun Wilber, wie oben angedeutet, ein unmittelbar
inneres Bewußtsein, eine unmittelbare Erfahrung zunächst als primär anerkannt
hat, wird mit Hilfe des Quadrantensystems bzw. des „ganzen Spektrums des
Bewußtseins“ Bewußtsein gleichmäßig auf alle drei Bereiche (Ich, Wir, Es) quasi
verteilt. Jedes individuell-subjektive Ich-Bewußtsein erhält danach eine
gleichwertige Entsprechung im Wir-Bereich und in den beiden Es-Bereichen. Nach
Wilber kulminieren alle drei Bereiche letzten Endes im „GEIST“, im „Absolutem Bewußtsein“.
Die Kulminierung wird hervorgerufen durch einen „allumfassenden
Evolutionsstrom“, durch den „GEIST-in-Aktion“ (S. 128), worauf ich insbesondere
noch im Teil 7 zurückkommen werde. Das Problem ist nun folgendes: Es erhebt
sich wieder die Frage nach der unmittelbaren Erfahrung, die Frage nach dem
existentiellen Zentrum überhaupt.
Zunächst möchte ich mich dem Wort „Wahrheit“ zuwenden.
Wilber spricht von einer absoluten Wahrheit. Sie
„kann (im kontemplativen Gewahrsein) aufgezeigt,
aber niemals (in diskursiver Rede) erschöpfend ausgesprochen
werden. Es besteht, anders gesagt, ein entscheidender Unterschied zwischen
absoluter Wahrheit und Formen von Wahrheit. Absolute Wahrheit ist
formlos, zeitlos, raumlos, wandellos... Absolute Wahrheit ist... der Zustand
schlechthin aller Zustände... Nun kann man niemals alle Formen der Wahrheit
erkennen... Man kann zwar niemals alle diese Formen der Wahrheit wissen, aber
man kann die Wahrheit oder die absolute Wirklichkeit erkennen,
von der alle diese Formen nur bruchstückhafte und angenäherte Abspiegelungen
sind“ (S. 103/104).
Damit ist klar, daß alle vier Bereiche oder Formen des
Bewußtsein für sich genommen immer nur Teilwahrheiten darstellen können. Der
individuelle Ich-Bereich des Bewußtseins könnte demnach nicht der Träger bzw.
das Zentrum der unmittelbaren Erfahrung der „Absoluten Wahrheit“ sein. Wenn
sich mir die absolute Wahrheit offenbaren soll, muß jede Spur eines
persönlichen Ich in mir verschwunden sein. So lange ich, Wilber zufolge, noch
ein Ich gewahre, bin ich nicht erlöst.
Schon der Ausdruck „absolute Wahrheit“ bietet Anlaß zum
Widerspruch. In einer ausschließlich absoluten Wahrheit uncharakteristischen
und beziehungslosen, d. h. absolut wandellosen, erstarrten Typs würde überhaupt
kein Kriterium der Wahrheit selbst z. B. als Liebe, Freiheit, Geist oder
irgendeiner anderen kontemplativen Art existieren können. Und wie kann Wahrheit
überhaupt absolut sein, wenn die Formen der Wahrheit von der absoluten
unterschieden werden? Absolute Wahrheit wäre erst dann absolut, wenn die Formen
real nicht vorhanden, d. h. absolut unwahr wären. Gäbe es aber keine Formen und
wäre die absolute Wahrheit wandellos, so würde diese Wahrheit in sich selbst
verharren, und zu keinem Zeitpunkt könnte sie innerlich oder äußerlich je in
Erscheinung treten bzw. könnten aus ihr irgendwelche „Abspiegelungen“ (Wilber)
hervorgehen wie zum Beispiel der Mensch. Man muß deutlich sagen, daß der
abstrakte und verwirrende Begriff des Absoluten, auf die Wahrheit, die Gottheit
oder Gott bezogen, in keiner Weise je angemessen sein wird, weil das Absolute
immer nur absolut identisch mit einem in sich selbst gefangenen Nichts sein
kann. Aber die unergründliche Freiheit (Nichts, Ungrund, Gottheit) verharrt
niemals in sich selbst, da sie ansonsten eingeschlossen und unfrei wäre. Das
Wort Wahrheit ist ein geistig-symbolisches (im gottmenschlichen, ganzheitlichen
Sinne) und in keiner Weise ein auf ein abstraktes Absolutes abzielendes bzw.
hinweisendes Wort. Ein reines Gewahren eines wandellosen Absoluten als Wahrheit
ist weder widerspruchslos denkbar, noch wird sich solcher Art Gewahren je
existentiell ereignen, denn letztlich vertieft sich ein Gewahrer immer
in etwas, das er gewahren und konkret lieben kann. Wahrheit ist immer
Zwei-Einheit, ist immer „Zusammenwirken des Erkennenden und des Zu-Erkennenden“
(Berdjajew: Das Ich und die Welt der Objekte), Wahrheit ist
existenzdialektischer Dialog bzw. schöpferisches Wechselspiel von Mensch und
Gott, Wahrheit setzt immer ein vom Ich zu unterscheidenden geliebten Anderen
voraus. Wahrheit ist der Gipfel aller Erkenntnis und nicht ausschließlich
der Erkenntnis beziehungsloser, vorseiender Grund. Nur der Ungrund bzw. die
vorseiende Freiheit ist absolut eigenschaftslos und nicht charakterisierbar.
Die Freiheit als unergründliches Nichts stellt einen metaphysischen Grenzwert
dar. In dem Sinne, wie ich Wahrheit verstehe, als eine einzigartige,
konkret-geistige, ganzheitlich-lebendige, d. h. dynamisch-schöpferische
Verwirklichung der liebenden Persönlichkeit, die zugleich das Universale
und Gemeinschaftliche in sich subjektiv (jenseits der
Subjekt-Objekt-Gegenüberstellung) realisiert, behaupte ich keine wandellose,
absolute bzw. abstrakte Wahrheit, sondern verweise symbolisch auf ein
subjektives, realgeistiges, dynamisches Ereignis. Aber ich erkenne das
Paradoxon der Persönlichkeit an, in der einzig die Widersprüche der Welt
wahrhaft ganzheitlich zusammenfinden können (z. B. die lebendige, sich
innerlich offenbarende Einheit von Endlichem und Unendlichem, von Wandellosem
und Wandelbarem, von Zeitlichem und Überzeitlichem usw.). Und wie ich erneut
betonen muß, entsteht die Wahrheit im Menschen letzten Endes immer wieder neu
aus einem göttlich-menschlichen Dialog heraus, aus dem Zusammenwirken von
Freiheit und Gnade. Gott ist immer dabei, auch in seiner Abwesenheit, wenn es
uns schlecht geht, ansonsten könnten wir gar nicht erkennen, wann und ob es uns
überhaupt schlecht geht. Die gottmenschliche Wahrheit ist unsere höchste bzw.
tiefste existenzdialektisch-dialogische Intuition. Gott ist letzten Endes nicht
die Frage des alltäglichen Brotes, sondern die der Freiheit. Gott allein kann
die Widrigkeiten dieser Welt nicht lösen, dazu ruft er nach der Freiheit des
schöpferischen Menschen, der einzig auch die Frage des
alltäglichen Brotes aus seinem gottmenschlichen Gewissen heraus lösen kann und
muß, damit das Ereignis der Wahrheit ganzheitlich möglich wird! Gott offenbart
sich uns innerlich nur in unserem schöpferischen Wirken – nach innen und nach
außen. Es geht also immer wieder auch um die Veränderung in dieser Welt, zu der
eine absolute wandellose Wahrheit in keinem Verhältnis, in keiner wahrhaftigen
Beziehung steht. Das Absolute fordert als eine abstrakte Vorstellung immer den
Widerspruch des Menschen heraus, der sich einem Absolutem nicht unterordnen
darf, da es nur der Mensch ist, der das Göttliche in sich zur Wahrheit hin
existenzdialektisch-dialogisch verwirklichen kann und muß. Wahrheit ist weder
reiner, absoluter Selbstzweck, noch thronender Herr, dem u. a. der Mensch nur
als knechtisches Mittel dient, sondern der gottmenschliche Weg eines von
geistiger Dynamik erfüllten Lebens. Dieser Weg muß individuell gegangen werden
und ist dennoch immer gemeinschaftlich-universal und
ganzheitlich-umfassend. Es ist der Weg der Persönlichkeit in der Gemeinschaft.
Die absolute Wahrheit erhält bei Wilber keine konkrete
Zuordnung und stellt aus diesem Grunde eine diffuse Abstraktion dar. Konkrete
Zuordnungen gibt es bei den Teilwahrheiten. Die absolute Wahrheit ist reine
Essenz, Soheit seiner Abspiegelungen. Mit anderen Worten könnte man die
absolute Wahrheit spekulativ auch als ein Nichts betrachten, aus dem alles auf
unerklärliche Weise irgendwie hervorgeht und in das alles wieder auf
unerklärliche Weise eingeht. Aber es läßt sich aus dieser Wahrheit nicht
erklären, weshalb die Abspiegelungen bestimmte Richtungen ihrer Entwicklung
oder Realisierung einschlagen. Nach welchem Wert richten sich die
Abspiegelungen, welche Rolle spielt die Freiheit, die Liebe, das ethische
Wirken an sich, wenn sie ebenfalls nur niedere Formen, Teilwahrheiten der
absoluten Wahrheit sind? Wozu existiert überhaupt irgend etwas, wenn der
absoluten Wahrheit die Anwesenheit jeglicher konkreten Zuneigung, jeder tiefen
Sehnsucht nach dem anderen nicht zugeschrieben werden kann, da die absolute
Wahrheit nur eines kennt und „nicht-zwei“? Wo befindet sich die Wahrheit, wenn
sie sich mir als Person in ihrer Absolutheit niemals offenbart? Nehmen wir an,
ein Buddhist erhebt sich meditativ in einen Zustand nichtdualen Gewahrens. Geht
er ganz auf in einer unkonkreten Liebe überhaupt? Aber wo ist sein Herz, das
liebt? Spüren die vielen Menschen, alle lebenden Wesen, der „Kósmos“ seine
Liebe, die überall wirken soll? Warum ist die Welt dann immer noch erfüllt von
so viel Mitleidlosigkeit und Unmenschlichkeit? Müßten nicht, entsprechend R.
Sheldrakes sogenannter „morphogenetischer Felder“ (S. 90), alle
„Versprechungen“ (S. 73) längst erfüllt worden sein, wenn man bedenkt, daß die
Welt vom Grunde her in unermeßlicher, unterschiedsloser Liebe gebadet ist, und
warum müssen wir dann überhaupt einen so langen und beschwerlichen Weg
zurücklegen, ehe sich uns eine ewig wandellose Wahrheit unkonkret offenbart?
Ist die Liebe letztlich denn wirklich unterschiedslos und unkonkret, und dürfen
wir deshalb einer konkreten Liebe zu einem anderen Menschen nicht trauen, weil
sie etwas Besonderes ist, was entsprechend Wilbers Theorie immer noch Spuren
egozentrischen Verhaftetseins, Getrenntseins in sich trägt? Darf ich nicht mehr
sagen, daß die Wahrheit in meinem Herzen ist, da sich die Wahrheit an sich mit
einem Zentrum nicht verträgt? Kann ein existentielles Zentrum überhaupt eine
abgeschlossene Monade sein? Ist es nicht eher so, daß sich in einem geistigen
Zentrum eine völlig andere, überall hin offene Dimension offenbaren kann, in
der das Universale in der konkreten Liebe zum anderen hin ganzheitlich-lebendig
wird? Die letzte Frage beantworte ich eindeutig mit ja.
Aber auch die Erläuterungen zu den „vier Antlitzen der
Wahrheit“ gestalten sich bei Wilber höchst widerspruchsvoll und unbefriedigend.
Der individuelle Ich-Bereich wird von Wilber durch das Wortsymbol
„Wahrhaftigkeit“ (S. 43) charakterisiert. Dieser Bereich kann wie die anderen
entsprechend des ganzen Spektrums des Bewußtseins keinen zentralen Anspruch
erheben. Ganz im Gegenteil:
„Meine Gedanken tauchen nicht aus dem Nichts in meinem
Kopf auf, sondern aus einem kulturellen Hintergrund...“ (S. 40).
Diese Aussage impliziert einen sozialen Determinismus, dem
ich als Mensch völlig ausgeliefert bin. Meine ethischen Beweggründe werden,
Wilber zufolge, vollständig aus einem kulturellen Hintergrund, aus dem
Wir-Bereich gespeist (S. 51). Die Gerechtigkeit wird allenfalls durch eine
intersubjektive Wechselbeziehung festgelegt und bedarf nur meiner Zustimmung
und Anerkennung oder Ablehnung. Aber um mich in einem intersubjektiven Diskurs
überhaupt zu irgend etwas anerkennend oder ablehnend verhalten zu können, muß
ich letzten Endes eine eigenständige, unabhängige Intuition bzw.
Wertungsfähigkeit, ein ethisches Zentrum in mir persönlich gewahren. Aber nach
Wilber kann ethisches Verhalten ursächlich nicht aus der
Persönlichkeit hervorgehen. Ich kann mich danach niemals selbstbestimmt gerecht
verhalten; ich bedarf zuvor immer der äußerlichen Abstimmung mit anderen, auch
wenn diese Abstimmung letztlich auch nicht schlüssig ist. Freiheit in
irgendeiner Weise besteht nicht. „Wahrhaftigkeit“ ist aber nur möglich, wenn
ich letztlich selbst entscheide, aus mir heraus, was wahr und was falsch ist,
wenn ich selber die Wahrheit als ethisches Zentrum in mir trage bzw. im
nichtevolutionistischen Sinne erweitert habe. Alles andere ist eine Lüge. Wenn
die Ethik ursächlich in den Wir-Bereich verbannt wird, konstruieren wir
automatisch eine Gehorsamkeitsphilosophie; aber ich habe das Gefühl, daß sich
Wilber beim Schreiben dieses Buches (Das Wahre, Schöne, Gute) darüber nicht
wirklich im klaren war. Er beläßt die Widersprüche einfach und sagt, daß sich
alles schon irgendwie in der absoluten Wahrheit auflösen wird – wir müssen
einfach nur der absoluten Wahrheit (blindlings) vertrauen. Natürlich ist uns
ein ethisches Zentrum niemals in einer gebrauchsfertigen Form gegeben, sondern
muß sich immer wieder neu als Wahrheit ereignen, durch einen ursächlich
subjektiven existenzdialektisch-dialogischen Prozeß des Menschen mit Gott (also
durch Liebe) und durch die schöpferische Anstrengung des Menschen in der
Gemeinschaft zugleich. Wenn man jedoch die Wahrheit, wie Wilber es tut, als „wandellos“
disqualifiziert, hat sie als solche überhaupt keinen Wert, der sich uns
offenbaren könnte. Ethik ist ursächlich im Ich-Bewußtsein, in der
Person verankert und wird in der Gemeinschaft subjektiv-primär durch
Partizipation (innere, existentielle Anteilnahme bzw. Beziehungsfähigkeit) und
sekundär durch Kommunikation verwirklicht im Gegensatz zur Moral, die eine
vorrangig äußerliche und sekundäre, objektivierte Übereinkunft der Menschen für
ein gesellschaftlich normgerechtes Verhalten darstellt, die zwar ebenfalls von
der ethischen Intuition getragen wird, aber vor allem durch Kommunikation
verwirklicht wird. Das Gesetz in der Gesellschaft ist die objektivierteste Form
der Moral. Ohne ein Mindestmaß an moralischer Übereinkunft könnte die
Gesellschaft nicht existieren. Das Gesetz muß vor allem die Grundrechte des
Menschen schützen. Tatsächlich ist die Moral im Gegensatz zur Ethik sogar mehr
in den gesellschaftlichen Es-Bereich einzuordnen. Aber erst aus einer wahrhaft
ethischen Grundintuition, aus einem existentiellen Zentrum (in der Einheit von
Ich und Du im Wir) kann die Moral in einer dynamisch-lebendigen Weise
fortwährend vervollkommnet werden. Wahrhafte Moral hat ihre Wurzeln immer in
einer Persönlichkeit, die sich in der Gemeinschaft verwirklicht. Ausgehend von
einer bürgerlichen Grundhaltung erhält die Moral einen unbeweglichen,
lügenhaften, einen autoritären Charakter. Bürgerliches Gewissen ist
entfremdetes, lebensverneinendes, schlechtes und, in Abgrenzung vom
spirituellen Grund, verweltlichtes bzw. destruktives Gewissen und drängt zu
einem geordneten utilitaristischen „Leben“. Bürgerliches Gewissen ist die
Herrschaft des Allgemeinen über dem Besonderen, es richtet sich nach dem
allgemeinen (nicht universalen) Prinzip der Gesellschaft, dem sich die
(individuell-universale) Persönlichkeit in jedem Fall unterzuordnen hat. Moral
steht also immer in Bezug zu einer ethischen Grundhaltung, die wiederum
existentiell und wahr oder objektiviert und verlogen sein kann. Wenn Wilber
sinngemäß auf Seite 44 zum Ich-Bereich schreibt, daß uns das Innere eines
anderen Menschen nur durch Gespräch und Interpretation zugänglich ist, so hat
er das Wesen wahrhaftig zwischenmenschlicher Beziehung nicht verstanden. In
dieser und auch in anderer Hinsicht hat er es sich sehr oft zu leicht gemacht.
Die innere Beziehung wird wesenhaft nicht durch äußerliche Kommunikation
hergestellt, sondern durch innere Partizipation. Zum Unterschied von
Kommunikation und Partizipation schreibt N. Berdjajew:
„Es muss zwischen der Kommunikation und der Partizipation
unterschieden werden. Die Partizipation ist realistisch, ist Eindringen in die
Urrealität. Kommunikation ist dagegen in hohem Grade symbolisch, sie setzt die
Symbolisierung voraus, Zeichen in mir, die von meinem Inneren künden. Die Symbolisierung
die den Kommunikationen eigen ist, ist das, was in die objektivierte Welt, d.
h. in die Welt der aufgehobenen Gemeinschaft aus einer inneren Ordnung des
Existierens durchbricht. Unsere Erkenntnis, unsere Kunst ist voll von dieser
Symbolisierung der Kommunikationen. Die Symbolisierung zeugt von dem Verlust
der Gemeinschaft, aber gleichzeitig schafft sie in diesem Zustand verlorener
Gemeinschaft Kommunikationen. Wir kennen das Innenleben des anderen ‚Ich’ zum
großen Teil aus Symbolen und Zeichen. Die Kommunikationen, die in der
menschlichen Gesellschaft geschaffen werden, sind immer gegründet auf dem
Verlust der Gemeinschaft, auf dem Verbergen des Geheimnisses des inneren
Existierens, und darum können sie nur symbolisch-zeichenhaften Charakter haben.
Gewohnheiten und Gebräuche, Imitation, Höflichkeit und Liebenswürdigkeit in den
Kommunikationen tragen solchen symbolisch-zeichenhaften Charakter. Jede
Kommunikation im Leben des Staates trägt konventionell-zeichenhaften Charakter
und setzt keinerlei Gemeinsamkeit zwischen den ‚Ich’ voraus. Solchen
konventionell-zeichenhaften Charakter trägt insbesondere jeder Geldverkehr, der
die äusserste Form der Objektivierung darstellt. Aber das ‚Ich’ begnügt sich
nicht mit Kommunikationen mit den anderen ‚Ich’ in der Gesellschaft und im
Staat, in sozialen Institutionen; mit Hilfe der Kommunikationen durch
konventionelle Zeichen erstrebt es die Gemeinschaft mit den anderen ‚Ich’, ein Hinaustreten
in das wahre Existieren. Alle konventionellen Kommunikationen gehören zur Welt
der Objektivierung, sind Kommunikationen mit den Objekten. Durchbruch zur
Gemeinschaft hingegen ist ein Durchbruch über die Objektivierung hinaus zum
wahren Existieren“ (Berdjajew 25).
Der Unterschied zwischen Kommunikation und Partizipation
muß deutlich herausgestellt werden, um nicht einer einseitigen
wissenschaftlich-analytischen, d. h. zerteilenden bzw. zerlegenden
Tiefenpsychologie das Wort zu Reden. Wilber stellt zumindest in diesem Buch
(Das Wahre, Schöne, Gute) den Unterschied nicht explizit heraus und neigt zu
einer analytischen Herangehensweise:
„Eine genauere und wahrhaftigere Deutung der
Leiden des Betreffenden hilft diesem, seine bislang rätselhaften Symptome zu
verstehen, ihre Bedeutung zu erkennen. ... Eine wahrhaftigere,
getreuere und angemessenere Interpretation [Hervorhebung von mir] öffnet
die Tiefen eines Menschen in einer sinnvolleren und transparenteren Weise“(S.
44/45).
Die Schwäche der Psychotherapie war schon immer, daß sie
vom Freudschen Ansatz her den persönlich-einfühlsamen Weg nicht zulassen
durfte, um quasi ein genaues, „objektives“, zergliedertes Bild vom Patienten
erstellen zu können. Die partizipierende, in erster Linie
innerlich-anteilnehmende, einfühlsame Herangehensweise dagegen kennt nicht nur,
was der Patient von sich erzählt, um dies interpretieren zu können, sondern
läßt sich auf den ganzen Menschen, auf die Tiefe des Menschen
direkt ein. Die Partizipation ist von innen heraus immer auch ein Umfassen der
alltäglichen, der zum Teil fremden Welt und tut nicht so, als wenn die
gesellschaftlichen Umstände nicht zu ändern wären und man sich halt den
Umständen einfach nur besser anzupassen hat. Die gegenwärtig praktizierte
Psychotherapie fordert (glücklicherweise nicht immer) vor allem den angepaßten
Funktionsmenschen (meist undeutlich und indirekt – was zu erkennen für den
„durchschnittlichen“ Menschen oft nicht leicht ist). Überhaupt ist eine
angemessene Psychotherapie ohne einen umfassenderen
existentiell-philosophischen Hintergrund nicht möglich.
Wilber zufolge ist nun der „Geltungsanspruch“ für den
„intersubjektiven“ Wir-Bereich (Gerechtigkeit) „kulturelles Passen oder
gegenseitige Anerkennung, die intersubjektive Vernetzung“ (S. 48/49) und
für den „interobjektiven“ Es-Bereich (z.B. Gesellschaftssysteme usw.) „objektive
Verknüpfung“ (S.49, Hervorhebungen von mir). Dementsprechend steht der
Wir-Bereich für die Vernetzung durch gegenseitiges Verständnis, während der
„interobjektive“ Es-Bereich vor allem eine „objektiv“ verknüpfende Rolle
spielt. Worin nun genau besteht der Unterschied zwischen diesen beiden
„Spektren des Bewußtseins“? Zwischen Vernetzung und Verknüpfung kann ich keine
wesentlichen Unterschiede erkennen. Ist das Begriffspaar „intersubjektive
Vernetzung“ nicht schon ein Widerspruch in sich! Intersubjektives Verständnis
(Berdjajew verwendete für "intersubjektiv" den besseren Begriff:
transsubjektiv) hat nichts mit einer Vernetzung zu tun, letztere kann immer nur
einen mechanischen Zusammenschluß andeuten. Intersubjektives Verständnis wird
grundlegend hergestellt durch Partizipation (Verstehen durch anteilnehmendes,
subjektives Einfühlen), welches sich der kommunikativen Mittel bedient. Aber
(intersubjektives) Verständnis im eigentlichen Sinne ist ausschließlich ein
individuell-innerliches Geschehen von Gemeinschaft, des Wir, eine innere
Beziehung individueller Persönlichkeiten und kann in keiner Weise durch den
Begriff „Vernetzung“ beschrieben werden, der die fortwährende Dynamik
innerlich-intersubjektiver Beziehungen verneint bzw. nicht ausdrückt. Der Begriff
„Vernetzung“ kann für die Beschreibung eines Systems verwendet werden, aber
nicht für die lebendige Beziehung zwischen Menschen. Die individuelle
Persönlichkeit baut in sich konkret die Beziehung zu einem
anderen Menschen auf. Durch Partizipation nimmt das personale Individuum
innerlich an der Freude und am Leid des anderen ausschließlich subjektiv teil.
Der subjektiv anteilnehmende, mitfühlende Mensch steht niemals einem anderen
Menschen als Objekt gegenüber, der ihm irgend etwas erzählt, er ist aber auch
keine in sich verschlossene Subjektivität bzw. Monade. Partizipation ist
Zwei-Einheit, „Zusammenwirken des Erkennenden und des Zu-Erkennenden“
(Berdjajew), innere Begegnung von Ich und Du im Wir. Subjektive Anteilnahme
tritt in einem anderen, d. h. geistigen Sinne direkt in die Welt des anderen
ein. Dazu muß der andere sich nicht in meiner Nähe aufhalten. Sogar mit
Menschen, die zu ganz anderen Zeiten gelebt haben, kann ich innerlich in
Beziehung treten, mich in diese partizipierend hineinversetzen, Freude und Leid
mit ihnen teilen, auch wenn die Teilnahme nur über die Sprache vermittelt
wurde. Aber die Sprache des Menschen ist eben vor allem ein
ganzheitlich-integrierendes Phänomen und nicht nur kommunikatives Mittel. Durch
die Verwendung der Sprache überwindet der Mensch Zeit und Raum zur
existentiellen Tiefe hin. Beim Lesen der Bücher von Berdjajew z. B. spüre ich
das selber ganz deutlich, ich kann eine persönliche Beziehung zu ihm entwickeln
bzw. aufbauen. Beim Lesen der Werke eines jeden wahrhaft authentischen
Schriftstellers oder Philosophen erschließen sich uns diese primär
persönlich-spirituell und nicht nur durch bloße Interpretation z. B. von
„Hamlet“ entsprechend der „drei Stränge echten Wissenserwerbs (Injunktion,
Daten, Bestätigung)“ (S. 49/50 – siehe auch Teil 4 meiner Kritik), wie Wilber
behauptet. Jede rein analytische Literaturkritik ist zum Scheitern verurteilt,
ihr geht es im Verhältnis zum Autor primär nicht um dessen Authentizität bzw.
persönliche Wahrhaftigkeit, sondern um abstrakte, allgemeingültige Maßstäbe.
Echtes innerliches Verständnis bedarf nicht der vielen äußerlichen,
symbolisch-zeichenhaften Gesten, die über so viele Defizite, d. h.
Entfremdungen jeglicher Art, hinwegzutäuschen versuchen. Die innerliche Sprache
ist in erster Linie keine kommunikative, sie ist vor allem die Sprache des
Herzens. Durch ein wortloses Verstehen vermögen wir oft viel tiefer in den
anderen Menschen hineinzuschauen und erblicken uns selbst. Gerade durch ein
wortloses Verstehen ist mir ein direkter innerer Zugang zum anderen Menschen
und zu mir selbst zugleich möglich. Ich muß auch hier wieder hervorheben, daß
wahrhaft tiefe Erkenntnis immer existenzdialektisch-dialogisch ist und den
Unterschied und die paradoxale Einheit von Ich und Du im Wir voraussetzt. Ein
Psychotherapeut kann sich noch so viel erzählen lassen, wenn er herzlos ist und
keine wahrhafte Intuition für Mimik und Gestik besitzt, wenn er überhaupt
innerlich nahezu zu keiner tiefen dialogischen Beziehung in der Lage ist und
letztlich sich selber nicht versteht. Darüber hilft auch kein Bücherwissen
hinweg! Der Akt des kommunikativen Handelns verlangt immer nur ein Mindestmaß
an ganzheitlichem, subjektiv-partizipierendem Einfühlungsvermögen.
Partizipation ist absolut grundlegender als Kommunikation. Die innere
Anteilnahme eines Menschen am anderen setzt voraus, daß es etwas in ihnen gibt,
was als Wert höher steht als sie selber für sich allein genommen. Ein Mensch
findet den Zugang zu einem anderen Menschen nur durch Liebe, die in ihm als ein
überpersönlicher, verbindender Wert lebendig werden kann! Die gottmenschliche
Liebe - Gott in uns - ist unser Zugang zur Welt von oben her. Gott ist die
Wahrheit. Gott ist die vom Unergründlichen her gelichtete und als Wahrheit
lichtende Freiheit zugleich, die sich mir schöpferisch-liebend offenbart in der
wahren Begegnung mit der Welt, in der wahren Begegnung mit einem anderen
Menschen. Gott ist die konkrete Liebe zum anderen, der nur dann authentisch ein
anderer ist, wenn ich ihn liebend konkret wahrnehme. Gott ist meine geistige
Persönlichkeit. Gott ist die geistige Persönlichkeit des anderen. Gott ist das höchste
verbindende Prinzip der Persönlichkeit überhaupt, das ich in mir
als das wahrhaft menschliche Prinzip schöpferisch mit Leben
erfüllen kann. Vernetzung ist immer ein äußerlich verknüpfendes Prinzip und
beinhaltet keinen höheren, geistigen Wert. Durch die Verwendung des Begriffes
„Vernetzung“ zur Beschreibung innermenschlicher Beziehungen hat sich Wilber
auch hier hinsichtlich erkenntnistheoretischer Klarheit ins Aus manövriert. So
wie das vor allem begrifflich verwendete Wort „Ethik“ primär
nicht in einen abstrakten bzw. gesellschaftlichen „Wir-Bereich“ sondern in den
existentiellen Ich-Bereich (als Persönlichkeitsbereich) gehört, welcher das
gemeinschaftliche Wir ganzheitlich umschließt, so gehört der Begriff
„Vernetzung“ in den von Wilber so benannten „interobjektiven“ Es-Bereich. Nur
ich kann mich frei, d. h. primär in Beziehung setzen und das Wir in mir und im
anderen gemeinschaftlich verwirklichen helfen. Wenn jedoch ein scheinbares,
gesellschaftliches „Wir“ von mir Gehorsam bzw. funktionale Anpassung verlangt,
beginnt das totalitäre Reich von „Herr und Knecht“ (siehe auch Berdjajews
großartiges Buch: Von des Menschen Knechtschaft und Freiheit. Versuch einer
personalistischen Philosophie.) Solch ein Reich hat sich im modernen Westen
weitgehend durchgesetzt trotz all der gegenteiligen Behauptungen und
Beteuerungen. Wir sind Sklaven des Systems, der Macht und des Geldes. Die
sogenannte Moderne ist weit von der Freiheit in der tiefen Bedeutung des Wortes
entfernt!
Wenn Wilber vom Integrieren spricht, so meint er, daß alle
Geltungsansprüche (die vier Quadranten) des Bewußtseins durch eine „integrale
Philosophie“ bzw. „integrale Sicht“ zusammengeführt werden. Aber auch seine
„integrale Philosophie“ kann immer nur Teilwahrheit sein, denn sie ist
mental-intellektuelle und nicht spirituelle Erkenntnis. Es geht einer
„integralen Philosophie“ Wilberscher Art gar nicht so sehr um das Erleben (bzw.
Gewahren) der Wahrheit an sich, sondern vorwiegend um eine rational-analytische
Darstellung. Wilbers Anliegen, den inneren und äußeren Ansatz zu integrieren,
bildete den Ausgangspunkt dieses Teils meiner Kritik. Nun sagt Wilber
hinsichtlich des interobjektiv-kollektiven Es-Bereichs, daß die Wahrheit für
diesen Bereich „das ‚Gesamtsystem’, die primäre Wirklichkeit ist“ (S. 47). Für
den individuell-objektiven Es-Bereich ist dagegen eine Art „propositionale
Wahrheit“ ausschlaggebend, d. h., für diesen Ansatz ist wahr, was als Objekt
sinnlich, empirisch wahrgenommen werden kann. Für den
intersubjektiv-kollektiven Wir-Bereich ist ,Wilber zufolge, die
„intersubjektive Vernetzung“ das Kriterium der Wahrheit. Und für den
individuell-subjektiven Ich-Bereich ist eine „Art von innerer Wahrheit“ (S. 46)
ausschlaggebend. Einerseits schreibt Wilber nun:
„Jeder Ansatz liefert gewissermaßen eine ‚Ecke’ des
Kósmos“ (S. 41),
d. h., Bewußtsein ist gleichermaßen auf alle Quadranten
verteilt. Andererseits jedoch billigt er dem Ich-Bereich ein primäres,
unmittelbares Bewußtsein zu (S. 31). Dieser Widerspruch wird innerhalb dieses
Buches (Das Wahre, Schöne, Gute) nicht gelöst. Obwohl es ein primäres
Ich-Bewußtsein gibt, bleibt es innerhalb eines von Wilber vertretenen
allgemeinen Evolutionsstromes immer nur Teilbewußtsein. Bei dem Versuch der
Integration des inneren und äußeren Ansatzes beläßt es Wilber letztlich
ebenfalls nur bei einer Erläuterung der Probleme, die mit den jeweiligen
Ansätzen zusammenhängen. Die Integration erschöpft sich in der Erwähnung und
Darstellung der verschiedenen Ansätze, darin, in welchem Verhältnis sie
zueinander stehen, und letztlich immer wieder in der Beschwörung einer
Gesamtsicht. Was ist das für eine Integration? Um wirklich eine Integration zu
erreichen, ist für mich hinsichtlich der authentischen bzw. existentiellen
Wahrheit der innere Ansatz der primäre. Damit stelle ich den äußeren Ansatz
nicht in Frage, sondern halte ihn an und für sich nicht für den
ursprünglich göttlich-menschlichen, und aus diesem Grunde kann er nur sekundär
und abgeleitet sein. Wilber dagegen will sich nicht eindeutig für
einen der Ansätze entscheiden. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, daß
er es mittels dieser Unentschiedenheit allen recht machen und somit sein System
vor Anfeindungen schützen will. Ich möchte hier einmal annehmen, daß seine Art
„integraler Philosophie“ grundsätzlich vielleicht eher einem aufrichtigen Motiv
entsprang, die verschiedenen Weltsichten ganzheitlich zusammenzuführen. Jedoch
dadurch, daß Wilber ein präpersonales ursprüngliches und transpersonales
absolutes Bewußtsein als Ausgangspunkt und Ziel der Entwicklung annimmt, kann
er innerhalb seiner Erörterungen zum „Spektrum des Bewußtseins“ immer nur von
Teilwahrheiten sprechen. Die verschiedenen Stufen und Aspekte des Bewußtseins
in jedem Quadranten (oder Teilbereich) werden bis zum absoluten Zielpunkt
niemals ganz umfassend sein können. Keine der Entwicklungsstufen der
Teilbereiche wird irgendwo ganzheitlich zusammengeführt, das kann auch nicht
geschehen, weil die Frage nach dem Menschen als Mikrokosmos, als
ganzheitlich-integratives Zentrum von Wilber nicht in die Betrachtung
einbezogen wird. Erst im Zustand des „absoluten Bewußtseins“ sind wir ,Wilber
zufolge, zur absoluten Ganzheit transformiert oder „transzendiert“, wie auch
immer. Die Menschen werden immer Teilwesen bleiben, solange sie nicht den
Zustand scheinbar höchster Erleuchtung erlangt haben. Aber im Zustand der
Erleuchtung werden sie weder Mensch noch sonstwas sein, denn es herrscht nur
noch Absolutes – eben Unmenschliches. Wer die Frage nach dem Bewußtsein nicht eindeutig
mit der Person verbindet und von daher bereit ist, das Vorhandensein des
Bewußtseins schon im materiell-physischen Bereich bis hin zu allen Bereichen
anzusetzen (siehe S. 76/77), ebnet den inneren und äußeren Ansatz auf ein
„absolutes Bewußtsein“ ein. Das ist ebenfalls „Flachland“ (S. 53), gegen das
Wilber so vehement anzugehen versucht. Während Wilber an der Verabsolutierung
bzw. Vorherrschaft der einzelnen Teilbereiche (Quadranten) massiv Kritik übt,
was an sich nicht unberechtigt ist, kreiert er selber einen absoluten
Überbereich, die „absolute Wahrheit“, und reduziert alles auf diesen; denn,
Wilber zufolge, wird auf dem Gipfel der Evolution angelangt alles „schlichtes
Zeugen-Gewahrsein“ bzw. „Gott selbst in seiner Gänze“ (S. 407)
sein und alles ungeschehen gemacht (S. 424). Die letztendliche Verneinung der
unzertrennlichen Einheit von Person und Bewußtsein muß folgerichtig geradewegs
ins Nichts führen. Und von diesem Nichts bemüht sich Wilber Erfahrungen zu
abstrahieren und in dem hier kritisierten Buch auszusprechen. Doch das geht
nicht wirklich, wie er selber immer wieder feststellen muß. Er macht es
dennoch. Aber wo immer auch Nichts ist, läßt sich nichts sagen, nicht einmal, daß
es existiert bzw. ist! Wahrheit dagegen ist die existierende Fülle des Lebens
im Menschen, und das ist nicht bloßes Gerede. Der Mensch ist Mikrokosmos und
Mikrotheos und kann in sich ganzheitlich die Wahrheit verwirklichen. Im
Menschen werden die sogenannten „Quadranten“ bzw. verschiedenen Aspekte des
Lebens fortwährend durch das Prinzip der bewußten Person
ganzheitlich-integrierend zusammengeführt und gipfeln in der fortwährenden
Realisierung der Persönlichkeit. Authentisches Ich-Bewußtsein bzw. personales
Bewußtsein ist vornehmlich dem Menschen und - weniger ausgeprägt - auch
höherentwickelten Tieren eigen. Ansonsten gibt es in der Natur oder im Kosmos
kein Bewußtsein, da in diesen Bereichen kein ganzheitliches bzw. personales
Zentrum existiert, welches zur Freude und Leid in der Einheit mit einem Du im
Wir fähig wäre. Erst die Einheit von Person und Bewußtsein ermöglicht eine
differenzierte Erkenntnis überhaupt. Bewußtsein der Person bedeutet geistige
Differenzierungsfähigkeit der Person. In der anorganischen oder organischen
Natur wird keine geistig-bewußte Differenzierung vollzogen. Wo denn auch? Weder
die Natur oder der Kosmos noch die Welt der Objekte überhaupt sind ein Ganzes
und in sich Vollständiges im Sinne der Ganzheit und Vollständigkeit der Person.
Im Universum herrscht Vielheit, Verdünnung und nur „relative Ganzheit“ im
naturalistischen Sinne. Im Menschen und auch in höherentwickelten Tieren existiert
personale Ganzheit. Der Mensch ist sowohl ein natürliches als
auch ein primär geistiges Wesen. Der Mensch umfaßt immer beide Welten
ganzheitlich. Die „brennende Frage“ heißt nicht: „In welchem Verhältnis steht
die absolute Einheit zu der Welt der relativen Vielheit?“ (S. 132), sondern in
welchem Verhältnis steht die Vielheit zur Ganzheit, zur ganzheitlichen Einheit!
Mit der „absoluten Einheit“ verhält es sich genauso wie mit der „absoluten
Wahrheit“, letztere habe ich in diesem Teil weiter oben schon gesondert
kritisiert. Die Fülle des Lebens („Leben“ hier im existentiellen, inneren und
nicht biologischen Sinne) ereignet sich abgestuft in jedem Menschen, und die
Abstufung ist nicht extensiv meßbar, sondern wird nach dem Grad der
realisierten, d. h. gefühlten Intensität der Fülle erlebt. Die Persönlichkeit
ist immer ganz, sie wird jedoch durch ihre fortwährende
Realisierung gefestigt und vertieft, was wir als Zunahme von Fülle erfahren.
Die sich ereignende Fülle ist in jedem Menschen fühlbarer oder weniger fühlbar,
sie ist der Gradmesser der dynamisch-ganzheitlichen Realisation der
Persönlichkeit, der Wahrheit als innergemeinschaftliche, gottmenschliche Fülle
des Lebens. Fülle ist das reale Gefühl von Ganzheit. Die Fülle des Lebens ist
kein hierarchisches Unterscheidungsmerkmal, sie ist das höchste
qualitativ-fühlbare Kriterium unserer Innerlichkeit und ist jedem Menschen von
vornherein gegeben; der Mangel an Lebensfülle geht mit einem Gefühl
seelisch-geistiger Leere bis hin zum Widerwillen gegenüber der eigenen Person
einher. Vor allem die verinnerlichte Autorität entfremdet uns von uns selbst,
d. h. von der existentiell-konkreten Fülle des Lebens. Der seelische Schmerz
kann zum einen mit der spürbaren Verleugnung der Persönlichkeit zusammenhängen.
Zum anderen ist der Schmerz aber auch der Fülle an sich eigen, denn die Fülle
beinhaltet immer sowohl das Leid, den leidvoll zurückgelegten Weg, als auch die
Freude der Liebe. Durch Leidensarbeit überwinden wir den Schmerz und erweitern
unsere Persönlichkeit. Aber je umfassender, je tiefer die Persönlichkeit wird,
um so schmerzvoller erfahren wir die Widrigkeiten dieser Welt und leiden erneut
in Liebe für eine bessere Welt. Wir leiden für den geliebten Menschen, daß auch
dieser den Schmerz überwinden kann. Doch endgültige Überwindung der Schmerzen
wird es im wahrhaftigen Leben eines Menschen niemals geben, es sei denn, er
hört auf, ein liebender, wahrhaftiger Mensch zu sein. Der Schmerz vergeht,
nehmen wir die Fülle und die mit ihr verbundene Persönlichkeit nicht mehr wahr,
mit der unser Widerstand gegenüber einer Welt des Zwanges und der Unterdrückung
einhergeht. Berdjajew würde sinngemäß sagen, daß die endgültige Überwindung des
Leidens, das Reich der Mitte, das Reich der absoluten Mittelmäßigkeit und
Oberflächlichkeit zur Folge haben würde. Die Leidensfähigkeit als ein geistiges
Phänomen ist der Fülle des Lebens, der Persönlichkeit immanent. Sobald die
Persönlichkeit im Kind erwacht, ist dieses spontan und augenblicklich zur
Realisierung der Fülle des Lebens fähig. Die Fülle des Lebens ist kein Finale,
kein Endpunkt, sondern immer der Beginn eines anderen, eines innerlichen
Lebens. Die Art der Beziehungen der Menschen zu Gott und untereinander ist das
wesentlichste Kriterium unseres ganzen Lebens zu jeder Zeit und unmittelbar.
Die Frage nach der Wahrheit kann in jedem Menschen nur unmittelbar gelöst
werden. Sie ist das Erwachen der Liebe, die fortwährend unserer schöpferischen
Kraft bedarf. Denn die Freiheit als schöpferische Kraft und die Liebe bilden
eine unzertrennliche Einheit. Die Liebe existiert auch im Verhältnis zu einer
Welt voller Niedertracht und Häßlichkeit, aber die Liebe verhält sich zu dieser
Welt niemals neutral bzw. gelassen oder gleichgültig. Der liebende Mensch
wendete sich immer der Welt und insbesondere dem anderen Menschen konkret zu,
damit Freiheit und Liebe in jedem und überall wirksam werden können. Nebenbei
bemerkt gehe ich davon aus, daß auch höherentwickelte Tiere zu einer
persönlichen Beziehung in der Lage sind. Die Freundschaft zwischen Mensch und
Tier gewinnt gerade in einer unpersönlichen, beziehungslosen Zeit wie der
unsrigen eine große Bedeutung. In der freundschaftlichen Beziehung zu einem
Tier ist der Mensch manchmal wesentlicher er selbst als er es unter Menschen zu
sein vermag.
Ken Wilber äußert das Anliegen seiner „integralen Studien“
wie folgt:
„Sie >die integralen Studien< können das Spektrum
des Bewußtseins nicht nur in seinen intentionalen, sondern auch in seinen
verhaltensmäßigen, sozialen und kulturellen Manifestationen darstellen, womit
wiederum die Bedeutung eines mehrdimensionalen Ansatzes für eine wirklich
umfassende Darstellung des menschlichen Bewußtseins und Verhaltens
unterstrichen wird“ (S. 72).
Ob jedoch die bloße Anerkennung und Berücksichtigung
dieser Art „integraler Studien“ bzw. des „ganzen Spektrum des Bewußtseins“ laut
Wilber (S. 67) zu wirklich dramatischen Veränderungen führen werden, möchte ich
sehr stark bezweifeln. Ohne die Bereitschaft des einzelnen Menschen
zur inneren Wandlung, zum schöpferisch-geistigen Aufschwung wird sich in
unserem gesellschaftlichen Leben überhaupt nichts ändern. Die einzig wahrhaftige
Veränderung kann sich nur durch den innerlichen, geistigen Menschen vollziehen,
der über die Realisierung seiner Persönlichkeit und damit verbunden seiner
ethischen Grundintuition (Gewissen) als ursprüngliche Wertedimension bzw.
Wertezentrum die Liebe, Gott und die existentielle Wahrheit zum Maßstab seines
Wirkens erhebt. Eine Anerkennung der wahrhaft ursprünglichen Wertedimension
kann ich in Wilbers „Philosophie“ nicht entdecken, da sein propagierter Grund
ein völlig indifferenter „GEIST“ bzw. ein völlig indifferentes „absolutes
Bewußtsein“ ist, das, beziehungsunfähig und deshalb lieblos und geistlos,
keinen Zugang zu irgend etwas finden kann. Unser ganzes Leben erhält seine
Richtung entsprechend der Art unserer Wertedimension - entweder die Wertedimension
ist objektiviert, fremdbestimmt, oberflächlich und autoritätshörig oder
authentisch, selbstbestimmt und frei; entweder sie negiert die persönliche
Freiheit und verlangt quasi unsere Selbstverleugnung, oder sie ermöglicht die
freien Persönlichkeiten in einer freien Gemeinschaft. Unsere Kraft zu
wahrhaftigen Veränderungen in allen Bereichen unseres Lebens ist grundsätzlich
davon abhängig, in welchem Sinne wir Menschen uns entscheiden – im Sinne der
Liebe und der Freiheit, im Sinne unserer gottmenschlichen Intuition und
Authentizität oder im Sinne der Machtverhältnisse, einer autoritätshörigen
Moral, die mit einer existentiellen Ethik nichts gemein hat. Die Politik ist
immer ein verlogenes, machterhaltendes Mittel machtorientierter Menschen; sie
funktioniert, solange die Menschen sich nur als Zahnräder im Getriebe verstehen
und permanent einer tiefgründigen Selbsterkenntnis aus dem Wege gehen. Es zeigt
sich immer wieder, daß ein fremdbestimmtes und unverantwortliches Leben oft
leichter zu bewältigen ist, obwohl es jeder tiefgründigen Auseinandersetzung
und jeder wahrhaftigen Erfüllung entbehrt, es steht eben nicht im Widerspruch
zu den Machtverhältnissen. Macht selber ist Herrschaft des Prinzips der
Notwendigkeit, d. h. der gefallenen Freiheit (z. B. Kapitalismus oder
totalitärer, persönlichkeitsfeindlicher Sozialismus); willkürliche Macht ist
ausufernde irrational-destruktive Freiheit, der vernichtende, sinnlose
Versuch, das Prinzip der alles versklavenden Macht zu überwinden. Die Wahrheit,
die Liebe, der freie Geist bilden die Grundlage des Kreuzes, welches es zu
tragen gilt. Erst auf diese Weise kann die Macht wahrhaft lebensbejahend
überwunden werden. Doch wem sich die Liebe, der freie Geist, das ursprüngliche
Gewissen in der Tiefe seiner menschlichen Existenz nicht als Wahrheit zu
offenbaren vermag, wird das Opfer nicht bringen wollen; und dieser Zustand ist
kennzeichnend für unser gegenwärtiges Leben, für die machthörigen Menschen auf
unserer Welt. Das Fehlen eines tiefen ethischen Bewußtseins gerade bei den
Menschen in den westlichen zivilisierten Ländern, treibt unsere Welt geradewegs
in ein ökologisches und menschlichkeitsvernichtendes Desaster. Der Mensch
verelendet physisch, seelisch und geistig in einer Welt vorrangig funktionaler
Wechselbeziehungen. Autoritätshöriges Bewußtsein ist verbürgerlichtes,
eingeschränktes, destruktives Bewußtsein, ist unreligiöses, egozentrisches,
persönlichkeitszersetzendes Bewußtsein. Für Wilber jedoch ist ethisches
Bewußtsein nur eine Form des „absoluten Bewußtseins“ und spielt in seinem
System nur eine sekundäre Rolle. Die Liebe und das Mitleid in unserem Leben
gebietet nach Wilbers Theorie eine Vernunft, die wie die Liebe und das Mitleid
aus unerklärlichen Gründen einem absoluten „GEIST“ deduziert wurde. Die Liebe wird
letztlich mit einer unterschiedslosen, abstrakten Liebe identifiziert und
verlangt im Grunde keine Veränderungen:
„Wenn man deshalb so im reinen Zeugen ruht, wird man
nichts Besonderes sehen – alles, was man sieht, ist in Ordnung“ (S. 410).
Nicht ganz von der Hand zu weisen sind Wilbers
Erläuterungen zum „Flachland“ (S. 53ff), auch wenn er, wie oben von mir schon
kritisiert, durch die Postulierung einer „absoluten Wahrheit“ und die
Reduzierung der Persönlichkeit zu einem Epiphänomen selber Flachland erzeugt
und seine Theorie („das ganze Spektrum des Bewußtseins“ – S. 73) ad absurdum
führt. Die Reduzierung subjektiver Phänomene auf Materie betitelt er richtig
als einen „plumpen Reduktionismus“. Die Systemtheorie versucht alles vom System
ausgehend zu erklären und wird von Wilber als „subtiler Reduktionismus“
zurückgewiesen. Der „Kulturelle Konstruktivismus“ und die „Kulturelle
Relativität“ versuchen alles in den Wir-Bereich hinein aufzulösen bzw. diesen
Bereich in den Vordergrund zu stellen. Und auch eine
subjektivistisch-egozentrische Ich-Theorie ist nicht akzeptabel. Aber Wilbers
Erläuterungen bzw. Argumentationen zu den einzelnen Bereichen sind durch die
Verwendung unklarer Begriffe und aufgrund seines falschen Theorieansatzes („das
ganze Spektrum des Bewußtseins“ - S. 73) sehr widerspruchsvoll. Im Zusammenhang
mit dem Szientismus (für mich gleich „Wissenschaftsgläubigkeit“), der, Wilber
zufolge, alle subjektiven Phänomene auf „Es-heiten“ reduziert, behauptet er:
„Aber ‚empirische objektive Erkenntnis’ findet nur im Raum
einer intersubjektiven Struktur statt, die die Differenzierung von Subjekt und
Objekt überhaupt erst erlaubt. ... Damit wird nicht die objektive Komponente
der Erkenntnis bestritten, wohl aber, daß Erkenntnis bloß objektiv oder
unbefleckt empirisch sei“ (S. 57/58).
Für Ken Wilber steht eine sogenannte „objektive
Erkenntnis“ zur Disposition, die sich als allumfassend und „unbefleckt“
betrachtet. Ich sehe jedoch niemals objektive, sondern nur objektivierte
Komponenten der Erkenntnis, aber das werde ich weiter unten im Zusammenhang mit
der Wortverbindung „objektive Wahrheit“ zu erläutern versuchen. Das schiefe
Bild einseitiger „objektiver Erkenntnis“ korrigiert Wilber dahingehend, daß für
ihn die Erkenntnis „nur im Raum einer intersubjektiven Struktur“ stattfinden
kann. Doch eine „intersubjektive Struktur“ stellt genauso wie eine
„intersubjektive Vernetzung“ einen Widerspruch in sich selbst dar. Ein
intersubjektives (besser: transsubjektives) Geschehen ist ein subjektiv-ganzheitlicher
Prozeß und kann nicht mit dem statischen Begriff „Struktur“ beschrieben
werden. Wenn Wilber von „intersubjektiver Struktur“ spricht, so bezieht er sich
hier offensichtlich nur auf einen rein kommunikativen Informationsaustausch,
eine gemeinsam zu erfolgende Interpretation und die Gegenüberstellung von
Subjekt und Objekt; ein existentiell-wertendes, personal-integratives Zentrum,
d. h. die Persönlichkeit wird in die Betrachtungen wiederum nicht einbezogen.
Die Schieflage verstärkt sich. Erkenntnis ereignet sich danach grundlegend über
den (allgemein-gesellschaftlichen) Wir-Bereich in Übereinstimmung mit dem
Es-Bereich, woran Subjekte der Erkenntnis irgendwie beteiligt sind, aber nicht
als existentiell-wertende Zentren. Das Subjekt der Erkenntnis wird hier
zumindest eher im Dunkeln belassen. Einer differenzierteren Sicht zum Problem
der Erkenntnis bin ich schon im vierten Teil meiner Kritik nachgegangen. Danach
ist Erkenntnis ein subjektives Ereignis, das sich in zwei Richtungen bewegen
kann, in eine objektivierende, unauthentische und eine existentialistische,
authentische. Ersteres trifft vor allem für die wissenschaftliche
Erkenntnisweise zu, die sich stets einem Objekt der Erkenntnis gegenübersieht
und dieses Objekt immer nur in einem indirekten Verhältnis untersuchen kann
(Subjekt-Objekt-Spaltung). Die authentische Erkenntnis dagegen ist in direkter
Weise dem existentiellen Subjekt der Erkenntnis selber zugewandt, welches als
subjektiv erkennendes Ich immer auch das Du im Wir realisiert. Der Narzißmuß
dagegen ist eine Form objektivierender Erkenntnis und schließt eine wahrhaft
existentialistische Erkenntnis aus; das Ich bewegt sich im Dunstkreis seines
beziehungslosen Ego und nimmt sich selbst vorwiegend in objektivierender Weise
wahr. Das Ich wird sich selber zum Objekt der Erkenntnis und entfremdet sich
von sich selbst. Fremdheit wird nur subjektiv-existentialistisch überwunden,
niemals durch eine trennende objektivierende Erkenntnisweise. Den positiven
Aspekt einer objektivierenden Erkenntnis hatte ich bereits im vierten Teil
meiner Kritik , auf den ich hiermit verweise, insbesondere durch ein
Berdjajew-Zitat zur Sprache gebracht. Wilbers in sich widersprüchliche
Begriffsverbindung „intersubjektive Struktur“ umfaßt in dem obigen Zusammenhang
weder die Erkenntnisrichtung eines partizipierenden Einfühlens, eines
innerlich-direkten Eindringens meines Existierens in das des anderen und
umgekehrt, noch setzt diese das existentiell-wertende Zentrum des erkennenden
Subjekts voraus, was eine Erkenntnis in irgendeine Richtung überhaupt erst
ermöglichen würde.
Zum „Kulturellen Konstruktivismus“ (Verabsolutierung des
Wir-Bereichs) schreibt Wilber weiterhin:
„In neuerer Zeit haben wir es mit dem umgekehrten Versuch
zu tun, der Leugnung jeglicher Form objektiver Wahrheit“ (S. 58).
Die Verwendung der Wortverbindung „objektive Wahrheit“
schätze ich als sehr problematisch ein (vergleiche auch meine Sicht zur
„objektiven Realität“ am Schluß des ersten Teils meiner Auseinandersetzung).
Wahrheit ist ursprünglich das existentielle Geschehen des gott-menschlichen
Dialogs, der Realisierung der Fülle der Persönlichkeit als höchstes
werteschaffendes Zentrum (das sieht Wilber freilich anders). Wahrheit ereignet
sich als ein bewußt-geistiges Phänomen in uns als ganzheitliche, vollständige
Wesen. Wahrheit ist ein Ereignis von Ganzheitlichkeit im schöpferisch-geistigen
Sinne. Sie umfaßt die materiell-physische, die seelische und
freiheitlich-geistige Ebenen im Menschen als Person, als Mikrokosmos und
Mikrotheos. Die Offenbarung der Wahrheit im Objekt schließe ich aus, da es kein
ganzheitlich-geistiges und existentiell-werteschaffendes Zentrum darstellt. Dem
Objekt an sich fehlt die subjektive Komponente. Völlig ausgeschlossen ist somit
eine irgendwie geartete Ganzheitlichkeit des Objekts. Auch das Universum ist
kein Ganzheitliches, sondern endlose Vielheit und Verdünnung. Das Universum
stellt ebenfalls keine mikrokosmische Konzentration dar. Die
mikrokosmisch-ganzheitliche Konzentration jedoch bildet die unabdingbare
Voraussetzung für die unmittelbare Offenbarung des subjektiven Geistigen. Das
Objekt existiert im Subjekt der Erkenntnis nicht im primär-geistigen, sondern
nur im sekundär-objektivierten Sinne. Eine objektiv-bewußte Existenz gibt es
nicht. Bewußte Existenz ist immer innerlich-geistige Existenz und ist an ein
Subjekt gebunden. Wahrheit ist ursprünglich existentielle
Wahrheit des selbstbewußten geistigen Subjekts. Berdjajew sagt:
„In der objektiven, dinglichen Welt kann kein Kriterium,
keine Quelle der Wahrheit gefunden werden“ (Berdjajew 26).
Wahrheit wird vom Subjekt immer als geistiges
Element schöpferisch in dessen Erkenntnis vom Objekt hineingetragen. Im
Verhältnis und in Richtung zur Welt der Objekte schaffen wir als
existierende Wesen objektivierend eine objektivierte Wahrheit bzw. eine
objektivierte Erkenntnis in uns. Die Objekte müssen in uns auf
geistig-schöpferische Weise neu entstehen, wollen wir sie erkennen. Sie
entsprechen dieser Erkenntnis jedoch nur relativ, sie sind niemals diese
objektivierte Erkenntnis des erkennenden Subjekts. Wir Menschen können deshalb
niemals mit letzter Gewißheit sagen, wie die Welt der Objekte, denen wir als
Subjekte der Erkenntnis gegenüberstehen, beschaffen ist und was Objekte
unabhängig von einem existierenden Subjekt eigentlich, für sich genommen, sind.
Doch die Wortverbindung „objektive Wahrheit“ suggeriert uns genau dies, daß
eine allgemeinverbindliche Wahrheit der Objekte
unabhängig vom Menschen als subjektiv wertendes und geistig schaffendes Wesen
existiert und von ihm „objektiv“ korrekt und neutral beschrieben werden kann.
Aber das trifft vor allem deshalb nicht zu, weil wir die Objekte immer nur
indirekt, sekundär (existentiell-objektivierend) erfassen und niemals
direkt, primär-geistig in sie eindringen können. Das einzige, was wir von einer
Welt ohne den transzendentalen Menschen (Berdjajew), ohne irgendein
existentielles Subjekt sagen können, ist, daß in dieser Welt der Geist, Gott
nur als Logos, als ein völlig unbewußt wirkender Sinn anwesend ist. Diese
Annahme müssen wir zulassen, da ansonsten eine Evolution im Kosmos und/oder in
der Natur nicht stattgefunden hätte. Aber zum Unterschied von Evolution und
Schaffen komme ich später noch (Teil 7), wenn ich einen allumfassenden
Evolutionsstrom, von Wilber vertreten, kritisch anzweifeln werde. Durch die
Verbindung des rational-abstrakten Begriffs „objektiv“ und des existentiellen
Wortsymbols „Wahrheit“ wird eine unzulässige Vermischung von zwei völlig
verschiedenen Ebenen bzw. Dimensionen vorgenommen. Niemand kann etwas „objektiv
Wahres“ sagen, weil es etwas „objektiv Wahres“, entgegen Wilbers Sicht (S. 63),
gar nicht gibt. Schon die Annahme, „objektiv“ sein zu können, ist eine
Verdrehung der geistig-subjektiven Wirklichkeit bzw. Realität, auch wenn damit
nur auf eine allgemeinverbindliche kommunikative Übereinkunft zwischen den
erkennenden Subjekten hingewiesen werden soll. Der begriffliche Ausdruck
„objektiver Tatbestand“ hat nur einen rein pragmatischen Wert.
Subjektiv-existentieller Wahrheit kann nur eine subjektiv-objektivierte
Wahrheit gegenübergestellt werden. Die Objektivierung der Wahrheit hat bis zu
einem gewissen Grad immer eine Begrenzung bzw. Entstellung der Wahrheit zur
Folge. Das Ergebnis der objektivierenden Erkenntnisweise des existentiellen
Subjekts ist objektivierte, d. h. begrenzte, lügenhafte Wahrheit.
Subjektiv-objektivierende Erkenntnis setzt eine Subjekt-Objekt-Spaltung voraus.
Der Erkenntnisbegriff „Objektivation“ bzw. „Objektivierung“ ist dem Begriff
„Objektivität“ vorzuziehen, weil ersterer auf die Relativität seiner Gültigkeit
verweist, während letzterer einen unumstößlichen und völlig von Logos-Sinn bzw.
Gott-Sinn und Freiheit unabhängigen „Tatbestand“ suggeriert. Es findet aber in
der Welt auch ein ursächlicher Objektivierungsprozeß außerhalb der Erkenntnis
statt. Dieser wird hervorgerufen durch eine fortwährende Differenzierung des
unergründlichen Nichts (vorseiende, irrationale Freiheit) in eine logostragende
Freiheit (bzw. in einen unbewußt in der Freiheit wirkenden Sinn) und in die
Notwendigkeit. Notwendigkeit ist erkaltete, erstarrte Freiheit. Sie ist das
vorherrschende Prinzip in der Welt der Objekte, insbesondere in der Materie als
eine Form der abgefallenen Freiheit bzw. der Notwendigkeit. Materie ist nur in
einem in Freiheit und Notwendigkeit auseinandergebrochenen Universum vorhanden.
Die Freiheit selber kann in diesem Universum (aus dem Nichts heraus) sowohl die
sinntragende als auch sinnentleerte Freiheit sein; letztere wirkt zum
Nichtsein, in ihren eigenen Ursprung (Ungrund) zurück. Der ursächliche
Objektivierungsprozeß ereignet sich weder im Nichts noch im Universum der
Freiheit und Notwendigkeit, er ist kennzeichnend für den Übergang. Der Übergang
selber ist räumlich und zeitlich nicht bestimmbar. Auch ein Umkehrungsprozeß
der ursächlichen Objektivierung muß aus meiner Sicht angenommen werden, aber
weder der eine noch der andere Prozeß folgt dabei einer Gesetzmäßigkeit,
sondern der Freiheit. Gesetzmäßigkeit bzw. Notwendigkeit existiert
ausschließlich in der objektivierten Welt. Aber das alles sind, ich gebe zu, meine
Theorien und Erklärungen aus dem Zusammenhang meiner Überlegungen und
Intuitionen. Beweise kann ich nicht liefern. Nun schreibt Wilber zum Beispiel:
„Die extremen Konstruktivisten behaupten jedoch, daß es so
etwas wie objektive Wahrheit nicht gäbe, weil unsere Vorstellungen einfach
gemäß den jeweiligen Interessen konstruiert werden“ (S. 59).
Natürlich werden unsere Vorstellungen immer auch in
Übereinstimmung mit einer für uns relativ stabilen objektivierten Welt bzw.
Welt der Objekte gebracht, und die Kritik von Wilber gegenüber den „extremen
Konstruktivisten“ ist von daher berechtigt, aber hinsichtlich einer „objektiven
Wahrheit“ sind wiederum die Zweifel nicht von der Hand zu weisen. Denn die
Wahrheit von der objektivierten Welt, die wir kennen, ist ebenfalls
objektivierter Art und enthält immer ein existentiell-schöpferisches Moment des
erkennenden Subjekts, das dieses Moment in die objektivierte Wahrheit
hineingetragen hat. Das schöpferische Moment ist in jeder echten und originären
Erkenntnis wiederzufinden, die erst durch dieses Moment überhaupt entsteht,
fortlaufend erneuert wird und wächst. Mit anderen Worten, der Mensch verändert
die Welt entsprechend seiner sich verändernden Erkenntnisse existentieller und
objektivierender Art. Darüber hinaus muß man sich vor Augen halten, daß selbst
das scheinbar unveränderlichste Objekt sich nicht in einer absoluten Starre
befindet, denn Bewegung existiert bis in die kleinsten physikalischen Bereiche
hinein. Wir werden also in einer objektivierenden Weise niemals ein genaues
Bild der Welt erstellen können; und ist dieses Bild auch noch so exakt, es wird
immer nur eine angenäherte, sekundäre Wiedergabe sein. Auch hier zeigt sich
wieder die Relativität einer jeden objektivierenden Wissenschaft. Und eine
objektivierende Wissenschaft vom Geist wird ebensowenig wahrheitsgemäße
Aussagen über den Geist als eine subjektive Erscheinung machen können, weil wir
den Geist immer unmittelbar subjektiv-dynamisch erleben und er uns niemals als
ein Objekt der Erkenntnis gegenübergestellt sein wird. Wir können deshalb nur
in einer symbolischen (Wortsymbol) und mythologisch-mystisch-analogen Weise aus
unserer existentiellen Erfahrung heraus über den Geist wahrhaft sprechen. Und
die Sprache unserer wahrhaft-existentiellen Erfahrung ist vor allem immer die
authentische, emotional-geheimnisvolle Sprache unserer Herzen. Die persönliche
Erfahrung des Geistes ist kein monologisches Gespräch mit sich selbst;
letzteres entspräche immer nur einem egozentrischen, in sich selbst gefangenen,
lieblosen Geist. Der wahrhaftige Geist im Menschen offenbart sich als Liebe zum
anderen Menschen und vornehmlich zu Gott. Der wahrhaftige Geist im Menschen ist
ein Hinübergehen, ein Transzendieren zum und ein existenzdialektischer Dialog
mit dem göttlichen Grund, er ist Gemeinschaft und Wahrheit. Durch die
Behauptung von absoluter Einheit in dem Sinne: Leere-ist-Form und
Form-ist-Leere, wird die persönliche Liebe und die mit ihr verbundene
Gemeinschaft zur absoluten Bedeutungslosigkeit herabgewürdigt.
Durch die unkritische Verwendung der Wortverbindung
„objektive Wahrheit“ unterliegt Wilber gleichermaßen wie der Szientismus der
Illusion, daß das erkennende Subjekt keinen schöpferischen Zugang zur Welt der
Objekte hat. Dies hätte jedoch einen vollständigen Determinismus unserer
Beziehung zur äußeren Welt zur Folge, da die so gewonnenen Erkenntnisse, fern
aller menschlich-subjektiven Einflüsse, nur Abspiegelungen einer vorgegebenen
Welt wären. Der Mensch aus seiner Tiefe ist es, der der objektivierenden Erkenntnis
etwas hinzufügt, was sich aus den Objekten nicht ableiten läßt – ein
geistig-schöpferisches, ursprünglich-wertendes Element. Erst dadurch kann der
Mensch verändernd auf die äußere Welt einwirken. Aber ich muß auch an dieser
Stelle noch einen Schritt weitergehen. Gerade Wilbers „absolute Wahrheit“ würde
nach seiner Theorie insbesondere mit einer Art „objektiver Wahrheit“ konform
laufen, da auch eine „absolute Wahrheit“ keinen wahrhaft
verändernden Einfluß auf diese Welt zuläßt - die Welt soll nicht verändert,
sondern ungeschehen gemacht werden (S. 424). Und wie verhält es sich mit
Wilbers Feststellung auf Seite 59:
„Natürlich sind Aspekte der Erkenntnis intersubjektiv
konstruiert, aber diese Konstruktionen vollziehen sich in Netzen subjektiver,
objektiver und interobjektiver Wirklichkeiten, die die Konstruktion
einschränken“ (S. 59).
Aus dem Blickwinkel einer „Intersubjektivität“, die,
Wilber zufolge, einen kommunikativen Austausch über „Wirklichkeiten“
beinhaltet, an dem „Netze von subjektiven Wirklichkeiten“ ohne
existentiell-primären bzw. primär-wertenden Hintergrund beteiligt sind, wird
das Erkenntnissubjekt theoretisch aller wahrhaft schöpferischen Kraft enthoben.
Die Erkenntnis stellt sich auch in diesem Zusammenhang als eine Abspiegelung
von Vorgängen in „Netzen“ dar und kommt über die Vorgaben nicht hinaus. Das
Erkenntnis als ein geistiges, als ein inneres Geschehen des Subjekts immer auch
schöpferische, verändernde Einflußnahme bedeutet, wird von Wilber nicht
konsequent in Betracht gezogen. Was ich oben als objektivierte Wahrheit
oder Erkenntnis bezeichnete steht nicht in einer Eins-zu-Eins-Entsprechung mit
einer angeblich allgemeingültigen „objektiven Wahrheit“. Erkenntnis ist sowohl
innere, aktiv-schöpferische Aneignung der Welt, d. h. ist geistige Veränderung
der Welt in existentieller und objektivierender Weise, als vor allem auch ein
existentielles Ereignis gottmenschlicher Wahrheit. Für die objektivierende
Erkenntnisweise stehen sich nach dem grundlegenden Prinzip des „Zusammenwirkens
des Erkennenden und des Zu-Erkennenden“ (Berdjajew) Subjekt und Objekt
gegenüber und bilden eine verhältnismäßige, indirekte Einheit. Das aktive
Element ist immer einseitig das Subjekt und nicht das Objekt, weshalb diese
Erkenntnisweise sekundärer Art ist. Für die existentielle, primäre Erkenntnis
bildet die direkt-dialogische Einheit zweier voneinander differenzierter
Subjekte die unmittelbarste Voraussetzung; beide Subjekte stehen hier in
aktiver Beziehung zueinander. Hinsichtlich der direkten verändernden Einflußnahme
auf z. B. materielle Objekte bedienen wir uns der objektivierenden
Erkenntnisweise, die eine Veränderung der Objekte innerlich vorwegnimmt. Aber
die scheinbar passive Betrachtung eines materiellen Gegenstandes verführt uns
zu der Annahme, daß eine unveränderliche, gegebene materielle Welt existiert.
Doch das ist eine Illusion. Denn was wir einerseits vom Gegenstand wahrnehmen,
ist immer nur die Hülle, die äußerliche Form, die stabilste Seite des
Gegenstandes. Die Abläufe im Mikrobereich nehmen wir schon nicht mehr wahr.
Andererseits ist eine absolut passive Erkenntnis schon aus dem Grunde nicht
möglich, da der Gegenstand in uns geistig neu erschaffen werden muß, um
innerlich erfaßt werden zu können. Die geistige Vorstellung ist ein Prozeß. Das
innerlich Erschaffene erfüllen wir existentiell mit Leben, das dem Objekt an
sich nicht eigen ist. Eine lebendige Vorstellung von sich selbst
hat das Objekt nicht.
Die Erkenntnis vollzieht sich im ganzheitlichen
Subjekt und ist nicht eine Abspiegelung von Ereignissen in „Netzen“
subjektiver, „objektiver“ und „interobjektiver Wirklichkeiten“. Das
ganzheitliche Subjekt - der Mensch als selbstbewußtes und gemeinschaftliches
Wesen - vereint und verwirklicht, göttlich-menschlich, die ganze materielle und
geistige Welt in sich und erschafft sie neu als eine Ganzheit, als einen
Mikrokosmos und Mikrotheos, als eine mikrokosmische Konkretisierung der
unergründlichen Gottheit, des Nichts, der Freiheit. Abstrakte, vorgegebene, dem
Erkenntnissubjekt gegenübergestellte Netze subjektiver, „objektiver“ und
„interobjektiver Wirklichkeiten“ sind eine Erfindung, eine absolute
Konstruktion, eine theoretische Verirrung. Es kommt natürlich immer darauf an,
was Wilber mit „intersubjektiv“ meint: den inneren, geistigen Dialog, der sich
der kommunikativen Verständigung bedient oder die kommunikativ-äußerliche
Verständigung, die als Garant die innere Wahrheit determiniert. Wilber möchte
sich irgendwie genau dazwischenstellen. Der primäre Ansatz ist für ihn die
„absolute Wahrheit“ bzw. „absolute Einheit“. Doch damit reduziert er einfach
alles, die ganze Welt auf ein Unerklärliches; die Welt ist nicht wirklich
jemals in Erscheinung getreten, wir träumen nur, und auch das ist nicht wahr
usw. usf.
Die „universelle Wahrheit“ darf man nicht in einem Atemzug
nennen mit der sogenannten „objektiven Wahrheit“ (siehe Seite 62), letztere
trägt ihrem Wesen nach einen allgemeingültigen Charakter und wird von Wilber
auch so gebraucht. Doch für Wilber ist das alles kein Problem, denn er
unterscheidet quasi nicht zwischen einem im geistigen Sinne angewandten
Universellen (oder Universalen) und einem im sozialen, notwendig-begrenzten
Sinne angewandten Allgemeinen. Und auf diese Weise entsteht ein theoretisches
Wirrwarr. Zu diesem Thema schreibt N. Berdjajew:
„Der fundamentale Irrtum ist die Vermischung des
Universalen mit dem Allgemeinen. Schon Aristoteles vermischt das Universale mit
dem Allgemeinen. Infolge dieser Vermischung nehmen die Universalien den
Charakter des das Individuelle dominierenden Seins an, entbehren jedoch der
konkreten Existenz. Das Universale ist durchaus nicht das Allgemeine, es ist
kein Produkt des abstrahierenden Denkens und steht keineswegs im Widerspruch
zum Individuellen. Man kann Universalismus und Individualismus als
philosophische Richtungen einander gegenüber stellen, nicht aber das Universale
und das Individuelle. Das konkrete Universale kann individuell und
Individualität sein. Das Individuelle kann das Universale einschließen. Das Allgemeine,
das Gattungsmäßige, unterdrückt das Individuelle und kann ihm keine
Unterstützung gewähren. Aber das Universale unterdrückt durchaus nicht das
Individuelle, sondern erhebt es im Gegenteil zur Fülle seines existentiellen
Gehalts. Das Allgemeine ist abstrakt und existiert nur im Denken, das zur
Selbstentfremdung tendiert. Das Universale ist konkret und liegt in der
Existenz selbst als das, was ihr qualitativen Wert und Fülle gibt. Gott ist das
höchste Universale und zugleich das konkret-Individuelle, Persönlichkeit. Gott
ist die einzige wahre und zulässige Hypostasierung des Universalen. Es ist
falsch, ein ideales Sein außerhalb der Geschöpfe anzunehmen und die Geschöpfe
diesem idealen Sein unterzuordnen“ (Berdjajew 27).
Daß nun Wilber auf Seite 60 bei der Kritisierung des
„Reduktionismus der Systemtheorie“ (interobjektiver Es-Bereich, funktionelles
Passen) plötzlich die Behauptung einer „persönliche[n] Integrität“ argumentativ
anwendet, zeigt, daß auch er spürt, daß gesellschaftliche Zwänge bzw. gesellschaftlich-allgemeinverbindliche
Funktionsforderungen die menschliche Freiheit und eben Integrität verneinen
oder zumindest empfindlich einschränken. Aber von seinem erweiterten Spektrum
des Bewußtseins her läßt sich die Bedeutung der persönlichen Integrität nicht
begründen, da dort persönliche Integrität (individueller Ich-Bereich) von der
Wertungsfähigkeit einer „intersubjektiven Vernetzung“ (Wilber zufolge: Ethik)
abhängig gemacht bzw. einer allgemeinverbindlichen Moral unterworfen wird. Er
versteht also letztlich die wahre Bedeutung einer persönlichen Integrität aus
seiner Theorie heraus überhaupt nicht und kann sie nur deshalb argumentativ für
seine Theorie ins Feld führen. Und da er die Bedeutung der „persönlichen
Integrität“ nicht versteht, kann auch er nur einen systemtheoretischen Ansatz
liefern, aus dem sich jede wahrhaft integrale Philosophie nahezu verabschiedet
hat. Darüber hilft auch kein Gedankenspiel über ein „absolutes Bewußtsein“
hinweg. Die kritischen Äußerungen Wilbers zu einem „ausufernden subtilen
Reduktionismus“ der Systemtheorie (S. 61) sind angebracht, aber er selbst
Vertritt einen systematischen Ansatz, welchem er einfach nur eine „absolute
Wahrheit“ überstülpt. Alles ist mit allem verbunden; mit dieser Feststellung
könnte man leben, wenn man erklärt, daß alles mit allem sowohl in einer indirekt
natürlich-notwendigen als auch in einer direkt
geistig-freiheitlichen Weise verbunden sein kann. Wilber differenziert und
unterscheidet nicht deutlich zwischen den natürlichen Verbindungen und einer
geistigen Verbundenheit. Wo ist in Wilbers System Freiheit, wenn in diesem alle
Bereiche systematisch-gleichwertig nebeneinander angeordnet und nur
in natürlicher (notwendiger) Weise miteinander „verknüpft“ sind? Systemtheorie
kann, entgegen Wilbers Ansicht, auch mit abstrakten normativen Werten bzw.
einer abstrakten Moral vereinbar sein; die Systemtheorie muß nur erklären, daß
die Normen dem scheinbar primären Gesamtsystem entspringen bzw. unterstellt
sind. So funktioniert zum Beispiel der Kapitalismus und die mit ihm
einhergehende Bürokratie. Auch heute bedeutet Kapitalismus Systemzwang. Die
vielgepriesene Freiheit der demokratischen Gesellschaftssysteme bzw.
„Grundordnungen“ ist eine Wunschvorstellung, Illusion und Augenwischerei, nicht
Realität. Ich frage mich allen Ernstes, welche Anerkennung wir irgendeinem
Systemansatz zollen können? Sind die systemtheoretischen Ansätze ursprünglich
wirklich noblen Absichten entsprungen, wie Wilber festzustellen pflegt (S. 62)?
Stellt die Systemtheorie nicht von Anfang an eine Überschätzung einseitig
rationaler Ordnungs- bzw. Vernunftprinzipien dar? Sobald der wahrhaft
ganzheitliche Anspruch verlorengeht, bin ich persönlich zu keinen
Zugeständnissen mehr bereit. Während die Systemtheorie sich selbst zum Zentrum
erhebt, erhebt Wilber die „absolute Wahrheit“ zu einer Art Gipfelzentrum seines
Bewußtseinssystems; der Unterschied zwischen beiden Ansätzen ist nur relativ,
nicht prinzipiell.
Und völlig abstrus wie Wilbers gesamtes
Bewußtseinsspektrum erscheint schließlich auch seine Kritik an einer
Verabsolutierung des Ich-Bereichs:
„In jüngster Zeit ist ein wahrer Hagel rein ästhetischer
Theorien der Wahrheit über uns hereingebrochen: Was man gerade schön findet, das
ist der letzte Prüfstein der Wahrheit. Alle objektiven, interobjektiven und
intersubjektiven Wahrheiten werden munter auf subjektive Neigungen reduziert
(alle Quadranten auf den oberen linken). Der persönliche Geschmack allein ist
der Richter der Wirklichkeit. Ich tue, was mir gefällt, und du tust, was dir
gefällt. ... Selbstverständlich muß das ästhetische Urteil (oben links) in
Wahrheit und Gerechtigkeit integriert werden, aber eine bloß ästhetische
Erkenntnistheorie ist schlicht sprachlos. Sie läßt nicht nur intersubjektive
Güte und Gerechtigkeit außer acht, sondern läßt auch keine objektiven Maßstäbe
jeglicher Wahrheit gelten“ (S. 63/64).
Wenn ich tun will, was mir gefällt, muß ich mir zuvor
darüber im klaren sein, was mir gefällt. Laut Wilbers Theorie kann mein
persönliches ästhetisches Urteil jedoch nur aus einer gemeinsamen,
„intersubjektiven“ bzw. äußerlich-kommunikativen Interpretation der
„objektiven“, „interobjektiven“ und „intersubjektiven“ Kriterien (Wahrheit und
Gerechtigkeit) hervorgehen; diese Kriterien bestimmen oder relativieren
zumindest primär mein persönlich-ästhetisches Urteil, denn „objektive“,
„interobjektive“ Wahrheiten und „intersubjektive“ Gerechtigkeit gehören laut
Wilber ursprünglich nicht zum Ich-Bereich, sondern in den Es- und äußeren
Wir-Bereich (siehe Seite 51). Es ist also eine Illusion, wenn ich meine, daß
ich irgendwann einmal unmittelbar selbst, primär aus mir heraus,
etwas empfinde oder gar entscheide - ich bin zunächst fremdbestimmt. „Objektive
Maßstäbe jeglicher Wahrheit“ stellen klar, daß Kriterien der Wahrheit vorrangig
unmenschlich sind. Genauso verhält es sich auch mit dem folgenden Satz von Jack
Engler, zitiert von Wilber:
„Man muß erst jemand sein, bevor man niemand sein kann“
(S. 70).
Dieser Satz ist in seiner Konsequenz ebenfalls
unmenschlich und areligiös. Der Mensch verschwindet hinter einer unpersönlichen
„Wahrheit“.
Wilbers Theorie ist ein großes Durcheinander und vor allem
eine zurechtgestutzte „Regenbogenkoalition“ (S. 65). Sie
widerspricht wahrhaft religiösen bzw. spirituellen Einsichten.
Nikolai Berdjajew zur Problematik des Leidens – zitiert
aus seinem Buch: „Von der Bestimmung des Menschen. Versuch einer paradoxalen
Ethik“.
Das folgende Zitat von Berdjajew stellt noch einmal die
tiefe Bedeutung des Leidens für den Menschen heraus. Ich möchte mit diesem
Zitat meine eigene bisher erfolgte Argumentation deutlich unterstreichen.
Nikolai Berdjajew zeigt sich uns unter anderem auch hier als ein
Existenzphilosoph im wahrsten Sinne des Wortes.
„5. Das Leiden. Die Askese. Die Liebe.
Die Beziehung des Christentums zum Leiden ist doppeldeutig
und paradoxal. Leiden ist Folge der Sünde und des Uebels. Zugleich aber ist
Leiden - Erlösung und hat einen positiven Wert. Das Christentum allein bejaht
das Leiden und hat Mut zum Leiden. Das Christentum lehrt uns Furchtlosigkeit
vor dem Leiden. Denn Gott selbst, der Sohn Gottes hat gelitten. Alle anderen
Lehren fürchten sich vor dem Leiden und fliehen vor ihm.
Stoizismus und Buddhismus - die hohen Typen der nichtchristlichen
sittlichen Lehren - haben Angst vor dem Leiden und weisen Wege, wie man dem
Leiden entgehen, ihm gegenüber unempfindsam werden, Leidenschaftslosigkeit
erreichen kann. Der Buddhismus anerkennt das Mitleid, leugnet aber die Liebe,
weil das Mitleid zum Wege der Befreiung von den Qualen des Daseins werden kann,
die Liebe aber das Sein, folglich auch das Leiden bejaht und die Trübsale in
dieser Welt mehrt. Der Buddhismus kennt eigentlich nur das physische, nicht das
sittliche Uebel. Anders kann es nicht sein für eine Lehre, die die Freiheit
verkennt. Das Uebel ist Schmerz, Leiden. Das Dasein ist auch Leiden und
Schmerz. Das Christentum hat den Mut, Leiden und Schmerz zu akzeptieren. Dem
Buddhismus fehlt dieser Mut, darum flieht er vor dem Leiden, entsagt dem
Dasein, rettet sich in das Nichtsein. Er weiss nicht, dass das Leben durch die
Bejahung des Leidens erträglich werden kann: er kennt nicht das Geheimnis des
Kreuzes. Der Buddhismus ist eine in seiner Art gewaltige Lehre von der Erlösung
von Leiden und Qualen ohne den Erlöser. Er verkündet die Erlösung durch das
Wissen: durch das Wissen der Wahrheit, dass das Sein - Leiden ist: letzten
Endes ist es eine Erlösung für Wenige, weil nur Wenige Wissende sind.
Konfuzius, Buddha, die Stoiker, alle Weisen der Welt haben
nach der Ruhe für den Menschen gesucht, nach der Befreiung von Qualen und
Leiden. Die Frage nach dem Leiden und der Erlösung vom Leiden stand immer im
Mittelpunkt der religiösen und philosophischen Ethik. In der westlichen
vorchristlichen Welt sind in dieser Hinsicht die Stoiker besonders interessant.
Der Stoizismus ist die Lehre von der Selbsterlösung des Menschen vom Leiden,
von der Erreichung der Ruhe, der „Apathie“. Die stoische Ethik zeugt von einer
intensiven sittlichen Anstrengung des Menschen; letzten Endes ist sie doch eine
pessimistische Verfallsethik, die den Sinn des Lebens verloren und sich der
Verzweiflung preisgegeben hatte, - eine Ethik der Angst vor den Leiden des
Lebens und des Todes. Die Empfindsamkeit gegenüber dem Leiden zu verlieren,
gleichgültig zu werden - darin liegt der einzige Ausweg. Der Stoizismus bekennt
sich äusserlich zu einer optimistischen Weltanschauung, er glaubt an die
Weltvernunft und will den Menschen mit ihr in Uebereinstimmung bringen, damit
der Mensch dadurch den Leiden entgehen kann; er scheint an die Gültigkeit der
natürlichen Weltordnung zu glauben. In seiner Weltanschauung ist aber ein
grosser Schmerz verborgen und die Ohnmacht, die Angst vor dieser Weltvernunft
und dieser natürlichen Ordnung zu verhüllen. Besonders bemerkenswert ist in
dieser Hinsicht das Buch von Mark Aurel, ein tief aufregendes menschliches
Dokument, das das innere Wesen des Stoizismus ans Licht bringt (Marc Aurel:
„Selbstbetrachtungen“). Der Optimismus der Stoiker ist ein künstliches
Erzeugnis. Buddhismus und Stoizismus, beide haben begriffen, dass das Leben -
Leiden ist; der Buddhismus hat es offen, der Stoizismus in einer verhüllten Art
zum Ausdruck gebracht.
Die Frage nach dem Sinn des Leidens ist die Hauptfrage der
Ethik. Sie ist auch das Hauptthema des Christentums. Das Leiden macht das
tiefste Wesen des Seins aus, ist Hauptgesetz jedes Lebens. Alles Lebendige
leidet und schmachtet. Der Pessimismus hat in diesem metaphysischen Sinne
recht. Jede optimistische Metaphysik ist flach und oberflächlich. Die Beziehung
zum Leben wird aber gar nicht durch die Beobachtung bestimmt, dass Leben -
Leiden und Schmerz ist. Pessimismus ist dennoch Lüge, weil er die Leiden des
Lebens fürchtet, dem Leben entsagt, vom Kampfplatz des Lebens flieht, Verrat am
Leben übt. Der Mensch kann wissen, dass Leben Leiden ist, und trotzdem das
Leben und seine Leiden bejahen, den Sinn des Leidens erfassen. Diesen Mut zum
Leben und Leiden hat aber nur das Christentum.
Es gibt zwei Arten des Leidens. Die eine Art
des Leidens ist verklärt, bringt Erlösung, führt dem Leben zu; die andere
Leidensart ist dunkel und höllisch, führt dem Tode zu. Das Leiden zum Leben -
und das Leiden zum Tod. Der Mensch vermag das Leiden verklärt und gnadevoll zu
erleben und kann durch erlittenes Leid zu neuem Leben auferstehen. Alle Leiden,
die auf den Menschen herabgesandt werden, - Tod seiner Nächsten, Krankheit,
Armut, Erniedrigungen und Enttäuschungen - können Verklärung, Erhebung und
Auferstehung herbeiführen. Zugleich aber auch können die Leiden den Menschen
endgültig zerschmettern, erbittern, seine Lebensenergie untergraben, das
Verständnis für den Sinn des Lebens zerstören. Nietzsche sagt, der Mensch leide
nicht so sehr unter dem Leiden selbst, als vielmehr unter der Sinnlosigkeit der
Leiden. Der Mensch vermag die grössten Leiden auf sich zu nehmen und zu
ertragen, wenn er nur den Sinn dieser Leiden erfassen kann; die Kräfte des
Menschen sind gewaltig. Das Christentum verleiht dem Leiden Sinn und macht es
erträglich. Durch das Geheimnis des Kreuzes verleiht es dem Leiden Sinn.
Der leidende Mensch erlebt ein doppeltes Leiden.
Einerseits leidet er unter den über ihn verhängten Prüfungen und
Schicksalsschlägen, unter Krankheiten, Not, Verrat, Einsamkeit, Enttäuschung in
seinen Mitmenschen usw., usw. Andrerseits leidet er aber unter der eigenen
Auflehnung und dem eigenen Aufstand gegen das Leiden; er leidet, weil er das
Leiden zu ertragen nicht willig ist und das Leiden verdammt. Dieses zweite
Leiden ist noch viel bitterer als das erste. Wenn der Mensch sich entschliesst,
die Leiden innerlich anzunehmen, wenn er den Sinn der über ihn gesandten Leiden
zu erfassen beginnt, so wird sein Leiden erträglicher, durch das neue
Bewusstsein wird es gemildert und verklärt. Das dunkle Leiden, das allerentsetzlichste,
ist eben das Leiden, das den Menschen innerlich erbittert und ihn zum Aufstand
und Kampf gegen sich aufbringt. Das Leiden, in dem der Mensch einen höheren
Sinn erblickt und das er innerlich bejaht, wird zum hellen, die Wiedergeburt
herbeiführenden Leiden. Darin besteht der Sinn des Kreuzes. „Nimm dein Kreuz
und folge mir nach.“ Das heisst aber: dulde dein Leiden willentlich, erfasse
seinen Sinn, ertrage es ungetrübten Gemütes. Ist dir gegeben, dein Kreuz zu
tragen, so trage es und vergleiche dein Kreuz mit dem des Anderen nicht.
Vor den Leiden zu fliehen, die Leiden meiden zu wollen -
ist die grösste Lebensillusion, ist Selbstbetrug. Die Leiden folgen uns nach,
ereilen die Allerglücklichsten von uns. Ein einziger Weg steht dem Menschen
offen: der Weg der Verklärung des Lebens und der Wiedergeburt, der Bejahung des
Leidens als Kreuz, das jeder von uns, Ihm, dem Gekreuzigten folgend, auf sich
zu nehmen und zu tragen hat. Darin liegt das tiefste Geheimnis des Christentums
und der christlichen Ethik. Das Leiden, dem Tode ähnlich, der letzten Prüfung
des Menschen, ist mit der Sünde und dem Uebel aufs engste verbunden. Zugleich
aber ist es auch Weg der Erlösung, der Verklärung und Auferstehung. So
gestaltet sich das christliche Paradoxon des Leidens, das man erfassen und bis
zu Ende erleben soll.
Das Leiden des Christen ist ein freiwilliges Aufsichnehmen
und Tragen des Kreuzes. Das gewalttätig aufgezwungene Leiden muss man in ein
freies verwandeln. Das Leiden ist zutiefst mit der Freiheit verbunden. Das
Leben ohne Leiden ist ein Leben ohne Freiheit. Das Streben nach dem Leben ohne
Leiden ist ein Streben nach dem Leben, aus dem die Freiheit entflohen ist.
Darum ist jede eudämonistische Ethik der Freiheit feindlich. Aus der Bejahung
des Leidens folgt eine andere Stellung zum Mitleid, die sich von der
buddhistischen wesentlich unterscheidet. Das Mitleid bedeutet im Buddhismus den
Wunsch, dem Leidenden zum Nichtsein zu verhelfen, die Ablehnung des Leidens
nicht nur für sich selbst, sondern auch für die Anderen. Im Christentum
bedeutet aber das Mitleid ein Streben, dem Leidenden zu einem verklärten und
erneuerten Leben zu verhelfen, die Bereitschaft, sein Leiden mit ihm zu teilen.
Mitleid kann Abwendung vom Leben, kann aber Bejahung des Lebens bedeuten. Das Leben
in dieser Welt ist Tragen des Kreuzes. Jeder muss aber nicht nur sein eigenes
Kreuz tragen, er muss auch das Kreuz seines Nächsten mittragen. Nicht Befreiung
von Leiden, - das Kreuz muss jeder Mensch für die Anderen erstreben; denn das
Tragen des Kreuzes ist Verklärung der Leiden und Schmerzen des Lebens. Das
humanistische Mitleid lebt von der Illusion, als könnte man die Menschen vom
Leid endgültig befreien und ihnen Glück geben; es lehnt Leiden ab und bemüht
sich, sie zu bekämpfen. Andererseits ist aber falsch, ungeheuerlich und
unmenschlich jene Auffassung des Christentums, die das Mitleid im Namen des
erlösenden Sinnes der Leiden, im Namen der Liebe zu Gott leugnet. Damit
berühren wir den Grundwiderspruch der christlichen Ethik, der Erlösungsethik.
Das Mitleid ist der allerunstreitbarste und absoluteste
Zustand des Menschen - ein Zustand, welcher der Macht dieser Welt den grössten
Widerstand leistet. Wenn also das Mitleid nur einen geringen Platz in der Ethik
des Gesetzes und der Norm findet, desto schlimmer für diese Ethik. Selig sind
die Barmherzigen, Gütigen, Mitleidsvollen. Das quälende Mitleid, das in uns
durch den Blick des leidenden Tieres hervorgerufen wird, ist ein göttlicher
Zustand des Menschen. Das Mitleid kann aber Quelle des Aufstandes und des
Kampfes gegen Gott werden. Aus Mitleid zur leidenden Kreatur vermag der Mensch
den Schöpfer zu leugnen. Der Atheismus dieser Art hat einen sehr tiefen und
erhabenen Ursprung. Ich habe bereits erwähnt, dass das Mitleid das Erleben der
Gottverlassenheit der Kreatur bedeutet. Dieses Gefühl der Gottverlassenheit,
das in sich eine grosse Wahrheit enthält, - denn Christus selbst hat die
Gottverlassenheit erlebt, - dieses Gefühl kann in den Aufstand gegen Gott
übergehen. Aus Mitleid zur leidenden und schmachtenden Kreatur kann der Mensch
sich gegen Gott, den Schöpfer, wenden und Ihn zu leugnen beginnen. Das ist das
Problem von Ivan Karamasow, von dem Dostojewskij dauernd gequält wurde. Mitleid
ist eines der allertranszendentesten, erschütterndsten menschlichen Erlebnisse.
Es kann den Menschen bis in seine letzten Tiefen erfassen, kann ihn zum Tode,
zur Leugnung Gottes, der Welt und des Menschen führen. Zugleich ist das Mitleid
- der stärkste Beweis der Zugehörigkeiit des Menschen zur anderen Welt. Mitleid
kann aber auch zu negativen Ergebnissen führen, wenn es sich mit der Freiheit
und der Würde des Menschen nicht in Uebereinstimmung befindet. Mein Mitleid zum
anderen Menschen kann zur Leugnung seiner Freiheit und menschlichen Würde
führen. Das Mitleid, einer der schönsten Zustände des Menschen, kann sich, wie
alles in dieser Welt, in den allernegativsten Zustand verwandeln, in die
Leugnung Gottes und des Menschen. Daraus entsteht die tiefste Paradoxie der
christlichen Ethik. Die Liebe zum Nächsten, die mit dem Mitleid unzertrennlich
verbunden ist, verlangt Milderung, ja völlige Aufhebung der Leiden. Zugleich
aber braucht der Mensch auch die Leiden für seine Erlösung, Verklärung und
Rettung. Man soll mitfühlen und mitleiden mit seinem Nächsten, man soll sich mühen,
seine Leiden zu stillen, zugleich aber auch soll man anerkennen, dass das
Leiden Folge der Sünde ist. Infolge dieser Paradoxie, die man meistens im Sinne
der Gesetzesethik zu lösen geneigt ist, erweisen sich die Christen immer wieder
als diejenigen, die am wenigsten Mitleid mit ihren Nächsten haben, die ihre
Nächsten fortwährend verurteilen, den Tröstern Hiobs ähnlich, die die Sünde
aufzudecken suchen, für die die Leiden über den Dulder verhängt wurden.
Diese Verdorrung der sittlichen Quellen des Lebens, diese
Erstarrung des Herzens finden wir öfters in der mönchisch-asketischen Haltung
gegenüber den Menschen und menschlichen Leiden. Asketismus ist eine gefährliche
und zweischneidige Sache. Er vermag das sog. natürliche, humane Mitleid mit den
Menschen zu zerstören, ohne dabei aber die gnadenreiche christliche Liebe
hervorzurufen. Der verdorrten Seele, die Liebe und Mitleid auf diese Weise
verloren hat, bleibt nichts als Groll gegen die Sünde und die Verurteilung der
Sünder. Die Sünder müssen leiden, so soll es auch sein; ihre Leiden gereichen
ihnen zum Heil - durch diese sittliche Sophistik rechtfertigt sich das
pharisäische und gesetzlerische Christentum. Das Wesen dieses „Sophismus“
besteht aber im folgenden. Als Christ muss man wünschen, dass sein Nächster und
jeder Mensch überhaupt sein Kreuz trage. Als Christ wünscht man für seinen
Nächsten das Kreuz. Bedeutet das aber, dass man ihm Steigerung seiner Leiden
wünscht und bereit ist, seine Leiden zu mehren? Keineswegs. Im Gegenteil: der
Wille zum Kreuz für seinen Nächsten bedeutet das Streben nach der Verklärung
und Milderung seiner Leiden, und die Bereitschaft, seinerseits alles dazu
beizutragen, dass seine Leiden leichter und heller werden.
Das Leben besteht aus Leiden und Prüfungen, ob man es will
oder nicht. Ein Christ darf aber nicht zur Quelle der Leiden für seinen
Nächsten werden. Die Christen, die ihrem Nächsten das grösste Mass von Leiden
wünschen und bereit sind, ihn für sein Heil an das Kreuz zu schlagen, werden
denjenigen ähnlich, die Christus selbst gekreuzigt haben. Auf dieser falschen
Auffassung der heilenden Rolle der Leiden hatte sich die Inquisition aufgebaut.
Man muss seinem Nächsten das Kreuztragen erleichtern, nicht aber ihn ans Kreuz
schlagen. Wenn man den Wunsch hegt, dass der Mensch sein Kreuz trage, so
bedeutet das keineswegs, dass man ihm ein schweres Kreuz aufbürden und ihn zum
Zwecke seiner Erlösung kreuzigen müsse. Das Annehmen des Kreuzes kann nur in
der Freiheit vollzogen werden und muss eine Erleichterung, nicht aber Bedrückung,
eine Verklärung, nicht aber ein Leiden in der Finsternis sein. Der falsche,
gesetzliche Asketismus kann Abscheu vor dem Guten erwecken. Er auferlegt den
Menschen untragbare Bürden. Die pseudo-christliche Beziehung zum Leiden wird in
die Ewigkeit projiziert und gewinnt die Gestalt der Höllenqualen. Diese
liebevollen ‚Christen’ begnügen sich mit den irdischen und vergänglichen Qualen
für die anderen nicht; sie brauchen noch ewige und himmlische Qualen. Die
einfache Humanität, die natürliche Menschlichkeit ist selbstverständlich viel
höher als dieses ‚Christentum’.
Der Mensch verringert und verklärt seine Leiden dadurch,
dass er sie frei, d. h. als Kreuz auffasst; er verringert und verklärt die
Leiden seiner Nächsten, wenn er an ihnen teilnimmt, Mitleid erlebt, sie auf
sich nimmt. Christlich wäre unsere Beziehung zu jedem Menschen, wenn wir sie im
Angesicht seines und unseres Todes bestimmen könnten, wenn wir uns zum Menschen
als zu einem Sterbenden verhalten würden. Ein Sterbender erweckt in uns ein
ganz besonderes Gefühl. Unsere Beziehung zu ihm wird sofort milder und edler.
Wir sind dann fähig, Mitleid mit einem Menschen zu erleben, den wir nicht lieb
hatten. Jeder Mensch ist aber ein Sterbender, wir alle sind sterbende Menschen
und müssen die Erinnerung an den Tod in uns wach halten.
Der ganze Sinn der Liebe zu den Feinden besteht in der
Ueberwindung der schlechten Unendlichkeit des Bösen; sie zerschneidet die Kette
des Bösen und führt die Menschen hinein in eine andere Region. Die Menschen
befinden sich in der Gewalt des Bösen und der sündigen Leidenschaften. Sie
suchen Hilfe beim Guten. Das Gute bleibt aber ohnmächtig. Christus allein
vermag uns von der Gewalt des Bösen und der bösen Leidenschaften - von der
schlechten Unendlichkeit, die uns alle zusammengekettet hat, - zu befreien. Die
gnadenreiche Liebe Christi allein ist Ausweg aus diesem verzauberten Kreis.
Luther hat recht, dass nicht die Werke über den Christen, sondern der Christ
über die Werke herrscht. Er hat auch recht, wenn er sagt, dass die Lehre von
der Erlösung und Rechtfertigung durch den Glauben den religiösen Utilitarismus
zu überwinden sucht. Recht hat auch Kierkegaard mit der Behauptung, dass
Christus nicht zur Vergangenheit gehört, sondern unser Zeitgenosse ist. Als
unser Zeitgenosse befreit uns Christus und ermöglicht das, was für das Gesetz
unmöglich ist. Das Leiden Christi wurde dadurch bestimmt, dass Er das Uebel und
die Sünde der ganzen Welt, der ganzen Menschheit auf sich genommen hat. Seine
Leiden waren unendlich grösser und heilbringender als unsere. Christus ist
durch die Gottverlassenheit durchgegangen, wie wir es auch getan haben. Die
Gottverlassenheit des Sohnes Gottes war aber tausendfach bitterer und
ungeheuerlicher als unsere. In ihr hat sich die Freiheit, die Freiheit des Menschen
und der Kreatur enthüllt und befestigt.
Der Mensch und seine Leiden stehen im Mittelpunkte der
Religion des Gottmenschentums. Dies ist das Hauptthema des russischen
religiösen Denkens, das innerhalb des christlichen Denkens als das humanste
gelten kann. Die russische Religiösität ist von der Religion der persönlichen
Erlösung und Vervollkommnung weit entfernt. Mit dieser Religion der
persönlichen Rettung, also auch der persönlichen Angst und des Schauders vor
dem Untergang, hängt die asketische Auffassung des Christentums zusammen. Vor
diesen Affekten erlöscht die Liebe. Das Evangelium, die apostolischen Schriften
enthalten keine Voraussetzungen für diese Auffassung des Christentums; sie
wurde in späteren Epochen erschaffen. Der falsche Asketismus, der Asketismus
als Ziel, nicht als Mittel, zerschlägt das Leben, erzeugt Aufstand in der
Sphäre des Unbewussten und Widersprüche im Bewusstsein. Letzten Endes
verwandelt sich dieser Asketismus in das Pharisäertum und Gesetzesgläubigkeit.
Die asketische Metaphysik erklärt die Liebe als unmöglich, sogar als
gefährlich, und kommt somit in Konflikt mit den tiefsten Quellen des
Christentums“ (Berdjajew 28).
Auf Seite 106 des hier besprochenen Buches „Das Wahre,
Schöne, Gute“ stellt Ken Wilber fest:
„Aber ich bin der Meinung,... daß eine genauere
Untersuchung der historischen Fakten nichts anderes ergeben kann als eine
kontinuierliche Evolution und Vertiefung des spirituellen Verständnisses von
der Achsenzeit bis in unsere moderne Zeit“ (S. 106).
Wilber spricht auf Seite 128 weiterhin von einer
„anthropozentrischen Arroganz“, die nicht akzeptieren will, daß wir ein
„wesentlicher Bestandteil [Hervorhebung von mir]
des einen und allumfassenden Evolutionsstroms, der selbst der GEIST-in-Aktion
ist...“, (S. 128)
sind. Auch ich bin der Ansicht, daß es eine kulturelle und
geistig-spirituelle Entwicklung in der Menschheitsgeschichte gegeben hat. In
diesem Teil möchte ich jedoch der Behauptung einer allgemeingültigen und
gesetzmäßigen evolutionären Entwicklung, die ausgehend von der Natur über den
Menschen und seine Kultur in einen „absoluten GEIST“ hinein mündet, vehement
widersprechen. Wenn Wilber auf Seite 114 sagt:
„Der Kosmos sollte also zwölf Milliarden Jahre lang in den
Wehen gelegen haben, wobei alles dem Prinzip der Evolution unterworfen war,
einem außergewöhnlichen und alles umfassenden Entwicklungsgesetz – und als der
Kosmos schließlich den Menschen gebar, sollte dieses Gesetz plötzlich nicht
gültig sein“ (S. 114) –
so sage ich: Ja, mit dem Menschen kommt die Evolution zu
ihrem Abschluß, und es beginnt der Mensch selbst, in und aus seiner göttlichen
Tiefe, den Schöpfungsprozeß fortzusetzen. Der Mensch schafft sich die
kulturelle Grundlage aus seiner sich fortwährend erweiternden geistigen Tiefe,
um sich letztlich ganzheitlich-persönlich und alles umfassend, mikrokosmisch
und gemeinschaftlich in der dialogischen, gottmenschlichen Wahrheit erfüllen
und offenbaren zu können. Doch der Weg, den die Menschheit zurückgelegt hat,
war kein gerader, kontinuierlicher. Der Weg war mehr oder weniger
gekennzeichnet sowohl durch Aufschwung als auch durch Niedergang, durch
geistige Stärke und Klarheit, aber auch durch geistige Schwäche, Verirrung und
Zersetzung. Die schöpferische Kraft des Menschen allein garantiert nicht die
Wahrheit. Die schöpferische Kraft muß im Leben ganz auf die Liebe, auf die
persönliche Liebe zum göttlichen Geschöpf, auf Gott selber gerichtet werden.
Und erst aus der persönlich-gemeinschaftlichen Liebe heraus wirken wir schöpferisch
die Wahrheit in diese Welt hinein. Erst aus der Liebe verändern wir wahrhaft
diese Welt, deren Sinn und Bedeutung wir ausschließlich innerlich
freiheitlich-geistig, d. h. liebend erfahren können. Durch die Liebe überwinden
wir fortwährend den permanenten Widerstand der gefallenen, der notwendigen Welt
gegen die existentielle Dynamik eines freiheitlich-geistigen Lebens. Jedoch
durch eine schöpferisch-einseitige Verausgabung bzw. ein Verschleudern unserer
Kräfte an eine ding- bzw. objektverhaftete Welt verwirken wir den Anspruch,
Menschen in der tiefsten Bedeutung des Wortes zu sein. Die Liebe, das Ereignis
göttlich-menschlicher Fülle, ist der ethische Imperativ jedweder
Wahrhaftigkeit. So gesehen war und ist die gottmenschliche Liebe und nicht die
Evolution die Grunddynamik der Geschichte der Menschheit, auch wenn sich diese
Geschichte oftmals alles andere als liebevoll gestaltete und gestaltet und dem
Menschen das Erstgeburtsrecht der Liebe erst allmählich bewußt zu werden begann
und beginnt. Nur in der Liebe können wir geistig den Tod überwinden. Der Tod
verweist uns auf das Ende von allem Vergänglichen. Mit dem Tod eines geliebten
Menschen werde ich als der Liebende selbst vom Tode erfaßt und muß den Tod
durchleiden, um wiederauferstehen zu können. Die Wiederauferstehung ist der
schöpferische Aufschwung, ist das Wiedererwachen der Liebe, das
schöpferisch-innerliche Wiedererwachen des Geliebten im Liebenden. Wir haben
keine andere Wahl, denn der Tod eines uns sehr nahen Menschen ist unakzeptabel
und im persönlichen Leben niemals gänzlich zu verwinden. Die Liebe ist die
lebendige Offenbarung des Ewigen in einem jeden von uns auf einzigartige und
unverwechselbare Weise. Durch die Vertiefung der Liebe erkennt der Mensch die
ewige Bedeutung des Todes in dieser Welt zur Wahrheit hin. Indem der Mensch dem
Tod schöpferisch-liebend widerspricht, nimmt er ihn vor allem deshalb
ganzheitlich an. Der Tod ist eine ewige Paradoxie der Liebe. Die Liebe
durchlichtet den Tod des Vergänglichen. Aber der Tod kann auch das Ende der
Liebe sein (hier ist der geistige Tod gemeint). Letztlich mahnt der Tod uns
Menschen, zu lieben, damit wir nicht dem Vergänglichen erliegen. Die Liebe ist
ein freiheitlich- bzw. schöpferisch-geistiger Akt der Persönlichkeit und bedarf
deren Hingabe und Anstrengung und Realisierung in einer Welt der Notwendigkeit,
d. h. der Vergänglichkeit und des Todes. Der Mensch der Urgeschichte war noch
zu sehr Naturmensch und besaß kein im genügenden Maße differenziertes Bild von
seiner natürlichen und menschlichen Umwelt, um seine Persönlichkeit wahrhaft
realisieren zu können. Die Liebe in ihm war noch schwach und flüchtig; und
genau aus diesem Grunde war die Urgeschichte eine Zeit relativer Stagnation und
magischen Verhaftetseins. Und überall, wo die Macht des Vergänglichen nicht überwunden
wurde, begann ein Prozeß der Zersetzung und Verwesung, und das meine ich vor
allem in geistiger Hinsicht. Der Mensch tritt allmählich, bis heute, aus der
Abhängigkeit von einem Evolutionsprozeß heraus, indem er sich von ihm wahrhaft
geistig-schaffend befreit. Dieser Weg ist nicht kontinuierlich und wird ständig
vom Tod in jederlei Hinsicht bedroht. Doch der endgültige Tod der Fäulnis und
Verderbtheit eröffnet uns den Weg zu neuem Leben – darin besteht die positive
Bedeutung des Todes.
Ken Wilber führt entsprechend seiner spekulativen Annahme
eines transpersonalen bzw. absoluten GEISTES die Vorstellung einer
geradlinig-abstrakten und allgemeingültigen Evolution in sein Denksystem ein.
Evolution vollzieht sich demnach in einer Welt, die in ihrer Gesamtheit auf
einen höchsten bzw. äußersten Kulminationspunkt unentwegt gesetzmäßig zusteuert
– auf die „absolute Wirklichkeit“, die ihrerseits „apophatisch –
unqualifizierbar, ohne eine Spur spezifischer und beschränkender Merkmale“ (S.
84) ist. Weiterhin schreibt er auf Seite 79:
„Alle bekannten Entwicklungs- und Evolutionsabläufe
vollziehen sich hierarchisch oder nach einer Stufenfolge zunehmender
Ganzheitlichkeit, beispielsweise von Molekülen über Zellen, Organe,
Organsysteme und Organismen bis zu Gesellschaften von Organismen. Bei der
kognitiven Entwicklung sehen wir, wie das Bewußtsein von einfachen Bildern
ausgeht, die jeweils ein Ding oder Ereignis repräsentieren, sich dann auf
Symbole und Begriffe als Stellvertreter ganzer Gruppen oder Klassen von Dingen
und Ereignissen ausdehnt und schließlich zu Regeln kommt, die etliche Klassen
und Gruppen zu Netzwerken ordnen und integrieren. Bei der moralischen
Entwicklung begegnet uns ein Denken, das vom einzelnen Subjekt auf eine Gruppe
oder einen Stamm verbundener Subjekte übergeht und schließlich, jenseits aller
einzelnen Elemente, zu einem ganzen Netzwerk von Gruppierungen gelangt. Und so
weiter.
Und weil, beispielsweise, zuerst Moleküle da sind und dann
Zellen und dann Organe und so weiter, bilden hierarchische Netzwerke sich
notwendigerweise in Stadien oder Stufen und nicht auf einen Schlag. Alles
Wachstum hat Stadien, und Stadien müssen im logischen wie im chronologischen
Sinne eine Stufenfolge haben. Die holistischeren Stadien bilden sich später,
weil sie das Auftauchen der Teile abwarten müssen, die sie dann integrieren und
vereinigen werden - wie auch ein ganzer Satz erst entstehen kann, wenn ganze
Wörter vorhanden sind“ (S. 79).
Die Evolution erfolgt laut Wilber hierarchisch und umfaßt
alle Bereiche (Ich, Wir, Es) hinauf zum „absoluten GEIST“. Wilber bezeichnet
auf Seite 76 die „Große Kette des Seins“ als den Kern der „Philosophia
perennis“, der „ewigen Philosophie“ und führt dazu auf Seite 77 aus:
„Die zentrale Behauptung der Philosophia perennis lautet, daß
der Mensch wachsen und sich über die ganze Hierarchie bis hin zum GEIST
entwickeln kann, wo er die ‚höchste Identität’ mit der Gottheit verwirklicht,
dem ens perfectissimum, dem alles Wachstum und alle Evolution
zustrebt“ (S. 77).
Es sei hier allerdings angemerkt, daß Wilber ein paar
Seiten weiter (S. 102) zu der widersprüchlichen Aussage kommt, daß „die höchste
Wirklichkeit oder der GEIST selbst“ den Kern der Philosophia perennis ausmacht;
aber entsprechend der Unqualifizierbarkeit des absoluten GEISTES ließen sich
von daher eigentlich keine Aussagen zum Kern der Philosophia perennis machen.
Für die Evolutionstheorie ist die Vorstellung von der
hierarchischen Ordnung der Welt wesentlich. Wilber sagt:
„Im Sinne der Philosophia perennis – aber auch der modernen
Psychologie, der Evolutionstheorie und der Systemtheorie – ist eine Hierarchie
einfach eine Gliederung von Sachverhalten nach ihrer holistischen
Kapazität. In jeder Entwicklungssequenz ist etwas, das zu einem
bestimmten Zeitpunkt ein Ganzes ist, auf der nächsten Stufe nur noch Teil eines
größeren Ganzen. ... Arthur Koestler prägte für etwas, das in einem
Zusammenhang ein Ganzes und in einem anderen zugleich ein Teil ist, den Begriff
‚Holon’“ (S. 78).
Wilber zufolge ist ein Holon ein Glied in der hierarchischen
Verkettung des Seins; das Holon ist sowohl ein (relatives) Ganzes (z. B. ein
Atom), bestehend aus verschiedenen Teilen (z.B. Elektron, Neutron, Proton), als
auch ein Teil eines größeren (relativen) Ganzen (z.B. ein Molekül). Die
Begriffe Hierarchie und Holon lassen sich auch unter den Begriff „Holarchie“
(S. 81) zusammenfassen, der verdeutlichen soll, daß die ganze Welt hierarchisch
miteinander verkettet ist und aus Holons besteht, die sowohl (relative)
„Ganzheiten“ als auch Teile darstellen. Die hierarchische bzw. holarchische
Rangordnung (S. 78) meint Wilber entsprechend der Theorie des „ganzen Spektrum
des Bewußtseins“ hinreichend andeuten und darstellen zu können.
Das Entscheidende an der hierarchischen Ordnung, laut
Wilber, ist der „Wertzuwachs“ (S. 80), d. h.:
„Das Ganze ist mit anderen Worten mehr als die Summe
seiner Teile... Hierarchie ist demnach einfach eine Rangordnung immer
umfassender werdender Holons und stellt eine Zunahme an Ganzheit und
Integrationskraft dar“ (S. 78). „Wie seit Hegel alle Entwicklungsdenker sagen,
ist jedes Stadium in sich selbst angemessen und wertvoll, aber jedes tiefere
oder höhere Stadium ist noch angemessener und in diesem Sinne wertvoller (und
das heißt immer ganzheitlicher oder weniger eingeschränkt in den
Reaktionsmöglichkeiten)“ (S. 80/81).
Und:
„Schließlich ist Hierarchie auch asymmetrisch, weil der
Prozeß nicht umkehrbar ist. So gibt es zum Beispiel erst Buchstaben, dann
Wörter, dann Sätze, dann Absätze, aber nicht umgekehrt. Dieses nicht
umgekehrt stellt eine unvermeidliche Hierarchie oder Rangordnung, eine
asymmetrische Aufeinanderfolge zunehmender Ganzheitlichkeit dar“ (S. 78/79).
In der Natur herrscht immer nur relative Ganzheit und
niemals Ganzheitlichkeit, aber darauf komme ich gleich zurück. Es stellt sich
die Frage, inwiefern „jedes tiefere oder höhere Stadium... noch angemessener
und in diesem Sinne wertvoller“ ist? Ken Wilber hat sich in dem hier
besprochenen Buch philosophisch eindeutig vom Menschen abgewendet und den
„absoluten GEIST“ zum Mittelpunkt seines Glaubens erhoben; der „absolute GEIST“
müßte demnach am angemessensten und wertvollsten sein, obwohl man das
hinsichtlich der Unqualifizierbarkeit des „GEISTES“ nicht bewerten kann. Alles
in dieser Welt ist „GEIST-in-Aktion“ und strebt zu einem eigenschaftslosen,
unerklärlichen Absoluten bzw. Ganzen hin. Alles in dieser Welt (einschließlich
der Mensch) ordnet sich hierarchisch bzw. holarchisch, nur
„Der absolute GEIST oder die absolute Wirklichkeit ist
nicht hierarchisch“ (S. 84).
Die Freiheit des Menschen existiert demnach erst dann,
wenn der Mensch sich selber und alles andere als das mit dem Absoluten völlig
Identische begreift, wahrnimmt oder wie auch immer. Die schöpferische Spannung
zwischen Freiheit und Notwendigkeit und vor allem zwischen Mensch und Gott
(Gott als unser wahrhaftiges Gewissen) fällt in sich zusammen und wird
genichtet. Die Behauptung eines „absoluten GEISTES“ kommt den Bedürfnissen der
fremdbestimmten Menschen entgegen, außerhalb bzw. ausschließlich über sich das
Kriterium der Wahrheit zu verlegen in einen menschenfernen transzendenten
Bereich, für den sie keine Verantwortung tragen. Der höchste Wert ist danach
nicht der ganzheitliche bzw. transzendentale Mensch, sondern ein abstrakter,
spekulativer „GEIST“.
Wilber verbindet mit dem Wort „Ganzheitlichkeit“ eine
naturalistische Vorstellung immer umfassender und komplexer organisierter
Verknüpfungen oder Vernetzungen, die plötzlich, nach einer letzten bzw.
höchsten integrativen Stufe, in ein Absolutes übergehen. Dieser Prozeß
gestaltet sich als ein Übergang von einer Subjekt-Objekt-Spaltung zu einem
„Spiel des nondualen Gewahrens, eines Gewahrens, das nicht Objekte betrachtet,
sondern vollständig eins mit allen Objekten ist...“ (S. 87). Ich sage: Die
letztlich absolute Identität von allem muß konsequenterweise vom Standpunkt
eines einseitig monistisch ausgerichteten Systems gefordert werden, um dieses
System rechtfertigen zu können. Aber das Objekt ist ausschließlich eine
individuell-naturalistische Kategorie der vergänglichen Welt. Objekte sind nur
in objektivierender Weise geistig erfahrbar. Und nur subjektiv erfährt der
Mensch die höchste Einheit mit einem subjektiv anderen als Zwei-Einheit (und
niemals als eine absolute Identität). Ich verweise in diesem Zusammenhang auf
den 5. Teil meiner Kritik. Wilbers Glauben an eine absolute Einheit
katapultiert ihn geradewegs in eine metaphysische Spekulation reinen
Nichtseins. Die Identität des „GEISTES“ mit jeglicher Manifestation ist ein
Irrglaube, ist eine spekulative Umdeutung intuitiv-innerlich, persönlich
wahrgenommener Ganzheitlichkeit und Ewigkeit und deren Projizierung in eine
objektivierte Welt. Was ist Ganzheitlichkeit? In der Welt der Objekte gibt es
nur relative Ganzheit, Ganzheit in naturalistischer Hinsicht, eine Ordnung mehr
oder weniger äußerlicher Vernetzungen und Verknüpfungen. Entsprechend der
Holon-Theorie ist ein Holon sowohl ein relatives Ganzes von untergeordneten
Teilen bzw. Holons als auch ein Teil eines übergeordneten relativen Ganzen bzw.
Holon, das wiederum ein Teil eines höheren relativen Ganzen ist usw. usf.
Dieser Zusammenhang setzt sich theoretisch endlos fort. Jedoch bereits in der
objektivierten Welt besitzt diese Theorie keine Allgemeingültigkeit, wie es
sich Wilber wünscht („weil so viele Aspekte der Philosophia perennis in der Tat
perennierend, das heißt allgemeingültig, sind, wo auch immer sie auftreten“,
Wilber , S. 90 – widersprüchlich und unklar dazu steht auf Seite 85:
„Hierarchie ist Täuschung“), denn das Universum zum Beispiel ist einerseits als
eine am weitesten ausgedehnte und größte Gesamtheit kein Teil mehr von etwas
übergeordneten Ganzen. Andererseits würde auch die Behauptung, das Universum
des zeitlich nächsten Augenblickes sei dem Universum des zeitlich
vorhergehenden Augenblickes übergeordnet, die Holon-Theorie nicht bestätigen,
da das vorhergehende Universum als solches nicht
wiederherstellbar ist bzw. nicht mehr existiert, wenn der nächste Augenblick
eintritt. Dagegen kann das Molekül wieder in seine Bestandteile zerlegt werden
trotz der unerbittlich fortschreitenden Zeit, die darüber hinaus in der Welt
der Objekte niemals wirklich als ein völlig erstarrter Augenblick existieren
kann. Der „zeitliche Augenblick“ ist in dieser Hinsicht eine rein geistige
Abstraktion. Und verschwindet die Zeit, dann verschwindet auch jegliches Objekt
bzw. objektivierte Ding. Schon wenn die Zeit in die Überlegungen zu einer
Holon-Theorie einbezogen wird, verliert diese Theorie ihre allgemeingültige
Anwendbarkeit bzw. gerät unweigerlich aus ihren Fugen, und es treten viele
unerklärliche „Dinge“ auf, die einen überzeitlichen und übergesetzlichen
Charakter tragen (Logos, Freiheit). Überhaupt muß darauf hingewiesen werden,
und dies unterläßt Wilber, daß die „Allgemeingültigkeit“ immer ein sozial-naturalistischer
Aspekt der endlichen Welt ist und kein universaler der Person.
Allgemeingültigkeit besitzt immer nur einen begrenzten, nicht durchgängigen,
rein sozial-pragmatischen Wert. Auch der „absolute GEIST“ kann demzufolge
nichts mit Allgemeingültigkeit zu tun haben, dieser „GEIST“ ist aber genauso
wenig durch universale bzw. überpersönlichen Werte (Liebe, Freiheit, Mitleid
usw.) charakterisierbar, da der „GEIST“, Wilbers Definition zufolge,
uncharakterisierbar bzw. unqualifizierbar ist wie das Nichts.
Im Zusammenhang mit dem Begriff „Universum“ muß ich jedoch
weitergehend auf Wilbers Buch „Eros, Kosmos, Logos“ (Wolfgang Krüger Verlag,
1996, S. 60) eingehen, in welchem Wilber das Problem der „Ganzheit“ eines
äußeren Universum umgeht, indem er es aus der hierarchischen Ordnung streicht,
weil es sich ansonsten seinem System widersetzen würde. Wilber bezeichnet das
Universum nicht mehr als eine letzte Ganzheit, sondern als die Gesamtheit („das
All“) aller Ganzen/Teile-Beziehung, auch wenn das in gewisser Weise eine
Überordnung impliziert. Wilbers in diesem Buch (Eros, Kosmos, Logos) vertretene
Behauptung einer endlosen Folge von Ganzen/Teile ist dennoch nur eine (fehler-
bzw. lügenhafte) Annahme rein logischen, systematischen Denkens und graue
Theorie, auch wenn er durch Wiedereinführung des Begriffs „Kósmos“ im Gegensatz
zum Begriff „Universum“ die Gesamtheit aller Bereiche (Physiosphäre, Biosphäre,
Noosphäre, Theosphäre) hervorhebt. Denn zwischen der Physiosphäre/Biosphäre und
der Noosphäre/Theosphäre besteht eine nur durch die einzig wahrhaftige Ganzheit
der gottmenschlichen Persönlichkeit zu überwindende Kluft. Doch für Wilber
bleibt die Person immer unvollständig und in sich gefangen. Man muß deutlich
sagen, daß die Einheit von Physiosphäre und Noosphäre außerhalb der Person
nicht gegeben ist oder vollzogen wird. Der Logos als unbewußt wirkender Sinn
überwindet die Notwendigkeit der kosmisch-natürlichen Welt nur zum Teil. Erst
durch die Ankunft und den schöpferische Aufschwung des ganzheitlichen, des in sich
Diesseits und Jenseits verbindenden Menschen (Ich, Du und Wir in Einem) findet
der Gott-Logos in der personal-dialogischen Zwei-Einheit seine Bestätigung,
Erfüllung und Bereicherung.
Die Frage nach der Ganzheitlichkeit bzw. auch Ganzheit
zielt vom anthropozentrischen Standpunkt aus auf eine völlig andersartige, von
der Natur und ihren kausalen Zusammenhängen zu unterscheidende, geistige
Dimension. Diesen Unterschied will Wilber entsprechend seiner metaphysischen
Identitätsphilosophie partout nicht gelten lassen. Er unterscheidet letztlich
nicht zwischen einer natürlich-äußerlichen bzw. gesetzmäßigen und einer
wahrhaft geistig-schöpferischen, d. h. gottmenschlichen Integration. Mit dem
Menschen endet die äußere hierarchische Ordnung und kann auf ihn nicht
übertragen werden. Dem Menschen ist es unmöglich, seine unmittelbare,
ursprüngliche Innerlichkeit hierarchisch bzw. gesetzmäßig nach und nach zu
organisieren, d. h. unmittelbar-innerlich hierarchische Abhängigkeiten zu
schaffen sowohl nach oben („Aufwärtskausalität“ – S. 79) als auch nach unten
(„Abwärtskausalität“ – S. 79/80). Der Mensch ist innerlich frei bzw.
schöpferisch in seiner Beziehung zu Gott (sofern er ihn nicht verdrängt), zu
den ausschließlich immanent wirkenden transzendenten,
überpersönlichen Werten. Das, was im Menschen hierarchisch organisiert ist,
rührt von der Natur her. Aber die Bestimmung des Menschen ist keine
natürlich-begrenzte, sondern eine geistig-unbegrenzte. Der Mensch wird zum
Menschen, weil er vor allem und in erster Linie ein geistiges, ein
gottmenschliches Wesen ist. Die hierarchische Ordnung ist eine
begrenzt-natürliche, eine Ordnung von äußerlichen Abhängigkeiten. Wären wir von
Gott in natürlicher Weise abhängig, wären wir nicht frei und Gott (der Sinn,
der sich als das wahrhafte Gewissen offenbart) bliebe uns fremd. Menschliche
Ganzheit ist geistige Ganzheit, ist Ganzheitlichkeit der Persönlichkeit, ist
das mehr oder weniger intensive Gefühl von Fülle im Verhältnis zum Grad der
Realisierung der Persönlichkeit. Diese real gefühlte Ganzheit
existiert nicht außerhalb der Person. Menschliche Ganzheit ist die erlebte
Einheit von Immanenz und Transzendenz, von männlichem und weiblichem Prinzip im
einzelnen Menschen. Die menschliche Ganzheit umfaßt des Menschen
körperlich-physische, seelisch-bewußte und geistige Seite
ganzheitlich-integrativ. Personale Integration ist kein natürliches, sondern
ein geistiges Ereignis; und niemals nehmen wir all unsere materiellen
Bestandteile, aus denen wir bestehen, als solche bewußt wahr. Bewußtsein ist an
die mikrokosmische Konzentration personaler Ganzheitlichkeit gebunden. Das
unmittelbare Ich wird als Seelenbewußtsein wahrgenommen und erfüllt sich
immanent-schöpferisch in Beziehung zu den überpersönlichen bzw. universalen
(nicht allgemeinen) Werten – zu Gott (oder es pervertiert und wird zersetzt in
Anlehnung und Abhängigkeit an eine ihm gegenüber feindselig gestimmte Macht.)
Die Seele ist nicht die „endgültige Grenze, der letzte ‚Knoten’ vor der
Erlangung der Erleuchtung oder höchsten Identität“ (Wilber, S. 87), d. h., die
lebendige Seele löst sich nicht in einem Absoluten auf, sondern sie entsteht
fortwährend aus dem Zusammenwirken des inneren, freiheitlich erlebten Sinns
(Gott) mit dem personalen Körper. Durch den schöpferischen Verbund mit Gott
wird die Seele (das Seelenbewußtsein) und mit ihr der Körper zur wahrhaften
Bestimmung vergeistigt. Zur Problematik der Einheit von Körper, Seele und Geist
äußerte N. Berdjajew folgende Gedanken, denen ich nur zustimmen kann:
„Die menschliche Gestalt ist der höchste Gipfel des
kosmischen Lebens, der Sieg über das Chaos. Die Geistigkeit stellt sich nicht
in Gegensatz zum Körperlichen und Materiellen, sondern führt es zur Verklärung;
sie erlaubt dem ganzen Menschen, zu seiner höchsten Qualität zu gelangen, seine
Persönlichkeit zu realisieren. Diese Realisierung hängt vom Sieg des Geistes
über das Chaos der seelischen und körperlichen Elemente ab. Der Geist ist das
männliche, aktive Prinzip, während die Seele das weibliche, passive Element
ist. Der Geist bezieht sich auf den Logos, die Seele auf den Kosmos. Der Geist
wirkt auf die Seele ein; er vermittelt ihr den Sinn, die Wahrheit; er gibt ihr
dadurch eine Form, befreit sie von den kosmischen Mächten. Man darf nicht
sagen, der Geist soll die Seele beherrschen, und noch viel weniger, er soll sie
eliminieren. Ein solcher Standpunkt ist offenkundig vertreten worden; man kann
jedoch nicht leugnen, daß er unmenschlich ist. Die Seele ist das Mark des
menschlichen Wesens, der Geist soll sich mit ihr vereinigen, ihr eine höhere
Qualität und einen Sinn verleihen. Im geistigen Leben ist das .seelische Leben
mit inbegriffen. Die Liebe z. B. nur geistig aufzufassen und ihre seelische
Seite außeracht zu lassen, heißt: die Liebe entstellen. Eine solche Liebe ist
ganz unpersönlich und unmenschlich. Sie widerspricht der gottmenschlichen
Auffassung der Liebe, die uns das Evangelium lehrt. So erhebt sich bei Plotin
nur das rein intellektuelle Element des Menschen zum Einen, ohne die Materie,
von der es sich auf rein mechanische Weise trennt, zu verklären. Das ist
Verneinung der Ganzheitlichkeit der Person“ (Berdjajew 29).
Erst durch seine mikrokosmische Einheit kann der Mensch
die ganze Welt schaffend in sich aufnehmen; die Welt wird im Menschen (und zum
Teil auch im bewußten Tier) innerlich fortwährend neu erschaffen und verschönt,
d. h. zur Wahrheit hin verändernd vergeistigt. Wo existiert gefühlte, erlebte
personale Ganzheit bzw. Ganzheitlichkeit in der Natur an sich? Die
ganzheitliche Dimension der Person ist an die bewußte Existenz gebunden. Das
Erscheinen personalen Bewußtseins ist etwas völlig Neuartiges in der Welt
überhaupt. Die Theorie von hierarchisch organisierten Holons als
Ganzes-Teil-Einheit wurde entwickelt, um Aussagen über die Welt der
Notwendigkeit, der Objekte machen zu können und beinhaltet nicht
bewußt-personale Ganzheit oder Ganzheitlichkeit. Diese Theorie ist nicht aus
der Luft gegriffen, sondern korrespondiert tatsächlich mit Strukturen einer
äußeren, objektivierten Welt. Aber wie ich schon in meinem 5. Teil klarzumachen
versuchte, ist eine Theorie immer nur eine Annäherung und keine originalgetreue
Abspiegelung einer sogenannten äußeren Wirklichkeit. Wir werden also niemals
mit letzter analytischer Gewißheit sagen können, wie es sich mit der äußeren
Welt ganz genau verhält. Überhaupt gibt es keine analytische Gewißheit weder zu
inneren noch zu äußeren Strukturen. Für die Person kann es immer nur
religiös-personale Gewißheit hinsichtlich der Intensität und Wahrhaftigkeit des
entsprechenden personalen und gemeinschaftlichen Lebensgefühls geben. Wenn
Wilber sagt:
„Hierarchie ist demnach einfach eine Rangordnung immer
umfassender werdender Holons und stellt eine Zunahme an Ganzheit und
Integrationskraft dar“ (S. 78),
so kann ich das nicht unwidersprochen stehen lassen. Denn
Ganzheit im hierarchisch-naturhaften Sinne kann immer nur relative und
eingeschränkte Ganzheit sein. Genauer betrachtet gibt es keine Ganzheit in der
natürlich-begrenzten, in der objektivierten Welt, und das gilt auch für den
Menschen als rein biologisches Wesen. Alles geht gesetzmäßig und
unbewußt und impersonal ineinander über. Und man muß auch deutlich sagen, daß
an einer vermehrten „Integrationskraft“ des höheren Holons die niederen Holons
immer mitbeteiligt sind, indem sie ihre naturhaft eingeschränkte
„Integrationsfähigkeit“ nach oben hin, als Voraussetzung für die hierarchische
bzw. holarchische Vernetzung, mit einbringen. Das heißt, das höhere Holon steht
in natürlich-gesetzmäßiger Abhängigkeit zu den unteren Ebenen und Stufen und
wird von diesen hierarchisch determiniert. Die weniger
eingeschränkten „Reaktionsmöglichkeiten“ (S. 81) höherer Holons sind also immer
nur relativ und stehen in proportionaler Abhängigkeit zu den
„Reaktionsmöglichkeiten“ der niederen Holons. Ganzheitlichkeit dagegen setzt nichtdeterminierte
personale Freiheit bzw. Unabhängigkeit voraus, die es in der nichtpersonalen
Natur nicht gibt. In diesem Sinne ist der Mensch als Person kein Holon. Auch
Tiere kann man nicht gänzlich in eine holistische Theorie einordnen, sobald sie
ein Mindestmaß an selbstbestimmter Freiheit besitzen. Die
Behauptung der Existenz einer allgemeingültigen Hierarchie, die die Person in
untergeordneter Weise einschließt, impliziert eine unschöpferische, starre
Vorstellung vom Leben. Ganzheitlichkeit und Hierarchie sind insofern zwei
inkommensurable Seinsweisen, da erstere sich nicht auf die letztere
zurückführen läßt und nur die letztere, als ein sekundärer natürlicher Aspekt
des Lebens, ganzheitlich von der Person integriert und fortwährend überwunden
werden kann.
Die Freiheit wirkt überall, auch in der unbelebten Natur –
dort jedoch vor allem als gefallene Freiheit, als Notwendigkeit. Inwieweit im
notwendigen Ablauf der Dinge der Sinn, der Logos, bereits angelegt ist und/oder
aus der Verborgenheit schöpferisch hindurchbricht, sei dahingestellt. Ich fühle
mich jedenfalls nicht dazu in der Lage, zu entscheiden, wie in einer einfachen
chemischen Reaktion der unbewußt wirkende Logos schöpferisch beteiligt ist. Auf
jeden Fall nehme ich an, daß der Logos die Evolution wesentlich beeinflußt und
auf eine menschliche Richtung orientiert. Das Erscheinen des Menschen auf der
Erde ist letztlich eine Folge der Verbindung von Freiheit (welche den Zufall
einschließt) und Logos – davon gehe ich aus. Der Kern des unbewußt wirkenden
Logos ist potentiell der Mensch. Der Logos offenbart sich im Menschen als Gott.
Wo auch immer wir gewillt sind, den evolutionären Sprung, das Emergieren völlig
neuartiger, nichtreduzierbarer Eigenschaften in der Evolution des Kosmos und/oder
der Natur, theoretisch anzusetzen, es ist das Wirken von Freiheit und Logos.
Wäre die Welt eine rein gesetzmäßige, hätte sich keinerlei Neuartigkeit im
evolutionären Prozeß aufgetan und es hätte nie einen Menschen gegeben.
Überhaupt ist eine rein gesetzmäßige Interpretation in sich nicht schlüssig. In
der Natur wird der Logos durch die hierarchisch organisierte Notwendigkeit,
durch die gefallene Freiheit eingeschränkt. Niemals konnte sich und wird sich
in der natürlichen Welt der Logos als Gott bewußt offenbaren können, weil es im
Kosmos und/oder in der Natur an sich keine personale Ganzheit, d. h. keine
personale Freiheit gibt. Erst durch die Ankunft des selbstbewußten Menschen
findet Gott letztlich die Freiheit seines Herzens; in Gott
wiederum findet der Mensch das Herz seiner Freiheit. Aber auch schon im
Tierreich ist ein göttliches Erwachen deutlich zu spüren, d. h. auch Tiere
können sich uns innerlich-aktiv zuwenden. Die wahrhaft tiefe
Beziehung eines Menschen zu einem bewußt-personalen Tier ist ein von
beiden Seiten ausgehendes persönliches und subjektiv-religiöses
Ereignis; solch eine Beziehung ist uns mit Pflanzen oder Mineralien nicht
möglich – ihnen fehlt die subjektiv-aktive Komponente. Zur unbewußten, relativ
passiven Natur können innerlich-aktiv nur wir Menschen in religiöse Beziehung
treten, indem wir letztlich ihre Schönheit in uns schöpferisch aufnehmen und
weiterführen.
Das „ganze Spektrum des Bewußtsein“ (siehe meinen 5. Teil)
wird von Wilber in hierarchischer Weise beschrieben (siehe obiges Zitat – Seite
79: „Alle bekannten Entwicklungs- und Evolutionsabläufe vollziehen sich
hierarchisch oder nach einer Stufenfolge zunehmender Ganzheitlichkeit...“).
Auch das personale Bewußtsein Wilberscher Art, nicht das absolute, wird in die
hierarchische Kette des Seins eingeordnet, um dem „integrativen“ System nicht
zuwiderzulaufen. Die Einteilung „kognitiver und moralischer“
Bewußtseinsentwicklung erfolgt demnach so:
„Ein kurzes Beispiel: Bei der kognitiven und moralischen
Entwicklung von Jungen und Mädchen ist das Stadium des im präoperationalen oder
präkonventionellen Denkens weitgehend durch den eigenen Blickwinkel des
Individuums bestimmt (‚Narzißmus’). Auf der folgenden, der operationalen oder
konventionellen Stufe bleibt zwar der eigene Blickwinkel bestehen, doch kommt
jetzt die Fähigkeit hinzu, auch die Perspektive anderer nachzuvollziehen.
Nichts ging verloren, vielmehr kam etwas hinzu. In dem Sinne kann diese neue
Stufe mit Recht höher oder tiefer genannt werden, nämlich wertvoller und
nützlicher für eine breitere Palette von Interaktionen. Konventionelles Denken
ist wertvoller als präkonventionelles, weil es ausgewogene moralische
Reaktionen ermöglicht (und postkonventionelles Denken bringt abermals einen
Wertzuwachs mit sich)“ (S. 80).
Zunächst einmal muß man hier kurz erklären, daß mit
präoperationalen und operationalen Stufen usw. Stufen der Rationalität gemeint
sind. Wilber sieht es hinsichtlich der Rationalität (Ratio -Verstand) so:
„Rationalität schafft einen tieferen Raum von
Möglichkeiten, in dem tiefere und ausgreifendere Gefühle fließen können – nicht
gefesselt durch mein isoliertes Mögen und Nichtmögen oder durch Konventionen
dessen, was offiziell als wirklich gelten kann“ (Wilber 30).
Diese Aussage stellt die Rationalität in den Vordergrund
(Habermas, von Wilber verehrt, auch). In diesem Sinne verhindert also eine
niedere rationale Stufe hierarchisch-deterministisch das Fließen tieferer
Gefühle. Dem muß ich widersprechen: Die wechselseitige und ganzheitliche
Beeinflussung von Gefühl und rationalem Verstand in der Person bildet erst die
Voraussetzung für die bewußte Wahrnehmung der Rationalität und deren Gebrauch
überhaupt. Rationalität ist ein Aspekt des personal-bewußten Gefühls, d. h. das
personal-bewußte Gefühl ist immer verbunden mit Rationalität (und wenn es nur
eine Spur ist), die sich als eine Form des Geistes ausschließlich in der
selbstbewußten Person ereignet und nicht irgendwo unabhängig existiert.
Das rationale, verstandesmäßige Moment unseres Selbstbewußtseins bietet die
Möglichkeit, aber nicht die Garantie, eines erkenntnismäßigen differenzierenden
und ordnenden Umgangs mit unseren inneren instinktiven und intuitiven Gefühlen
sowie mit der natürlich-notwendigen Welt. Die rationalen Prozesse wiederum
innerhalb der menschlichen Person z. B. werden jedoch durch deren Gefühle
natürlich-instinktiver (z. B. Sexualtrieb), aber vor allem geistig-intuitiver
Art ständig vorangetrieben. Das heißt, am wichtigsten und wahrhaft
maßgebend ist die gefühlte existentiell-ethische Grundintuition (Gott)
– durch den schöpferischen Verbund mit dieser Grundintuition kann der Mensch
seiner Ratio eine wahrhaftige Richtung geben. Die Richtung der Rationalität
bestimmt der Mensch im schöpferischen Dialog mit Gott oder in der
Überantwortung seiner geistigen Kräfte an eine verinnerlichte fremde äußere
Macht. Nach Wilbers Rationalitäts-Definition kommt man zu dem Schluß, daß man
erst nach Durchschreiten aller rationaler Stufen „im logischen und
chronologischen Sinne“ (S. 79) zu wahrhaft tiefen Gefühlen in der Lage ist.
Dazu sage ich: nein. Sobald das Kind die Persönlichkeit in sich realisiert, ist
es zu einem intensiven und bewußten Liebesgefühl fähig, auch wenn es dabei die
Tragweite der Liebe rational nicht vollständig ermessen kann. Das Liebesgefühl
kann im Verlaufe des Lebens, d. h. in der Auseinandersetzung mit der Welt und
vor allem mit Gott, bzw. im Wechselspiel mit einem sich ständig erweiternden
Selbstbewußtsein, an Intensität zunehmen und Tiefe gewinnen. Die Liebe der
Person ist geistig ursprünglicher als die Rationalität; Liebe geht der
Rationalität im ganzheitlich-spirituellen Sinne voran. Eine Chronologie von
prärational zu rational zu transrational und schließlich zu „GEIST“ ist eine
Erfindung systematischen Denkens. Durch die Liebe offenbart sich Gott
unmittelbar schon im Kind, auch wenn das Kind mit dem Wort „Gott“ noch nichts
anfangen kann. Auch Wilber hält eine spontane Offenbarung des „GEISTES“
(„vorübergehende Zustände“ S. 433 und 435) schon im Kindesalter
für möglich, aber die dauerhafte „vollständige Erlösung“ (S. 433
- „dauerhafte Strukturen“) ereignet siich, Wilber zufolge, erst auf der höchsten
transrationalen und transpersonalen Bewußtseinsstufe. Jedoch die wahrhafte
Liebe der Eltern zu ihrem Kind und die Liebe des Kindes zu seinen Eltern ist
eine wechselseitig persönliche Liebe von Persönlichkeiten. Das Kind wächst
wahrhaft authentisch in der liebenden Beziehung zu seinen Eltern, und die
liebenden Eltern nehmen die Liebe und Freiheit des Kindes in sich authentisch
weiterführend auf. Das ist meine persönliche Erfahrung, die ich schon als
kleines Kind gemacht habe. Diese Liebe bleibt mir immer gegenwärtig und
übertrug sich auf alles, was ich konkret liebend zu erfassen vermochte. Damit
will ich sagen, daß ich, soweit ich mich bewußt daran erinnern kann, mein Leben
lang und dauerhaft geliebt und Gott erfahren habe. Das heißt
nicht, daß es nicht immer wieder Momente in meinem Leben gab, in denen ich mich
ziemlich niedergeschlagen, d. h. gottverlassen fühlte, aber diese waren niemals
absolut. Die Intensität und Tiefe der Liebe kann im persönlichen Leben, im
Dialog mit dem konkret Geliebten, zunehmen, und davon ist die Richtung und der
Gebrauch der mit dem Selbstbewußtsein einhergehenden Rationalität abhängig.
Übrigens ist ein Kind im weitaus geringeren Maße, wenn überhaupt, narzißtisch
bestimmt (präoperationales Denken gleich Narzißmus – obiges Zitat S. 80).
Narzißmus setzt ein Mindestmaß an rationaler Objektivierungsfähigkeit voraus,
die im Kind noch nicht genügend ausgebildet ist. Narzißmus ist die
objektivierende „Liebe“ zu sich selbst als einem Objekt. Wahrhafte Liebe ist
ein subjektives Heraustreten aus sich selbst, ein Transzendieren, d. h., Liebe
ist ein freies Hinübergehen und vertikales Versenken in die unmittelbare Tiefe
bzw. Höhe eines subjektiv anderen, eines anderen Menschen und letztlich Gottes
zugleich. Narzißmus dagegen ist eine Krankheit, ein krankhaftes Verweilen an
der Oberfläche, der Verlust wahrhafter Liebesfähigkeit und Gemeinschaft, ein
Zustand gottloser Selbstzentrierung und ein in sich Gefangensein. Narzißmus ist
eine Krankheit insbesondere von erwachsenen Menschen, deren Liebe im Keime
erstickt wurde (aus welchen Gründen auch immer), deren Liebesintuition
versiegte, und die sich deshalb in ihren Beziehungen zur menschlichen Umwelt
und zur Welt überhaupt nahezu nur auf ein objektivierendes,
veräußerlichtes System ihrer umherirrenden Ratio verlassen können. Der
Narzißmus kann sich im Verlaufe eines Lebens zunehmend verfestigen. Kinder
stehen immer am Anfang und sind in diesem Sinne wahrhaft unverdorben. Ihre
Freiheit ist größtenteils noch nicht erstickt worden bzw. erstickt. Sie müssen
erst den Weg gehen, der heutzutage angesichts der isolierenden Individualismus-
und Veräußerlichungstendenz unserer Gesellschaft im zunehmenden Maße
beschwerlich und gefahrvoll ist. Es muß an dieser Stelle jedoch auch gesagt
werden, daß es einen absoluten Narzißmus niemals geben wird, denn zumindest im
verborgensten Winkel seines Wesens leidet der vom Narzißmus betroffene Mensch
immer an seiner Isolation, er leidet an der ihn umgebenden Sinnlosigkeit, d. h.
an der Abwesenheit Gottes. Im Leiden selbst liegt immer ein letzter fühlbarer
Funken der Anwesenheit Gottes in einer jeden Person verborgen.
Die Schwierigkeit, Wilber zu deuten, besteht vor allem auch
darin, daß er eine verschwommene Vorstellung von der Persönlichkeit hat und
dazu neigt, die Person in deterministischer Abhängigkeit von den verschiedenen
Rationalitätsstufen zu stellen. Wenn es bei Wilber darum geht, auf den
„absoluten GEIST“ Bezug zu nehmen, verwandelt sich die Person plötzlich in eine
rationale Bewußtseinsstufe, die sich quasi in die Transpersonalität hinein
auflöst. Geht es jedoch darum, Prozesse innerhalb einer personalen
Bewußtseinstufe zu beschreiben, muß auch er die Ganzheitlichkeit der Person
anerkennen – dies geschieht jedoch nicht durchgängig konsequent und meist nur
schemenhaft. Und da für Wilber Bewußtsein eine überall anwesende Angelegenheit
ist, muß es auch eine präpersonale oder prärationale oder - sagen wir - eine vorbewußte
Bewußtseinsstufe geben. Dies alles ist kennzeichnend für das Durcheinander bei
Wilber, welches nur durch die Anerkennung der Persönlichkeit als höchsten Wert
beseitigt werden kann. Doch dann wird sein System überhaupt hinfällig. Die
Ratio ist ein Aspekt des Bewußtseins der Persönlichkeit und kann von ihr nicht
getrennt werden. Wenn die Ratio sich zum Herrscher der Persönlichkeit erhebt,
wird letztere zersetzt und unser existenzdialektisch-dialogisches
Sinnverhältnis zu Gott verdrängt. Die Rationalität wird zur Gefahr, wenn wir
über sie das Leben berechnen und beherrschen wollen, ohne dabei auf unsere
innere und gemeinschaftlich-schöpferische Stimme als die wahrhaft maßgebende zu
achten. Wilbers „Philosophie“ vernichtet die Person und redet somit (eher
unbeabsichtigt) einem ethisch unterbelichteten rationalen Bewußtsein das Wort.
Bewußtsein ist personales Bewußtsein. Stufen des
Bewußtseins existieren lediglich korrespondierend mit einer phänomenalen,
objektivierten und in dieser Hinsicht hierarchischen Welt. Das personale
Bewußtsein, welches sich im Laufe eines menschlichen Lebens von einem mehr oder
weniger undifferenzierten zu einem mehr differenzierendem
freiheitlich-geistigen und in diesem Sinne schöpferischen Bewußtsein entfalten
und erweitern kann, erfährt die manifeste, die objektivierte Welt als
hierarchisch geordnet. Die Hierarchie der natürlich-dinghaften Welt muß vom
Menschen innerlich-bewußt nachvollzogen, d. h. neu erschaffen werden, damit der
Mensch in dieser Welt überhaupt verändernd und schöpferisch wirksam werden
kann. Wir übertragen das Prinzip der Hierarchie auch in unser
sozial-kulturelles Leben, was sinnvoll ist, solange dieses Prinzip nicht die
menschliche Persönlichkeit zu beherrschen und unterdrücken beginnt - vor allem
als verinnerlichtes fremdartiges und machtvolles Über-Ich und, darauf bezogen,
schlechtes Gewissen (z. B. als verinnerlichter Stellvertreter eines
despotischen Staates). Für Ken Wilber löst sich die Hierarchie erst im
„absoluten GEIST“, im absoluten Bewußtsein auf, der Mensch dagegen ist der
Hierarchie natürlicherweise ausgeliefert. Der „absolute GEIST“ bildet in diesem
Falle „die oberste Sprosse der Leiter der Evolution“ (S. 83) als Maßstab aller
Dinge. Anders verhält es sich, wenn man den transzendenten Geist (Gott) als
einen in der Persönlichkeit immanent-intuitiv wirkenden höchsten Wert begreift,
der schon im frühesten Kindesalter mit dem (Seelen-) Bewußtsein erscheint und
sich fortwährend primär stufenlos erweitert und vertieft. Nur die
stufenlose Erweiterung des Selbstbewußtseins garantiert dessen Homogenität, d.
h. die fortwährende Selbsterkenntnis und die durchgängig einheitliche
Selbstwahrnehmung des Menschen; hierbei spielt das Gedächtnis eine
außerordentliche Rolle. Mein lebendiges, mein dynamisches Gedächtnis ist einer
der herausragenden Grundpfeiler meiner personalen Identität (im Gegensatz zum
statischen Gedächtnis von totem Faktenwissen). Im wahrhaften Verhältnis
zu einer sie bedrängenden fremdartigen Welt der Objekte lernt die menschliche
Persönlichkeit auch die hierarchische Ordnung dieser vergänglichen Welt zu
verstehen. Und gerade auch im Widerstand gegen das Diktat der hierarchischen
Welt kann sich die Persönlichkeit, das Diktat überwindend, befreien bzw.
realisieren und den Sinn der zunächst auch fremdartigen Welt
erkennen, um sie schließlich liebend vergeistigen zu können. Und nur auf diese
Weise ist das zum Teil rationale, differenzierende Bewußtsein der
menschlichen Persönlichkeit eine unverzichtbare Stütze auf dem Weg zur
Wahrheit, die sich in der Liebe fortwährend offenbart.
Erst die bewußt-personale Existenz ist zu einer bewußt
wertenden und umwertenden und somit erkennenden
Haltung in der Lage. Das heißt, der „Wertzuwachs“ (S. 80) ist nur für das
selbstbewußte Subjekt von wahrnehmbarer Bedeutung. Dabei muß man deutlich
unterscheiden zwischen einer hierarchischen Einteilung, die sich primär-logisch
an Ordnungsprinzipien der Natur orientiert, und einer existentiellen Wertung,
deren primäre Grundlage die überpersönlichen Werte (Gott – Liebe, Freiheit,
Geist) bilden. Eine bewußte Wertung innerhalb der Natur, außerhalb des
selbstbewußten Subjekts, findet nicht statt. Nur der Logos-Sinn im Verbund mit
der Freiheit wirkt in der Natur unbewußt-wertend (aber nicht
erkennend) in Richtung seiner Selbstbewußtwerdung als Person – und zu
dieser Einsicht kann nur der personale Mensch kommen, wenn er die
Schöpfungsgeschichte in sich hineinnimmt und sie schöpferisch neu
(nach)vollzieht. Nur durch eine objektivierende Betrachtungsweise erkennen wir
hierarchische, d. h. logische und chronologische Stufen- bzw. Rangfolgen in der
Entwicklung des Universums. In existentiell-ethischer Hinsicht findet ein
völlig anderer, stufenloser, eine fortwährend transzendierender und umwertender
bzw. werteschaffender Erkenntnisprozeß statt. Niemals kann es jedoch eine
vollständige Trennung zwischen der primär existentiell-umwertenden und der
objektivierend-einteilenden Erkenntnis geben. Bewußte Erkenntnis obliegt der
Person und ist ganzheitlich. Das sich fortwährend erweiternde Bewußtsein der
Person ist letztlich primär-existentiell motiviert (Gott) und
wird primär-existentiell erlebt (Liebe), setzt aber ein Mindestmaß an
objektivierender Erkenntnisfähigkeit voraus, die wiederum ständig überschritten
werden muß zur innerlich-lebendigen Wahrheit hin. Erst durch die primäre
existentiell-ethische Grundintuition kann konkrete authentische Zuneigung
entstehen, kann die authentische Motivation entstehen, überhaupt in Beziehung
zu treten und auf Veränderung hinzuwirken, können wir Bedeutung und Sinn
unmittelbar-konkret und direkt wahrnehmen. Objektivierend erkennen wir nur
mittelbar und indirekt, und diese Erkenntnisweise bedarf grundlegend immer des
existentiell motivierten Willensmomentes und Wertens. Die Wertefrage stellt
sich unabhängig von der Person nicht. Wilber sagt:
„Wie seit Hegel alle Entwicklungsdenker sagen, ist jedes
Stadium in sich selbst angemessen und wertvoll, aber jedes tiefere oder höhere
Stadium ist noch angemessener und in diesem Sinne wertvoller (und das heißt
immer ganzheitlicher oder weniger eingeschränkt in den Reaktionsmöglichkeiten)“
(S. 80/81).
Ich sage: Angemessen ist einzig der Bezug zur Person (die
durch den Logos-Sinn potentiell vorhanden ist), außerhalb dieses Bezuges ist
nichts in der Welt angemessener. „Angemessenheit“ ist eine Kategorie, die nur
in bezug auf die Person angewendet sinnvoll ist. Die äußerlichen Beziehungen im
Kosmos und/oder in der Natur laufen absolut nichtwertend, d. h.
rein mechanisch ab, wobei auch hier der Logos-Sinn und die Freiheit immer
indirekt und im Hintergrund wirken, sofern daraus nichtdeduzierbare
Veränderungen auftreten. Die notwendigen und zugleich emotions- und bewußtlosen
Abläufe in der Natur machen auch keinen Bogen um den Menschen, nehmen keine
Rücksicht auf ihn und achten seinen Wert nicht. Aber der Mensch als subjektives
Wesen kann frei auf die Natur reagieren und sie schöpferisch wertend verändern.
Der Mensch erst kann die Natur sowohl geistig-liebend und sinngebend als auch
geistig-pervertierend und vernichtend beherrschen. Das konnte der Logos-Sinn
nicht. Der geistig-pervertierte Mensch liefert sich selber dem notwendigen
Prinzip der Natur, des Kosmos und der Evolution, dem gefallenen Aspekt der
Freiheit aus. Auch Wilber vertritt, indem er unter anderem den Menschen einem
„allumfassenden Evolutionsstrom“ (S. 128) unterordnet, einen durchgängig
geradlinigen und notwendig-utilitaristischen, d. h. einen objektivistischen
Standpunkt, auch wenn dieser Standpunkt grundsätzlich einer intuitiven Suche
nach Ganzheit entspringt. Im unmotivierten und eindimensionalen
„absoluten GEIST“ endet jedoch das Nützlichkeitsprinzip und nichtet den
Menschen zur Bedeutungslosigkeit. Nützlicher ist, Wilber zufolge, das, was als
ein höheres Holon im evolutionistischen Sinne näher an den „absoluten GEIST“
herangerückt ist. Der Wert des Menschen wird hierbei nicht ersichtlich, weil
durch diese Herangehensweise ein ganzheitliches Menschenbild (Gott)
systematisch zerstört wird und man letztlich nicht mehr weiß, was ein Mensch
eigentlich wahrhaftig ist. Wilbers Erläuterungen hinsichtlich der „kognitive(n)
und moralische(n) Entwicklung von Jungen und Mädchen“ (S. 80) halten sich
analog an die Vorgaben der Entwicklungsabläufe und –stufen, der hierarchischen
Ordnung in der Natur. Dadurch wird eine Art Evolutionismus vertreten. Die
Theorie über die natürlichen Vorgänge wird in das „ganze Spektrum des
Bewußtseins“ hineinprojiziert. Letztlich klafft zwischen dem Absoluten und
dieser Welt ein unüberwindbarer Abgrund – der Mensch kann den Abgrund
überspringen, wird aber sofort als Mensch genichtet, oder er verharrt als ein
kleiner armseliger Mensch in einer völlig sinnlosen Welt. Von einem „absoluten
GEIST“ aus verliert die nicht absolute Welt jeden Sinn; Wilber spürt
intuitiv-gefühlsmäßig, daß das nicht sein darf und muß seine Theorie deshalb zu
der reinen metaphysischen Spekulation ausweiten, daß der „GEIST“ „unparteiisch
gleichermaßen und vollständig in allen manifesten Dingen und Ereignissen
vorhanden“ (S. 83) ist. Doch diese anmaßende Aussage zielt im Höchstfall vage
auf das Nichts, auf die unergründliche Freiheit, d. h. den Ungrund, aber nicht
auf Gott, wie Wilber es denkt. Für ihn sind Gott und Gottheit eins, nachdem man
die Hölle durchschritten hat – „tertium non datur“ (S. 95) – „ein Drittes gibt
es nicht“. Das ist eine Leugnung der ethischen Grundintuition – Gottes selber.
„Tertium non datur“ – „ein Drittes gibt es nicht“. Ken
Wilber ist es in diesem Zusammenhang immer wieder wichtig, sich von der
romantischen Auffassung zu distanzieren, die ihm zufolge besagt, daß sich das
kindliche Selbst zunächst in einem paradiesischen Zustand, in einem unbewußten
Himmel bzw. einer unbewußten Einheit befindet. Wilber argumentiert wie folgt:
„Dies ist also in groben Zügen die romantische Sichtweise:
Man beginnt im unbewußten Himmel, einer unbewußten Einheit mit dem Göttlichen;
dann verliert man diese unbewußte Einheit und wird dadurch in die bewußte Hölle
gestoßen, aber man kann göttliche Einheit wiedererlangen, nur jetzt in einer
höheren und bewußten Weise“ (S. 95).
Wilber entgegnet:
„Das Problem bei dieser Sichtweise ist nur, daß der erste
Schritt, der Verlust der unbewußten Einheit mit dem Göttlichen, absolut
unmöglich ist. Alle Dinge sind eins mit dem Göttlichen Grund –
dieser ist schließlich der Urgrund allen Seins!“ ... Der wirkliche Zustand des
kindlichen Selbst ist also vielmehr derjenige der unbewußten Hölle“ (S. 95).
Und:
„Dies ist also der tatsächliche Gang der Ontogenese des
Menschen: Von der unbewußten Hölle über die bewußte Hölle zum bewußten Himmel. Zu
keinem Zeitpunkt verliert das Selbst seine Einheit mit dem Urgrund,
denn dann würde sofort auch seine Existenz enden“ (S. 97).
Wilber sagt also,
„daß der erste Schritt, der Verlust der unbewußten Einheit
mit dem Göttlichen, absolut unmöglich ist. Alle Dinge sind eins
mit dem Göttlichen Grund – dieser ist schließlich der Urgrund allen Seins!“ (S.
95)
Dieser Grundsatz läuft bei Wilber auf eine pantheistische
Identitätsphilosophie hinaus, die ihm entsprechend der Forderung seiner
„allgemeingültigen“ Evolutionstheorie scheinbar, aber eben nicht ganz
schlüssig, erlaubt, auf Seite 98 widersprüchlich hinzufügen zu können:
„Es gibt natürlich einen Abfall von der Gottheit, vom
GEIST, vom Urgrund... Diesen Abfall nennt man Involution, die
Bewegung, durch die alles aus dem Bewußtsein seiner Einheit mit dem
Göttlichen herausfällt [Hervorhebung von mir] ... Wenn eine solche
Involution geschehen ist..., kann Evolution eintreten: Der GEIST
entfaltet sich in einem großartigen Spektrum des Bewußtseins, vom
Urknall über Materie, Empfindung, Wahrnehmung, Impuls, Bild, Symbol, Begriff,
Verstand, die Psyche und das Feinstoffliche bis zum Kausalen, bis er
schließlich zu seiner schockierenden Selbsterkenntnis gelangt, seiner
Selbstverwirklichung und Selbstauferstehung“ (S. 98).
Der „GEIST“ befand sich, Wilber zufolge, vor dem Urknall,
d. h. im unergründlichen Nichts, in vollkommen bewußter Einheit mit sich
selbst. Worin besteht nun eigentlich der Unterschied zwischen dieser
ursprünglich bewußten Einheit und dem „bewußten Himmel“ (S. 97)? Dieser
Unterschied kann nur insofern bestehen, daß nun der Mensch an der ursprünglich
bewußten Einheit teilnehmen kann bzw. in diese bewußt eingeht. Es ist die
„Rückkehr des GEISTES zu sich selbst“ (S. 99), nachdem bis zu „IHM“ eine geradlinige
Entwicklung durchlaufen wurde. Doch die Gründe für eine Involution wird
letztlich nie ein Mensch ermessen können. Im unergründlichen Nichts, in der
unergründlichen Freiheit (Ungrund) an sich liegt die absolute Grenze jeder
Erkenntnis. Wir können immer die grundsätzlich dreidimensionale Fülle
(Ich, Du, Wir) des Nichts erfahren, aber niemals das Nichts an sich ergründen.
Wir können aus der Fülle heraus über das Nichts spekulieren, aber es nie direkt
erfahren. In der Fülle liegt die differenzierte Wahrheit des Nichts. Dagegen
gibt es keine undifferenzierte Wahrheit des Nichts. Aus diesen Gründen kann die
Wahrheit niemals Rückkehr sein, Wahrheit ist aber auch keine kausale und
chronologische Folge eines geradlinigen evolutionistischen Aufstieges, Wahrheit
ist keine Folge, die das Prinzip der Person überwunden hat. Das Aufleuchten der
Liebe ist personal-ganzheitliche Wahrheit, deren fortwährend erneuertes
Entstehen sich nicht aus den objektivierten Zusammenhängen heraus erklären
läßt, da sich die Liebe als ein rein subjektiv-gemeinschaftliches Ereignis
vollzieht, das keiner Gesetzmäßigkeit oder Allgemeingültigkeit unterworfen ist.
Denn Liebe ist die wahrhaftige Freiheit, ist die Urrealität der Person. Liebe
ist lebendige Ganzheit (nicht absolute Identität oder nonduale Einheit), sobald
die Person erwacht ist. Liebe vergeht augenblicklich, wollen wir sie
notwendigen Bedingungen anpassen - das wollen die Menschen immer wieder nicht
wahrhaben. Mit dem Symbol „bewußter Himmel“ läuft man Gefahr, diesen mit leidensverneinender
Glückseligkeit und reiner, unschöpferischer Erlösung zu assoziieren, die
wiederum die wahrhafte Suche, die es für Wilber nicht gibt, aufgegeben bzw.
verdrängt hat (siehe auch S. 100). Doch die Wahrheit ist auch ein Leidensprozeß
und geht über ein Erlösungsverhalten hinaus. Wahrheit ist ein außerordentlich
umfassendes und nicht austauschbares geistiges Wortsymbol. Wahrheit läßt sich
als Liebe, verbunden mit all den Aspekten, die mit der Liebe zusammenhängen,
qualifizieren. Liebe, Freiheit, Ganzheit, Fülle, Leid, Wahrheit usw. sind
wesentlich mystische und dynamische Wörter, die wir in unserer authentischen
Beziehung zu Gott wahrhaft schöpferisch verinnerlichen können. Der Mensch ist
auch lebendige Sprache in ihrer Vielfalt und Unermeßlichkeit. All die
Spekulationen, die Wilber entsprechend seiner evolutionistischen und absoluten
Sicht anstellt, führen in die Irre. Nicht einmal er selbst kann deutlich
zwischen Urgrund und „GEIST“ unterscheiden, will es hinsichtlich einer
unqualifizierbaren, sogenannten „absoluten Einheit“ auch nicht, muß es aber, um
den Prozeß der Evolution nicht einer absoluten Sinnlosigkeit preiszugeben. Auch
Wilber behauptet immer wieder, daß sein „GEIST“ ein höheres, nicht mit den
natürlichen Prozessen zu identifizierendes Absolutes darstellt, doch dies läßt
sich, ihm zufolge, nur erfahren und nicht begründen. Er kann Gott als
innermenschlich-ethische Grundintuition nicht zulassen – für ihn gilt: „tertium
non datur“ (S. 95) – „ein Drittes gibt es nicht“. Wilber hat Recht, wenn er
sagt, daß es keine unbewußte Einheit mit dem Göttlichen gibt, aber er hat
Unrecht, wenn er (sinngemäß von mir wiederholt) sagt, daß es eine bewußte
Einheit mit dem Nichts bzw. der „Leere“ gibt. Diese Einheit kann man immer
wieder behaupten, eine wahrhaftige Philosophie ergibt sich aus diesem Ansatz
nicht. Es läßt sich nicht einmal sagen, daß wir eins sind mit dem Nichts
(„Urgrund“), denn mit dem Unergründlichen lösen sich alle differenzierenden
Kategorien auf. Das Nichts an sich ist ein nichterschließbares Mysterium. Es
trägt keine Bedeutung in sich, sondern nur unergründliche Potenz, es ist
dennoch und gerade deshalb paradoxerweise für alle personalen Wesen von
unermeßlicher existentieller Bedeutung. Ebensowenig Recht hat Wilber, von einer
„unbewußten Hölle“ zu sprechen als dem Zustand des kindlichen Selbst. Die Hölle
ist wesentlich ein irrationaler Zustand des Bewußtseins und - im genaueren
Sinne - ein Gefangensein in sich selbst – alles dreht sich um einen selbst. Der
ausgesprochene Egozentriker befindet sich in der Hölle, die er nur bewußt
erleben kann, die unbewußt nicht existiert. Das Wortsymbol „Hölle“ auf einen
unbewußten Zustand zu übertragen, ist völlig abwegig. Darüber hinaus sind es
gerade die Kinder, die in ihrem Erleben und ihrer Hingabe noch frei sein können
im Gegensatz zu den gehorsam funktionierenden Erwachsenen, deren Lebensfreude
und innere Freiheit oftmals kaum noch zu spüren ist – erdrückt von den Sorgen
der alltäglichen Last. Es sind immer wieder die erwachsenen rollenverhafteten
Menschen, die die Kinder die Hölle lehren und nicht umgekehrt. Die Hölle
beginnt immer dort, wo das Unpersönliche und lügenhaft Notwendige Macht über
den Menschen gewinnt und dessen Persönlichkeit zerstört, so daß er den
liebenden Bezug zu sich selbst, zum anderen und insbesondere zu Gott verliert.
Wilber sagt also:
„Auf jeder Stufe dieses Prozesses der Rückkehr des GEISTES
zu sich selbst erinnern wir uns..., daß wir einst bewußt eins mit diesem
Göttlichen selbst waren“ (S. 99).
Ich sage dagegen: Wir erinnern uns an das, was noch nie
dagewesen ist, – das ist das Paradoxon der Ewigkeit.
Zweifellos findet sowohl eine geistige Entwicklung im
Menschen als auch eine kulturelle Entwicklung in der Gesellschaft statt. Für
Wilber vollziehen sich diese Entwicklungen in Stufen. Dabei orientiert er sich
an Maßgaben, die grundsätzlich einer objektivierenden Betrachtung
natürlich-gesetzmäßiger Abläufe entsprungen sind. Durch Evolution entfaltet
sich der „GEIST“ hierarchisch über die verschiedenen Stufen seiner eigenen Manifestationen
und kehrt schließlich zu sich selbst zurück. Auch im Menschen und in seiner
Kultur entfaltet sich, Wilber zufolge, die Evolution bis hinauf zum nondualen
Einen, mit dem die Hierarchie endet –
„Hierarchie... ist die Leiter, die wir erst wegwerfen
dürfen, nachdem sie ihren großartigen Zweck erfüllt hat“ (S. 85).
Der Mensch und die Kultur befinden sich in einer ständig
fortschreitenden Entwicklung. Diese Aussage findet laut Wilber eben auch am
Beispiel der Kultur und des menschlichen Geistes seine explizite Bestätigung.
Daß Ken Wilber jedoch seinen evolutionären Theorieansatz nicht konsequent zu
Ende führt, kann vor allem durch die folgende Aussage verdeutlicht werden:
„... ist die neue Philosophia perennis unseren heutigen
Bedürfnissen und Vorstellungen und den Fortschritten in der Wissenschaft viel
besser angepaßt“ (S. 109).
In der Tat läßt sich denken, daß eine „ältere“ Philosophia
perennis immer bestmöglich an die jeweilig älteren kulturell-geistigen
Bedingungen angepaßt war, wie die „neuere“ unserer heutigen Zeit an die
herrschenden kulturell-geistigen Bedingungen bestmöglich angepaßt ist, bzw. die
„alte Wahrheit“ war entsprechend einer früheren Entwicklungsstufe dieser am
„angemessensten“ angepaßt, so wie die „neuere Wahrheit“ unserer gegenwärtigen
Entwicklungsstufe am „angemessensten“ angepaßt ist. Aber entscheidender ist,
daß sich Wilber entsprechend seiner Theorie einer „kontinuierliche(n)
Evolution“ (S. 106) dahingehend korrigieren müßte, daß eine „absolute Wahrheit“
(als Kern der Philosophia perennis) nicht ihren Formen angepaßt werden kann,
sondern daß die Formen sich der „absoluten Wahrheit“ hierarchisch, in logischer
und chronologischer Rang- und Reihenfolge, anpassen müssen. Doch diese letztere
Feststellung wiederum widerspricht der Behauptung einer allumfassenden
absoluten Identität: Wilber sagt,
„daß die formlose oder ALTE WAHRHEIT in der vollkommenen
Einheit und Identität mit der ganzen manifesten Welt besteht“ (S.
110),
und
„... dann gibt es nur noch das Spiel des nondualen
Gewahrens, eines Gewahrens, das nicht Objekte betrachtet, sondern vollständig
eins [Hervorhebung von mir] mit allen Objekten ist“ (S. 87).
Mit der Behauptung einer Identität von „GEIST“ und Form
läuft man Gefahr, beide Aspekte nicht mehr auseinanderhalten zu können und sich
bei der Erklärung einer „allumfassende(n) Evolution“ in Widersprüche zu
verwickeln (wie es durch die oben zitierte Aussage, S. 109, geschehen ist). Die
Behauptung einer absoluten Identität (Form-ist-Leere und Leere-ist-Form) wird
jedoch vor allem dann problematisch, wenn es darum geht, zu „beweisen“, daß die
sogenannte manifeste Welt zu einem Absoluten evolviert. Die manifeste Welt (der
Mensch eingeschlossen), so sagt Wilber, ist ein
„wesentlicher Bestandteil des einen und allumfassenden
Evolutionsstroms, der selbst der GEIST-in-Aktion ist... Es ist eine Evolution,
die mit jedem neuen Quantensprung stirbt und neu geboren wird, die oft stolpert
und sich schmerzliche Wunden zuzieht, aber sich immer wieder aufrafft und einen
neuen Sprung wagt“ (S. 128).
Das Absolute ist sowohl der „GEIST“ als auch gleichermaßen
identisch der „GEIST-in-Aktion“, denn es heißt:
„Wir sind uns sicher einig, daß die formlose oder ALTE
WAHRHEIT in der vollkommenen Einheit und Identität mit der ganzen
manifesten Welt besteht – und in unserer heutigen manifesten Welt gibt es nun
einmal Computer, globale Politik, den Gedanken der Evolution, Moleküldesign,
Mensch-Maschine-Schnittstellen, die rasanten Fortschritte der Medizin usw.“ (S.
110).
In diesem letzten Zitat zeigt sich auch, daß es für Wilber
wichtig ist, mit Beispielen anzudeuten, das Evolution und Identität mit einem
allgemeinen Fortschritt einhergehen. Fortschritt bedeutet für Wilber gleich
besser und angemessener in Bezug zum „absoluten GEIST“. In dieser Hinsicht
könnte man die Frage, die Wilber in den Raum stellt:
„Hat der Computer Buddha-Natur?“ (S. 109),
wenn mit der Buddha-Natur eine völlig gleichgültige und
gefühlslose „absolute Wahrheit“ gemeint ist, mit „Ja“ beantworten! Damit nun alles
zum „absoluten GEIST“ evolviert, bedarf es einer Beziehung zwischen jenem
Absoluten und der manifesten Welt. Einerseits zeichnet sich diese, Wilber
zufolge, durch eine umfassende Identität von allem aus. Das Problem dabei ist
nur: Wenn alles schon „GEIST“ wäre, könnte kein evolutionärer Prozeß mehr
stattfinden: Alles, was ist, wäre in Ordnung, wie es ist. Aber so ganz
identisch ist alles dann doch wieder nicht, denn Veränderung und Entwicklung
setzt immer Widersprüche, Unterschiede und Andersartigkeit voraus. Eine
widerspruchsvolle, paradoxe Welt und insbesondere eine Welt wahrhaft geistiger
Bewegung hält Wilber letztlich jedoch für eine Täuschung, daraus ergibt sich,
daß alles schon vorhanden sein muß und nichts wirklich Neues hinzukommt. Ich
möchte hier wieder einmal auf Wilbers Buch „Eros, Kosmos, Logos“ zurückgreifen.
Dort bezieht er sogenannte Attraktoren in seine Überlegungen ein, die die
Richtung der Evolution im Universum bestimmen sollen. Wilber denkt damit der
Sackgasse, die sich aus einer metaphysischen Identitätsphilosophie ergibt,
entkommen zu sein; doch den Widerspruch zur Identitätsphilosophie räumt er an
keiner Stelle wirklich aus. Es wirkt schon erstaunlich, wenn er sagt:
„Und ein äußerster Omega-Punkt? Der würde ein endgültiges
Ganzes voraussetzen, und solch ein Holon gibt es nirgendwo im Reich des
manifestierten Seins. Aber vielleicht läßt sich das auch anders betrachten.
Vielleicht bewegt Telos, vielleicht Eros den gesamten Kósmos, und wer weiß,
vielleicht ist Gott sogar ein allesumfangender chaotischer Attraktor, der, wie
Whitehead sagte, als sanfte Überredung zur Liebe in allem wirkt“ (Wilber 31).
Hier läßt Wilber den Gedanken zu, daß es ja auch die Liebe
sein könnte, die uns als ein ursprünglich höchster Wert erst wahrhaft
motivieren kann. Liebe (die potentiell im Logos-Sinn angelegt ist) als
dialogischer, gottmenschlicher und von daher wahrhaft ethischer Attraktor,
Liebe als die lebendige Wahrheit der Zwei-Einheit, dies herauszustellen, das
ist mein Anliegen. Doch wenn Wilber von Liebe spricht, ergeht er sich in
abstrakte Spekulationen über ein scheinbar absolutes und bewußtes Nichts, über
ein reines strahlendes Bewußtsein. Liebe als Wahrheit ist für ihn letztlich ein
gefühlsloses bzw. eigenschaftsloses Gewahren scheinbar absoluter Einheit.
Existentiell-gefühlvolle Liebe zweier Menschen zueinander, die mit der
Erfahrung von Leid und Freude verbunden ist, hält Wilber immer nur für einen
zeitweilig-begrenzten Zustand, der vergeht wie alles Manifeste und sich vor
allem durch relative Getrenntheit auszeichnet. Innerlich-lebendige Ganzheit,
die einzig mögliche existierende Ganzheit, die nur von der liebenden
Persönlichkeit wahrgenommen werden kann, ist für Wilber offensichtlich ein
Mysterium, dessen Tragweite und Tiefe er philosophisch nicht auszuloten vermag,
da er entweder durch seine Identitätsphilosophie oder durch Spekulationen über
einen abstrakten Attraktor gefesselt wird.
Auf die Liebe als einen freien, als einen über- bzw.
außerhierarchischen und höchsten Attraktor (anstelle eines „absoluten GEISTES“)
kann eine allgemeingültig-gesetzmäßige Evolution nicht übertragen werden. Der
Mensch ist vom Wesen her für die Liebe bestimmt, er ist das liebesfähige Wesen
par excellence. Seine Bestimmung muß er in diese Welt hineinwirken, um sich selbst
als liebendes Wesen wahrnehmen zu können und zu verwirklichen. Durch den Akt
der Liebe ist der Mensch zu einem freien und wahrhaft verändernden Schaffen
berufen, das wesentlich ein inneres Ereignis ist. Im Akt der Liebe offenbart
sich das reine authentische Gewissen. Der liebende Mensch ist in seinem
wahrhaften Schaffen gottmenschlich, d. h. wahrhaft ethisch motiviert und kann
von hieraus die Welt dynamisch-frei (nicht statisch-gesetzmäßig) nach seinen
ethisch-transzendenten Grundprinzipien verändern, die in ihm fortwährend,
immanent-schöpferisch, zum ewigen Leben der Persönlichkeit im
zeitlos-geistigen Sinne erweckt werden. Gott wirkt im Menschen und der Mensch
wirkt in Gott bereichernd – Gott wird wahrhaft-menschlich frei und findet den
liebenden Zugang zur Welt - der Mensch wird wahrhaft-göttlich schön, indem er
sich liebend in dieser Welt offenbart. Und all dies ist ein
individuell-einzigartiges Geschehen von Gemeinschaft.
In der Natur wirkt der Logos-Sinn im Moment der Freiheit
in Richtung seines Offenbarwerdens als Gottmensch. Der erste
Schöpfungsakt (Urknall) war ein Heraustreten der Gottheit aus ihrer
ewigen und unergründlichen Abgeschiedenheit. Doch diese Schöpfung, deren
Ursache unergründlich ist, war ein Fall in das Reich der Natur, in der die Schöpfungsfreiheit
des Logos-Sinn begrenzt ist; über diese Grenzen kann uns auch die faszinierende
Vielfalt der Natur nicht mehr hinwegtäuschen. Der Logos-Sinn ist in seinem
Wirken nicht wirklich frei, sondern wird durch die gefallene Freiheit, die
Notwendigkeit, gefesselt. Evolution bindet den Logos-Sinn an die
notwendigen Grenzen der natürlichen Welt. Das Ergebnis des
Schöpfungsprozesses in der Natur bleibt immer unvollendet-lügenhaft. Mit dem
Erscheinen des Menschen gelangt der erste Schöpfungsakt an sein Ende bzw. an
seine absolute Grenze und kann nicht weitergeführt werden. Der Stab wurde an
den Menschen überreicht, in dem als Person die Freiheit und der Logos-Gott
erstmalig wahrhaft zusammenwirken können. Erst im freien und selbstbewußten
Menschen kann der Logos-Sinn sich offenbaren als Gott-Sinn, als Gottes Wort,
als das reine authentische Gewissen, welches der Verbindung mit der wesenhaften
Freiheit des Menschen bedarf, um sich dialogisch und gemeinschaftlich-schaffend
als Gottmensch offenbaren zu können. Der zweite Schöpfungsakt ist
ein innermenschlicher Schaffensprozeß von Wahrheit. Und dieser Schaffensprozeß
ist auch eine paradoxe Verquickung von Zeitlichem und Überzeitlichem. Die
Wahrheit braucht Zeit für ihr Offenbarwerden und ist dennoch ein überzeitlicher
Prozeß, der die Zeit fortwährend als durchlebte Erfahrung bereichernd und
transformierend in sich aufnimmt.
Ich gehe davon aus, daß man schon bei höherentwickelten
Tieren (z. B. Affen), innerhalb der Gattung, persönliche Zuneigungen und
Abneigungen, persönliche Eigenschaften beobachten kann, die sich zum einen
nicht ausschließlich sozial-deterministisch deuten lassen und die zum anderen
nicht nur einem instinktmäßigen Verhalten geschuldet sind. Im Menschen der
Urgeschichte schließlich gewann das Persönlichkeitsverhalten, d. h. das
konkret-persönliche Beziehungsverhalten, nach und nach an Geltung, was sich
durch archäologische Funde belegen läßt. Das personal-religiöse Schaffen in der
ur- bzw. vorgeschichtlichen Zeit, das vor allem einen naturverhafteten und
gattungsmäßigen Charakter trug, fand seinen herausragenden und persönlich
einzigartigen Ausdruck in zahlreichen künstlerischen Zeugnissen. Immer läßt
sich an ihnen die persönlichen Handschriften erkennen, auch wenn diese durch
eine natur- bzw. instinktverhaftete Orientierung oft sehr stark angeglichen
waren. Der Totemismus ist ein besonderes Beispiel für die Personifizierung, d.
h. magisch-schöpferische Vergeistigung der natürlichen Umwelt; diese
Vergeistigung konnte nur ein personales Wesen zustandebringen. Der Mensch hat
sein religiöses Empfinden und seine menschlich-personalen Eigenschaften, die
zunächst vorhanden sein mußten, auf Naturerscheinungen übertragen, um sich auf
diese Weise als ein Teil der Natur begreifen zu können. Der Totemismus war
quasi eine Flucht des Menschen vor sich selbst, vor seiner Besonderheit und
Andersartigkeit gegenüber der Natur. Die Persönlichkeit des Menschen in der
vorgeschichtlichen Zeit war noch zu schwach ausgebildet bzw. nicht im
genügenden Maße vertieft, um sich über die Natur geistig erheben und für sich
selbst als Mensch und für die Natur wahrhaft verantwortlich einstehen zu
können. Der Mensch der Vorgeschichte suchte in der Natur, und darüber hinaus
bei äußeren geistigen Mächten Schutz vor den Bedrohungen des Lebens (Krankheit
und anderes Unheil) und - im tieferen Sinne - Schutz vor der Bedrohung durch
den Tod, der spürbar immer ein personaler Tod war. Der Mensch konnte den
wahrhaften Charakter des Todes (als eine Paradoxie der Liebe) nicht verstehen
und ganzheitlich annehmen; er fürchtete sich vor dem Tod, dessen Anwesenheit
ihn quälte. Und so ergeht es den Menschen auch heute noch, wenn sie es nicht
vermögen, die Fülle und Ganzheit der Persönlichkeit in sich zu realisieren. Es
sei auch an dieser Stelle angemerkt, daß die personale Angst vor dem Tod
niemals einen rein individuellen Charakter trug, sondern immer in Liebe auf den
gemeinschaftlichen Nächsten gerichtet und engstens mit dem Problem der
Einsamkeit verbunden ist. Allerdings wurde beim uralten Menschen das
Einsamkeitsgefühl im äußerst starken Maße durch das Gefühl der Zugehörigkeit
zum Stamm (Stammesdenken) aufgesogen. Hierher gehört auch die Angst vor den
Toten, deren Wirksamkeit aus der unterirdischen Welt heraus von den uralten
Menschen magisch-schicksalhaft und sittlich bestimmend empfunden werden konnte.
Berdjajew sagt:
„Die Rache ist mit der Angst verbunden. Der Schatten des
Ermordeten verfolgt seine Verwandten, bis sie den Mord gerächt haben. Der
uralte Mensch hat die Gewalt der Verstorbenen über das Leben sehr tief
empfunden, und die Angst vor den Dahingeschiedenen, vor der unterirdischen Welt
war viel tiefer und bedeutsamer als die Sorglosigkeit, als der Leichtsinn, mit
dem der moderne Mensch sich über die Welt der Toten hinwegsetzt“ (Berdjajew
32).
Aus meiner Sicht kann man sagen, daß durch künstlerisches
Schaffen (Schönheit), Totemkult, Schamanismus, Magie sowie eine individuell
unterschiedlich vollzogene Würdigung von Verstorbenen (z. B. durch
Grabbeigaben) usw., eine persönlich motivierte und bewußte Wertschätzung durch
den Menschen bereits schon in der vorgeschichtlichen Zeit erfolgte, auch wenn
diese naturverhaftete Wertschätzung die personale Kraft, die Liebes- und
Leidensfähigkeit, im erheblichen Maße einschränkte.
Das menschliche Schaffen ist wesentlich ein innerer
religiöser Prozeß der gemeinschaftlichen Persönlichkeit. In der Entäußerung
endet dieser Prozeß, indem er in den dinglichen und geistigen Produkten seinen
statisch festgelegten Ausdruck als Symbol findet. Der vorgeschichtliche Mensch
war zu sehr in der magischen Entäußerung seines (geistigen) Schaffens verfangen
und an diese Entäußerung gefesselt, er verlor sich quasi fortlaufend in der
Bedeutungsübertragung innerer religiöser Gestimmtheit auf die Natur, auf äußere
geistige Mächte, auf den Stamm und insbesondere auf die Verstorbenen. Dieses
fortwährend nach außen gerichtete personal-magische Abhängigkeitsverhältnis des
Menschen hat sich im Laufe der Geschichte gewandelt und teilweise abgeschwächt,
aber auch wieder verstärkt. Diese Verstärkung macht sich heutzutage als ein
scheinbar rein rationales Kontrolldenken bemerkbar, welches ausschließlich in
den naturwissenschaftlichen Beobachtungen die Wahrheitskriterien für sein
Weltverständnis zu finden gedenkt. Das Bewußtsein des Menschen hat sich nur
in Hinsicht auf den Erwerb dieses an die natürlichen Gesetzmäßigkeiten
gebundenen rationalen Denkens von einer magisch-unterwürfigen zu einer
magisch-kontrollierenden Stufe entwickelt. Doch die Erweiterung des
Persönlichkeits-Ichs bzw. Selbstbewußtseins bleibt ein religiös-stufenloses
Ereignis das von der Tiefe bzw. Höhe her ewig ist und aus diesem Grunde jeder
gestuften und gesetzmäßigen Entwicklung ursprünglich vorangeht und über eine
gestufte Entwicklung hinausgeht. Das religiöse Bewußtsein des Menschen
offenbart und vertieft sich primär stufenlos und entwickelt sich erst im
sekundären äußerlichen Verhältnis zu etwas partiell Fremden in einer
hierarchischen Stufenfolge. Die Bewertung von Bewußtseinsstufen ist erst von
einem in uns immanent wirkenden transzendenten allerhöchsten Wert möglich. Das,
was z. B. an der magischen Bewußtseinsstufe religiös ist, ist nicht irgendeine
magische, sondern die gottmenschliche Ewigkeit in uns. Ich nehme an, daß schon
die Urmenschen zumindest sporadisch an ihrer magischen Bewußtseinsverhaftung
gelitten haben, die einengend und auch zersetzend ihrer göttlich-ewigen
Intuition von Wahrheit bzw. Ganzheit und Liebe permanent im Wege stand. Nun
sagt Wilber jedoch hinsichtlich sogenannter spiritueller Entwicklungslinien:
„Ich glaube, daß klar erkennbare Stufen vorhanden sein
müssen, weil diese zwangsläufig auf früher erworbenen Kompetenzen aufbauen und
zugleich neue und prägende Merkmale hinzufügen, die an die Stelle der engeren
und flacheren Orientierungen treten“ (S. 322).
Welche neuen und prägenden Merkmale könnten der ewigen
Wahrheit der Liebe denn hinzugefügt werden? Keine, denn die Liebe ist keine
Erfahrung nach und nach erworbener Kompetenzen und Fähigkeiten, der Liebe an
sich kann nicht etwas Höheres prägend hinzugefügt werden, die Liebe ist mit
einer Zunahme der Intensität des personalen Ganzheitsgefühls verbunden und ist
uns als Person von vornherein gegeben, auch wenn wir ihren ewigen Sinn nicht
erkennen oder sie als gefährlich von uns weisen oder ihre Kraft ob eines nahezu
geistlosen Lebens nicht mehr wahrhaft spüren können. Sowohl die neueren
prägenden Merkmale als auch die engeren und flacheren Orientierungen gehören
nicht unmittelbar der Liebe an, sondern sind ausschließlich Übertragungen
innerer ursprünglicher Religiosität auf fremde Mächte. In der Entäußerung
versiegt die Liebe augenblicklich. Wilber betrachtet letztlich jedoch die
Spiritualität und die jeweilige symbolhafte Manifestation im Widerspruch zu
seinem stufenförmigen Bewußtseinsmodell als eine unterschiedslose
zusammenhängende Einheit. Nach ihm können die Unterscheidungen und Stufen nur
für unser Denken existieren, aber nicht als „absolute Wahrheit“, denn als
solche befindet sich alles in absoluter Identität. Es gibt gemäß Wilbers
„absoluter Wahrheit“ nicht wirklich einen Unterschied zwischen Freiheit und
Notwendigkeit. Aber unter diesen Bedingungen wäre jede Bewegung,
geistiger oder physikalischer Art, unmöglich.
Die Bedeutung und Unabdingbarkeit der Wissenschaft besteht
vor allem darin, daß sie die Natur im starken Maße entzaubert hat und tief in
ihre Gesetzmäßigkeiten eingedrungen ist und diese Gesetzmäßigkeiten für das
Leben nutzbar macht. Die Wissenschaft hat aber darüber hinaus, durch eine in
ihr vorherrschende atheistische Tendenz, auch mit dazu beigetragen (aber nicht
ursächlich), den Aberglauben an eine verlogene, anthropomorph und soziomorph
rationalisierte Gottesvorstellung zu erschüttern, d. h. den Menschen
insbesondere vom Aberglauben an einen über ihm thronenden, „objektiv“ bzw. äußerlich
existierenden Macht-Gott zu befreien. Problematisch wird die Wissenschaft
jedoch dann, wenn man glaubt, mit ihrer Hilfe die Grundfragen der
menschlich-religiösen Existenz endgültig beantworten und auch praktisch lösen
zu können. Den Glauben an eine Wissenschaft, die scheinbar alle Geheimnisse in
der Welt zu lüften vermag und jeglichen Wert in der Welt nach deterministischen
Gesichtspunkten selbstherrlich bestimmen kann, nennt man Szientismus bzw.
Wissenschaftsgläubigkeit (siehe dazu auch N. Berdjajew: Wahrheit und
Offenbarung, hartmut spenner, waltrop, 1998, insbesondere Kapitel 6). Der
wissenschaftsgläubige Mensch sucht auf eine andere Art und Weise nach Antworten
auf existentielle Fragen, z. B. auf die Frage nach dem Tod, die sich für den
wissenschaftsgläubigen Mensch mehr oder weniger als ein Problem der physischen
Existenz darstellt und die ihm vor allem wichtiger erscheint als die Frage nach
der Liebe der Persönlichkeit. Eine der möglichen Antworten auf die Frage nach
dem Tod erblickt der wissenschaftsgläubige Mensch in einem endlosen Prozeß des
Fortschreitens zu einer „besseren“ Welt vorherrschender Notwendigkeiten. Und
dieser Antwort ist in subtiler Weise auch „die Dialektik des Fortschritts“ (S.
121) - von Wilber vertreten – verhaftet. Durch den Glauben an einen endlosen
Fortschritt in einer begrenzten Welt, der immer zeitlich begrenzten Charakter
trägt, versucht sich der im rationalen Sinne naturverhaftete Mensch über den
physischen Tod und insgeheim über den geistigen Tod, den er nicht begreift und
dem er deshalb schon im Leben fortwährend verfällt, hinwegzutrösten. Durch den
Glauben an einen endlosen Fortschritt in der Welt der Notwendigkeiten bleibt
das magische Abhängigkeitsverhältnis zur Natur indirekt bestehen, auch wenn der
Mensch nun an der Macht der Natur äußerlich partizipieren kann. Außerdem wird
das Problem der Macht der Natur erst durch das Widerstreben des menschlichen
Geistes existent. Die falsche Lösung für dieses Problem besteht darin, diese
Macht übernehmen und zugleich erweiternd ausüben zu wollen; die wahrhaftige
Lösung besteht in der Verwirklichung des machtlosen Prinzips der
gottmenschlichen Liebe. Durch diesseitsverhafteten endlosen Fortschritt möchte
sich der moderne Mensch über den Tod hinwegtrösten, der unmittelbar in ihm
lauert und seiner fortwährend habhaft wird als geistiger Tod, als
gottentleertes Dasein. Fortschrittsdenken ist aber auch für den geübten
Wissenschaftler nicht unproblematisch und anfechtbar und geht über zu der
Behauptung, daß die Welt grundsätzlich sinnlos ist, was einer Vorstellung vom
„absoluten GEIST“ am nächsten kommt. In seinem Buch „Existentielle Dialektik
des Göttlichen und Menschlichen“ kommt N. Berdjajew zu der profunden
Feststellung:
„Die Idee des menschlichen Fortschritts, die seit
Condorcet die Grundlage der Geschichtsphilosophie bildet, ist religiöser Natur
und christlichen Ursprungs. Sie ist eine säkularisierte Form der christlichen
Idee, die auf die Verwirklichung des Reiches Gottes als dem Grundthema der
Weltgeschichte abzielt. Die Fortschrittsidee ist dazu bestimmt, der Geschichte
einen Sinn zu geben, aber die Illusion ihrer Anhänger besteht darin zu glauben,
daß sie der Geschichte einen immanenten Sinn verleihe, während sie Geschichte
doch nur einen transzendenten Sinn haben kann. Man muß die Idee des
Fortschritts von der der Evolution unterscheiden, die auf biologischen
Gegebenheiten beruht. Der hauptsächliche Widerspruch, an dem die
Fortschrittsidee leidet, liegt darin, daß in ihr jede menschliche Generation,
jede menschliche Person als ein Mittel angesehen wird im Dienste der kommenden
Generationen, der zukünftigen Vollkommenheit – als ein Mittel zur
Verwirklichung des Reiches Gottes. Daran werden die Glücklichen teilhaben, die
nach uns kommen und denen all die verstorbenen Geschlechter nicht vor Augen
stehen, die als Mittel für diesen Zweck gedient haben. Die Fortschrittsidee ist
eine antipersonalistische Theorie“ (Berdjajew 33).
Und weiterführend schreibt Berdjajew:
„Und der Fortschritt selbst, der seinem Wesen nach ein
doppelter ist, kann entweder ein Fortschreiten auf das Ziel, auf das immanente
und transzendente Reich Gottes, oder auch ein Prozeß ohne Ende und ohne Lösung
sein, der nichts Geheiligtes enthält und in dem sich alles zum Mittel verkehrt“
(Berdjajew 34).
Wenn Wilber auf Seite 318 der chronologischen Reihen- bzw.
Stufenfolge nach von einer die magischen, mythischen, rationalen, psychischen,
subtilen, kausalen und nichtdualen Religionen umfassenden Entwicklungslinie der
Spiritualität spricht, die sich also über das ganze Spektrum des Bewußtseins
erstreckt, so ergibt sich die Schlußfolgerung, daß die „nichtduale Religion“
(auch als transpersonale Bewußtseinsstufe charakterisierbar) als Zustand
höchster spiritueller Einsicht zumindest nicht auf einer personalen
Bewußtseinstufe erfahrbar und von vornherein gegeben ist. Der Mensch auf der
personalen Bewußtseinsstufe kann demnach eine transpersonale Erfahrung nicht
wahrnehmen, solange er nicht die Person auf eine transpersonale Höhe
„transzendiert“ hat. Auch aus meiner Sicht kann sich das Selbstbewußtsein zur
äußeren Welt sowohl magisch, mythisch, rational als auch integral-existientiell
(Jean Gebser) in Beziehung setzen. Die verschiedenen Beziehungsweisen des
personalen Bewußtseins sind dabei jedoch nicht in chronologischer Stufenfolge
voneinander getrennt, sondern vermischen sich, treten unterschiedlich stark
hervor, nehmen die unterschiedlichsten Formen an und waren zu allen Zeiten in
der Menschheitsgeschichte mehr oder weniger stark vorhanden in Abhängigkeit von
der persönlichen Eigenart und den persönlich erfahrenen Lebensumständen des
individuellen Menschen im sozialen Kontext. So kann man bei einem heutigen
Menschen, der sich vorwiegend (aber niemals ausschließlich) über seine Ratio in
Beziehung zur Welt setzt, starke egozentrische Züge erkennen, die eine
wahrhaft-authentische Realisierung der Persönlichkeit verhindern. Oder hätte
der Urmensch in sich nicht ein Mindestmaß an integral-existentiellem
Selbstbewußtsein verwirklichen können, wäre er jeder wahrhaften Beziehungsfähigkeit
verlustig gegangen und hätte sich gänzlich in der Natur verloren. Das
unmittelbare personale Bewußtsein an sich bleibt bis in die höchsten Tiefen
hinein ein Leben lang individuell-einzigartig, realisiert sich stufenlos, ist
nicht austauschbar und kann auch nicht auf ein sogenanntes „transpersonales
Bewußtsein“ erhöht werden. Sogenannte „transpersonale Stufen“ entbehren jeder
geistigen Realität, - die Konstruktion „transpersonaler Stufen“ lehne ich
kategorisch ab! Konsequent weitergedacht bedeutet Transpersonalität
fremdbestimmte Unmündigkeit. Wenn von Entwicklungsstufen des Bewußtseins die
Rede ist, liegt Jean Gebser, entgegen Wilbers Ansicht (S. 117), schon ganz
richtig, diese Stufen bis hinauf zur integral-existentiellen einzugrenzen. Der
die Bewußtseinsstufen umschließende personale Prozeß der Wahrheit an sich
vollzieht sich niemals als eine hierarchisch-gestufte bzw. chronologische
Entwicklung, sondern ist immer eine existentiell-ethische Offenbarung. Übrigens
wird auch das Wort „Transzendieren“ von Wilber in einem evolutionistischen
Sinne mißbraucht; „Transzendieren“ ist bei ihm kein unmittelbares
personal-schöpferisches und dialogisches Inbeziehungtreten von Ich und Du im
Wir in der Tiefe der Persönlichkeit, d. h. in der Tiefe gottmenschlicher Wahrheit,
sondern das Gewährenlassen bzw. die unschöpferische Hingabe zu –
sagen wir – einer absoluten Einsicht, die den Menschen im evolutionistischen
Sinne zur vollkommenen Einheit führt. Und solange wir uns nicht hingeben,
suchen wir, - und das bezeichnet Wilber dann als „Atman-Projekt“. Wer auf der
Suche ist, verweigert sich demnach einer nondualen Erlösung, die zugleich
höchste Glückseeligkeit verspricht. Die schöpferische Kraft geht also, Wilber
zufolge, vom „GEIST“ aus, der Mensch ist nur „Sein“ williges Instrument und
soll sich gefälligst nicht zu einer erschreckenden „anthropozentrischen
Arroganz“ (S. 128) versteigen. Nach Wilber gilt für den Menschen das Motto:
Schuster, bleib' bei deinen Leisten!
Der zweite Schöpfungsakt ist der
Ewigkeit nach ein innermenschlicher Schaffensprozeß von Wahrheit. Seine
Bestimmung muß der Mensch in diese Welt hineinwirken, um sich selbst als
liebendes Wesen wahrnehmen zu können und zu verwirklichen. Durch den Akt der
Liebe ist der Mensch zu einem freien und wahrhaft verändernden Schaffen
berufen, das wesentlich ein inneres Ereignis ist. Mit dem Erscheinen des
Menschen ist die Evolution an ihre absolute Grenze gestoßen. Von nun an wirkt
der Schöpfer-Gott im Menschen und sucht und sehnt sich nach seiner wesentlich
menschlichen, d. h. schöpferischen Freiheit. Schließlich wird in einer
existenzdialektisch-dialogischen Wechselbeziehung der Gott im Menschen und der
Mensch in Gott geboren. Nun sagt Wilber aber:
„Noch absurder erscheint die Leugnung der Evolution im
menschlichen und kulturellen Bereich, wenn man sich vor Augen hält, daß man
damit ja jede Möglichkeit des Lernens im kollektiven Bewußtsein bestreitet. Man
behauptet damit nichts anderes, als daß der Mensch von seiner Geburtsstunde an
schon immer alles über alles wußte; nichts entstand und entwickelte sich, - es
tauchten keine Wahrheiten auf, es gab keine Evolution“ (S. 128).
Wilber unterscheidet nicht zwischen
natürlich-gesetzmäßiger Evolution und einem innermenschlichen, d. h.
gottmenschlichen Schaffensprozeß, der die wesentliche Grundlage für die
Entstehung der Kultur bildet. Die positivistische Geschichtswissenschaft würde
sagen, daß die Entstehung der Kultur grundsätzlich einem Überlebenskampf
geschuldet war. Doch das Eigentliche an der Kultur,
„der Ausdruck... des Selbstgestaltungswillen eines Volkes
oder eines Einzelnen“ (Wörterbuch 35),
geht weit über die alltäglich zu verrichtenden
Notwendigkeiten, über die Erfordernisse der Natur hinaus. Künstlerisches, nicht
notwendiges Schaffen z. B. wird in der Natur nicht verlangt, sondern weist auf
ein höheres geistiges bzw. religiöses Bedürfnis hin. Dieses künstlerische
Bedürfnis existierte schon in der vorgeschichtlichen Zeit oder läßt sich eben
auch schon bei einem Kind beobachten. Künstlerisches Schaffen ist ein Beziehungsakt,
ist das Bedürfnis nach Selbstausdruck in der Gemeinschaft. Der Mensch war immer
bemüht, sein Schaffen zu koordinieren. Seine natürlichen Grundbedürfnisse
zwangen ihn entsprechend seines deutlich verminderten Instinktverhaltens, die
Logik bzw. Gesetzmäßigkeit der natürlichen Abläufe zu beobachten, zu verstehen
und anzuwenden, - aber schon dieser Prozeß war ein personaler,
innermenschlich-schöpferischer. Das heißt, der Mensch mußte sich zur Welt
innerlich frei und schöpferisch-nachvollziehend in Beziehung setzen, um in der
Welt überhaupt verändernd wirksam werden zu können. Es kann also der Mensch
nicht instinktmäßig lernen - getreu nach dem ablaufenden Muster evolutionärer
Gesetzmäßigkeiten, wie dies bei primitiveren Lebewesen, d. h. in der unbewußten
und unpersönlichen Natur überhaupt geschieht, sondern das Lernen des Menschen
ist ein schöpferisch-persönlicher und zugleich die Welt im geistigen Sinne
verändernder und bereichernder Akt! Der sogenannte evolutionäre Sprung, das
natürliche Schöpfungsmoment, findet in der Natur statt und setzt das
unpersönliche Wirken des Logos-Sinns voraus, das Schaffen dagegen ist ein
persönlich-ganzheitlicher, gottmenschlicher Akt. Ohne seine innere und von
vornherein gegebene authentisch-freie Schöpferkraft hätte der Mensch niemals
den Sprung aus dem Tierreich geschafft, niemals hätte er Kultur hervorbringen
können. Wilber sagt:
„Wir sind wesentlicher Bestandteil des einen und
allumfassenden Evolutionsstroms, der selbst der GEIST-in-Aktion ist, die Art
und Weise, wie der GEIST schafft“ (S. 128).
Damit verneint er jegliche Lernfähigkeit des Menschen, der
Mensch wäre geistig tot und letztlich überhaupt nicht existent, da er in keiner
Weise selbstbestimmt handeln könnte. Was die Wortverbindung „kollektives Bewußtsein“
anbelangt, so zielt der hierarchische Gebrauch dieser Wortverbindung darauf ab,
die untergeordnete Rolle des persönlichen Bewußtseins herauszustellen.
„Kollektives Bewußtsein“ ist eine verallgemeinerte, objektivierte
Bewußtseinsform, von welcher der autoritätshörige und partiell unfreie Mensch
fremdbestimmt wird und die zu einer totalitären Vereinheitlichung des
menschlichen Lebens führt (Kollektivismus) und die sich auf diese Weise gegen
die Freiheit der Persönlichkeit richtet. Weiterführend sagt Nikolai Berdjajew
dazu:
„Verführung und Knechtung durch den Kollektivismus ist
nichts anderes, als Übertragung geistiger Gemeinschaft, der Kommunikation, der
Universalität vom Subjekt auf das Objekt, Objektivierung – sei es nun einzelner
Funktionen des Menschenlebens oder des ganzen Menschenlebens. Kollektivismus
ist immer autoritär, das Bewußtseins- und Gewissenszentrum ist bei ihm
außerhalb der Persönlichkeit in kollektiven, sozialen Massengruppierungen, so
beispielsweise im Heer, in totalitären Parteien untergebracht“ (Berdjajew 36).
Wenn Wilber von einem „Atman-Projekt“ spricht, so kommt
darin die richtige Erkenntnis zum Ausdruck, daß die Menschen auf dieser Welt im
starken Maße Dinge tun, die ihrem eigentlichen Sehnen und Wollen nach Wahrheit
im Leben widersprechen. Falsch ist jedoch die Vorstellung von einer Wahrheit,
die in einer absoluten Identität von Atman (ewiger innerster Kern des
Individuums) und Brahman (des Kosmos ewiges Seiendes) bestehen soll. Die
Deutung dieser Wahrheitsvorstellung kann höchsten auf das unergründliche
Nichtsein (das Nichts), auf das Ich in seiner vorbewußten, nichtseienden und
undifferenzierten Verfassung gerichtet werden. Es wird also im Sinne eines
Atman, das mit Brahman identisch das Nichts bildet, niemals ein „Atman-Projekt“
geben können, weil das vollkommen undifferenzierte Nichts bzw. Ich als solches
überhaupt nicht wahrgenommen und somit nicht projiziert werden kann. Aus
dem Nichts heraus entsteht immer etwas noch nie Dagewesenes, etwas Neuartiges
und keine Projektion. Projiziert und übertragen wird die intuitive
Wahrheit der Liebe, die sich in den Projektionen abkühlt und verliert. Eine
einseitige Zunahme der nach außen gerichteten Projektion entleert den Menschen
und verhindert die Realisierung seiner persönlichen Wahrhaftigkeit. Der Mensch
muß sich immer wieder in Momenten schöpferischer Ruhe auf den inneren
Wahrheitsprozeß konzentrieren, um sich nicht in der einseitigen Beschäftigung
mit der Vielfalt der Welt zu verlieren, d. h., ohne das innere Wahrheitsmoment hätte
sich das menschliche Schaffen schließlich sinn- und ziellos in eine absolute
Vielfalt hinein erschöpfen müssen. Niemals hätte sich so die menschliche Kultur
entwickeln können. Die jeweilige Erscheinungsweise der Kultur im weitesten
Sinne spiegelt die jeweilige personale Bewußtseinsverfassung wider. Wilber
sieht das Vorhandensein eines „allumfassenden Evolutionsstroms“ (S. 128), der
auch die Kultur durchdringt, als bewiesen an. Für ihn steht die kulturelle
Entwicklung in einem analogen Verhältnis zu den Bewußtseinsstufen. Magisches
Bewußtsein bringt eine magische Kultur hervor, mythisches Bewußtsein eine
mythische usw. Doch wie ich oben schon dargelegt habe, ist eine vollständige
Abgrenzung der verschiedenen Bewußtseinsstufen voneinander nicht möglich. Das
heißt, das Erschaffen jeder Kultur muß zugleich ein magisch-rationales,
mythisch-existentielles und integral-existentielles Moment beinhalten. Die
urgeschichtliche Kultur stand im Zeichen magischen Verhaftetseins, aber in ihr
waren zumindest in Anfängen auch die anderen Aspekte menschlichen Bewußtseins
enthalten und eingearbeitet worden. Man kann beispielsweise davon ausgehen, daß
schon in jenen urgeschichtlichen Zeiten die magischen Geister im Ansatz
mythologisch gefärbt waren. Und die Beziehungen zwischen den einzelnen
Mitgliedern einer Gruppe wird immer auch von liebevoller Zuneigung getragen
worden sein, auch wenn existentielle Ängste liebevolle Zuneigungen
wahrscheinlich oft überlagerten. Die Ursache für das menschliche Leid
(Krankheit, aber auch menschliche Bösartigkeiten und anderes Unheil) wurde
größtenteils den unberechenbaren Geistern der Natur zugeschrieben, Geistern,
die vorsorglich durch Opfergaben besänftigt werden sollten, was später
schließlich grausame Züge angenommen hatte (Tier- und Menschenopfer).
Auch Ken Wilber weiß, daß die Menschheitsgeschichte alles
andere als ein glatter Aufstieg zu komplexeren und differenzierteren
Gesellschaftsformen war. Für ihn ist aus diesem Grunde die Evolution
gekennzeichnet sowohl durch Fortschritt als auch durch Regression. Auf Seite
121 schreibt er:
„Weil Evolution in allen Bereichen, dem menschlichen und
nichtmenschlichen, mittels Differenzierung und Integration fortschreitet,
tauchen auf jeder neuen und komplexeren Stufe notwendigerweise Probleme auf, die
es davor nicht gab. Hunde bekommen Krebs, Atome nicht. Deshalb hat sich aber
noch nicht gleich die ganze Evolution erledigt. Es ist einfach so, daß die
Evolution gute und schlechte Seiten hat, daß sie dialektisch fortschreitet. Und
je mehr Stufen der Evolution es gibt (je größer die „Tiefe“ des Kósmos), desto
mehr Fehlentwicklungen kann es natürlich geben“ (S. 121).
Auf Seite 122 heißt es weiter:
„Aber auf jeder Stufe können die Differenzierungen in eine
Dissoziation überschießen, wodurch Tiefe in Krankheit, Wachstum in Krebs,
Kultur in einen Alptraum, Bewußtsein in Agonie verwandelt wird“ (S. 122).
Und:
„Auf jeder neuen und höheren Stufe gibt es genau diese
beiden Möglichkeiten: Transzendieren und einschließen, annehmen, integrieren,
akzeptieren, oder transzendieren und verdrängen, leugnen, entfremden,
unterjochen“ (S. 122).
Das evolutionäre Prinzip der Differenzierung, Integration
und regressiv-überschießende Dissoziation läßt sich, Wilber zufolge, überall in
der Naturevolution und übergreifend in der menschlichen und kulturellen
Entwicklung beobachten. Wilber wirft alles in den Topf der Evolution, und das
ist unverantwortlich. Das dient vor allem der Rechtfertigung seiner Theorie. Es
besteht zunächst einmal ein gravierender Unterschied zwischen einem natürlich-biologischen
Krebsgeschwür und einer Entartung kulturell-menschlichen Zusammenlebens. Der
natürliche Krebs ist eine Krankheit, die moralisch nicht zur Verantwortung
gezogen werden kann, weil sie einfach nur ein nichtwertendes, ungehemmtes
Wachstum von Krebszellen ist. Natürlicher Krebs ist kein Verbrechen und ist
nicht schuldfähig. Schuldfähig ist jedoch vor allem der Mensch, der in seinem
Wahn die unmenschlichsten Verbrechen beging. Vom Menschen kann man Rechenschaft
fordern (im Gegensatz zum natürlichen Krebsgeschwür, das kein ethisches Zentrum
ist bzw. über kein ethisches Zentrum verfügt), da er für sein Handeln
verantwortlich ist. Das Krebsgeschwür entscheidet nicht frei, aber der Mensch
hat letztlich die Pflicht, für seine Freiheit einzustehen, um ganzheitlich und
authentisch Mensch sein zu können. Jede Unfreiheit im Menschen macht das
Verbrechen salonfähig. Jede Unfreiheit im Menschen ist Lüge und Überantwortung
des Gewissens an fremdartige Mächte. Jeder Krieg ist der Triumph der Unfreiheit
und Lüge und Gewissenlosigkeit. Der Mensch schuf sein kulturelles
Zusammenleben, und der Mensch ganz allein ist für die Gestaltung des
kulturellen Lebens verantwortlich, auch wenn er seiner Verantwortung nicht
gerecht wird. Die Evolution endet mit der selbstbestimmten menschlichen
Freiheit, einer Freiheit, die wahrhaft auf die Fülle, auf Gott oder aber
lügenhaft auf ein entleertes Nichtsein gerichtet werden kann. Der Freiheit
können wir entsagen, verlieren wir unseren authentischen Glauben an sie. Durch
Evolution gelangt die Freiheit fortwährend an ihre Grenzen, im Menschen jedoch
zur Offenbarung ihres wahren Potentials. Der Mensch ist also für sein Handeln
voll verantwortlich; schiebt er diese Verantwortung von sich, so verliert er
seine Authentizität und ist menschlich nicht frei. Wilber überantwortet den
Menschen der Evolution (dem „GEIST-in-Aktion“) und verdammt ihn zur Unfreiheit.
Verantwortung ist das Prinzip, dem nur der freie Mensch gerecht werden kann und
das in der Natur nicht existiert.
Das regressive Moment der natürlichen Evolution ist anders
geartet als das des menschlichen Schaffens. Für die natürliche Krankheit ist
kein lebendes Wesen verantwortlich, sondern es ist ihr schicksalhaft
ausgeliefert. Für die Entartung des menschlich-kulturellen Zusammenlebens ist
der Mensch selbst verantwortlich. Ken Wilbers zweifelhafte Unterscheidung
zwischen natürlicher und pathologischer Hierarchie (S. 123) kann nur vom
personalen Standpunkt aus vorgenommen werden. Unabhängig von der Person, in der
unbewußten Natur, existiert diese Unterscheidung nicht. Die Pathologie an sich
ist per definitionem die Wissenschaft von den Krankheiten, besonders von ihrer
Entstehung und den durch sie hervorgerufenen organisch-anatomischen
Veränderungen. Aber wo gibt es in der unbelebten Natur Krankheiten? Die gibt es
dort nicht, und schon deshalb ist der Begriff „pathologische Hierarchie“ als
irreführend abzulehnen. In der Natur ist die Entwicklung vor allem an das
Gesetz gebunden, auch wenn der Logos-Sinn im Hintergrund im begrenzten Maße
wirkt. Das Naturgesetz an sich ist amoralisch und nichtethisch und ist aus
diesem Grunde zu einer wertenden Haltung nicht in der Lage. Nun sagt Wilber:
„Aber was transzendiert, kann auch unterdrücken. Deshalb
können normale und natürliche Hierarchien zu pathologischen Hierarchien, zu
Herrschaftshierarchien degenerieren“ (S. 123).
Das Krebsgeschwür übt jedoch keine Herrschaft aus, wie
dies der Mensch vermag. Das Krebsgeschwür entsteht, wächst und stirbt auf der
Grundlage natürlicher Gegebenheiten und trifft keine bewußt verantwortlichen
oder unverantwortlichen Entscheidungen. Bösartigkeit ist ein Charakteristikum
des verantwortungslosen, des gottlosen Menschen und nicht der unbewußten Natur.
Auch höherentwickelte Tiere können bösartig agieren. Das Böse in der Natur an
sich gibt es nicht, es ist ausschließlich ein personales Problem. Das Böse ist
ausschließlich das, was die Realisierung der Persönlichkeit verhindert und
nichts anderes!! Und die Verantwortung für die Realisierung der Person obliegt in
erster Linie der Person selbst; d. h., die Person, die existentiell
gemeinschaftlich ist, muß die Beziehung zur Notwendigkeit der Natur dahingehend
verändern, daß die Natur der Realisierung der Persönlichkeit nicht mehr im Weg
steht, sondern daß die Natur gemeinschaftlich integriert wird. Dazu muß die
Person frei eine Kultur schaffen, in der alle Aspekte des kulturellen
Zusammenlebens (Technik, Wissenschaft, Bildung, Kunst, Familie, Staat usw.
usf.) ebenfalls auf die Realisierung der (gemeinschaftlichen) Persönlichkeit
gerichtet werden. Das evolutionäre Prinzip der Differenzierung, Integration und
der regressiv-überschießenden Dissoziation ist ein Gesetz der Natur, der Mensch
kann dieses Prinzip frei durchbrechen und beherrschen. Aber die wahrhaft
geistig-existentielle Differenzierung und Integration des Menschen offenbart
sich durch Mitgefühl, Mitleid, durch die paradoxe Einheit von Freude und Leid,
durch Liebe und geistige Freiheit, durch Fülle und Ganzheit und unterscheidet
sich wesentlich von der natürlichen Differenzierung und Integration, die zu
keiner Ganzheit führen, deren Attraktor weder das Leid, das Mitgefühl noch
irgendwelche Freude sein kann, sondern einzig ein unbewußter Logos-Sinn ist,
der im Zusammenspiel mit der Freiheit wirksam wird. All die Aspekte der
persönlichen Liebe sind überhierarchisch. Die Liebe läßt sich nicht
hierarchisch erklären, einteilen oder ordnen. Aber die persönliche Liebe ist
dennoch das höchste Prinzip des Lebens, das jedoch im Gegensatz zum Naturgesetz
nicht herrscht, sondern frei wirkt und frei angenommen werden muß, damit sie
nicht vergeht.
Für die Argumentation zu pathologischen Hierarchien im
Gegensatz zu natürlichen zieht Ken Wilber Verhaltensweisen und Eigenschaften
heran, die eindeutig nur der interaktiven und selbstbewußten Person
zugesprochen werden können und nicht in der Natur auftreten; er beschreibt
quasi das Auf und Ab innerhalb des evolutionären Prozesses, als würde dieser
bewußt ablaufen. Ich zitiere:
„In einem solchen Fall weigert sich ein arrogantes Holon,
sowohl Teil als auch Ganzes zu sein; es möchte nur Ganzes sein. Es möchte nicht
in gegenseitiger Abhängigkeit Teil von etwas Größerem als es selbst sein, es
möchte keine Kommunion mit seinen Mit-Holons, es möchte sie mit
selbstverliehener Handlungsvollmacht und Agenz beherrschen. Macht tritt an die
Stelle von Kommunion, Herrschaft an diejenige von Kommunikation, Unterdrückung
an diejenige von Gegenseitigkeit“ (S. 123).
Wie ich weiter oben schon darzulegen versucht habe, ist
die Holon-Theorie ein Konstrukt systematischen Einteilungs- und Ordnungsdenkens
und kann nur auf einen natürlich begrenzten Geltungsbereich angewendet werden.
Mit der selbstbewußten Person endet dieser Geltungsbereich, da das Holon per
definitionem keine personale Ganzheit umfaßt. Deshalb ist die Wortverbindung
„arrogantes Holon“ in sich absolut widersprüchlich und völlig unangebracht.
Arrogant kann höchstens der selbstzweifelnde, durch Minderwertigkeitskomplexe
geplagte Mensch sein, aber nicht eine unbewußte natürliche Erscheinung bzw. ein
Holon. Ein Holon möchte nichts, weigert sich nicht, es ist weder selbstbewußt
oder selbstzweifelnd noch liebevoll oder despotisch. Das Wort Holon ist im
eigentlichen Sinne nur ein Begriff, den der Erkennende gebraucht, um sich von
der objektivierten Welt eine Vorstellung machen zu können. In der
objektivierten Welt existieren überhaupt keine subjektiven anthropomorphen
Holon-Wahrnehmungen. Aber Wilber überträgt einfach anthropomorphe und
soziomorphe Eigenschaften auf die Natur, was in philosophischer Hinsicht höchst
unzulässig ist. Wilber versucht mit dieser unzulässigen Übertragung die Theorie
einer allumfassenden Evolution zu rechtfertigen.
Ken Wilber weiß um die Entartungen menschlich-kulturellen
Zusammenlebens. Er weiß, daß gerade diese Entartungen als schwerwiegende
Argumente gegen eine kontinuierlich fortschreitende Evolution angeführt werden.
Ich hoffe, bisher deutlich gemacht zu haben, daß ich kein Gegner des
Evolutionsgedanken bin. In der Natur vollzieht sich Evolution, dem stimme ich
zu. Evolution vollzieht sich in der Natur (den Kosmos eingeschlossen) in eine
chaotische und in eine personale Richtung und endet mit dem Auftreten erster
bewußter personaler Handlungen. Ken Wilber dagegen führt alle Ereignisse auf
die Evolution, die der „GEIST-in-Aktion“ ist, zurück. Für ihn stellen auch die
menschlich-kulturellen Pervertierungen nur fehlerhafte, regressive Abweichungen
von der kontinuierlich fortschreitenden und gesetzmäßigen Evolution dar. Auf
Seite 124 schreibt er:
„Auschwitz ist nicht das Ergebnis von Rationalität.
Auschwitz ist die Folge davon, daß viele Hervorbringungen der Ratio in einer
irrationalen Weise benutzt wurden. Auschwitz ist in der Gewalt des
Stammesdenken... Mit Pfeil und Bogen kann man sich schwerlich zum Völkermord
rüsten, wohl aber mit Stahl und Kohle, Verbrennungsmotoren und Gaskammern,
Maschinengewehren und Atombomben. ... Auschwitz ist die letzte Konsequenz nicht
der Vernunft, sondern des Stammesdenken“ (S. 124).
Ich würde sagen, daß hier eine nicht zu tolerierende
Arroganz gegenüber vorgeschichtlichen Bewußtseinsverfassungen der frühen
Menschen zum Ausdruck kommt. Diese Bewußtseinsverfassung wird als Stammesdenken
herabgewürdigt. Es herrschte aber in jenen Zeiten nicht nur ein Stammesdenken,
sondern auch personale Zuneigung zu den Nächsten, aber vor allem auch zur
Natur. Ohne diese personale Zuneigung wäre menschliches Zusammenleben nicht
möglich gewesen. Für Wilber befindet sich offensichtlich das mit einem
sogenannten Stammesdenken verbundene vorgeschichtliche Bewußtsein in einer
barbarischen Verfassung. Hätten die Urmenschen die technischen Möglichkeiten
gehabt, wären sie zum Völkermord ausgezogen. Aber das ist absolut falsch.
Auschwitz steht symptomatisch für eine „moderne“, sinnentleerte, lieblose und
vor allem vereinsamte Lebensweise, durch die erst die Rationalität, die in
einen völlig neuartigen Zusammenhang eingebunden war, zu einer unvergleichlich
menschenverachtenden Irrationalität pervertieren konnte. Das Leben der
Urmenschen war in keiner Weise sinnentleert, sondern tief verwurzelt mit den
natürlichen Erscheinungen und Gegebenheiten, mit denen sie magisch und im
starken Maße angstvoll, aber grundlegend liebevoll verbunden waren. Die Ratio
der Urmenschen war in praktischer und religiöser Hinsicht nahezu vollständig
auf die Bewältigung des täglich Notwendigen gerichtet und konnte von dieser
Orientierung vorerst kaum befreit werden. Es ist absurd, anzunehmen, daß die
Urmenschen rational-lieblos eine systematische Vernichtungsmaschinerie hätten
entwickeln können. Diese Möglichkeit bestand nicht und ist deshalb völlig
indiskutabel. Die Entstehung einer lieblos und kalt kalkulierenden
Rationalität, die zu irrationalen Entgleisungen führt, setzt ein Mindestmaß an
Unabhängigkeit von der Natur voraus und ist somit ausschließlich ein Problem
späterer geschichtlicher Epochen. Die Art und Weise, wie Wilber neuzeitliche
Entartungen mit frühmenschlichen Bewußtseinverfassungen vergleicht, ist
unakzeptabel und oberflächlich. Hitlers zerrüttete, d. h. zerstörte und mit
Ressentiment angefüllte Persönlichkeit ist einer entwürdigenden,
persönlichkeitsmißachtenden Lebensgeschichte entsprungen, die sich in der
Urgeschichte so niemals hätte ereignen können. Hitler rächte sich für seine
verlogene Lebensgeschichte indirekt an unschuldigen Menschen (z. B.
Konzentrationslager) und an seinem Volk, indem er es zum Kampf bis in den Tod
aufhetzte. Das deutsche Volk sollte mit ihm untergehen. Bei der Durchsetzung
seiner narzißtischen Ziele kam ihm unter anderem der ausgeprägte deutsche
Nationalismus entgegen. Der Nationalismus ist einerseits eine neuzeitliche
Pervertierung eines im Menschen angelegten Zugehörigkeitsgefühl
zur Gattung, eines Zugehörigkeitsgefühl, dem auch das Stammesdenken entsprungen
ist. Grundlegender jedoch wird diese Pervertierung durch die religiöse
Sehnsucht nach der Überwindung der (inneren) Einsamkeit hervorgerufen. Die
(innere) Einsamkeit entstand im Menschen mit der zunehmenden Bewußtwerdung
seiner personalen Besonderheit, d. h. mit seiner selbstbewußten Herauslösung
aus dem determinierenden Naturzusammenhang. Der Nationalismus verweist
letztlich auf eine entfremdete persönlichkeitszersetzende Antwort auf das
zunehmende Einsamkeitsproblem, d. h. auf das Unvermögen der „modernen
Menschen“, ihre jeweilige Persönlichkeit zu realisieren und für sie einzustehen
und auf diese Weise ihre Einsamkeit wahrhaft zu überwinden. Das
Einsamkeitsproblem ist gerade durch die moderne technisierte und
rationalisierte Denk- und Lebensweise verschärft worden und drängt uns
fortwährend zu einer Antwort, die wahrhaft angemessen oder destruktiv-tödlich
sein kann. Das Zugehörigkeitsgefühl zur Gattung allein kann das
religiös-geistige Problem der Zunahme menschlicher Einsamkeit nicht lösen. Aber
auch die Vorherrschaft des rationalen, des rein männlichen und gefühlsentleerten
Kalküls vermag dies nicht und zeugt nur von der Schwäche der menschlichen
Persönlichkeit, die vor den persönlich existentiellen Fragen flieht und somit
vor sich selbst. Das dem Gattungsgefühl entsprungene Stammesdenken an sich, wie
es bei den Urmenschen wirksam war, führt überhaupt nicht zu irrationalen
Entgleisungen, sondern ist streng genommen ein von den natürlich gegebenen
Bedingungen abhängiges, d. h. ein stark instinktmäßig beeinflußtes Denken. Die
Urmenschen sahen sich noch nicht in dem Maße mit dem geistigen
Einsamkeitsproblem konfrontiert. Erich Fromm hat in seinem bemerkenswerten Buch
„Anatomie der menschlichen Destruktivität“ Hitler als einen nekrophilien,
sadistischen und damit einhergehend narzißtischen Menschen beschrieben:
„Drei weitere, eng miteinander verflochtene Charakterzüge
waren sein Narzißmus, seine Unbezogenheit und sein absoluter Mangel an Liebe,
Wärme und Mitgefühl. Sein Narzißmus ist der hervorstechendste Zug in diesem
Bild. Er weist alle typischen Symptome einer äußerst narzißtischen Person auf:
er interessiert sich nur für sich selbst, für seine Begierden, seine Gedanken, seine Wünsche; er redet endlos über seine
Ideen, seine Vergangenheit, seine Pläne; die Welt interessiert ihn nur, soweit
sie Gegenstand seiner Pläne und Begierden ist; andere Menschen spielen für ihn
nur eine Rolle, soweit sie seinen Zwecken dienen oder dafür benutzt werden
können; er weiß immer alles besser als alle anderen. Diese Sicherheit bezüglich
der Richtigkeit der eigenen Ideen und Pläne ist ein typisches Kennzeichen eines
intensiven Narzißmus“ (Fromm 37).
Narzißmus ist die Liebe zu sich selbst als einem Objekt, -
diesen Gedanken habe ich schon weiter oben erläuternd ausgeführt. Narzißmus ist
eine Spielart des Egozentrismus. Egozentrismus (extremer Individualismus) und
Narzißmus sind pervertierte Erscheinungen unserer Zeit und konnten sich kaum in
der vorgeschichtlichen Epoche entwickeln. Sie rufen ein quälendes, scheinbar
endlos fortdauerndes und destruktives Einsamkeitsgefühl hervor, das sich grundlegend
von der religiös-schöpferischen und frei angenommenen Einsamkeit unterscheidet,
die letztlich zur gottmenschlichen Gemeinschaft (zur Zwei-Einheit) hin
fortwährend überwunden werden kann. In der vorgeschichtlichen Zeit waren die
Menschen viel zu sehr in ein gemeinsam zu bewältigendes naturorientiertes Leben
eingebunden. Die Bedeutung des Persönlichkeits-Ichs war dem Urmenschen noch
nicht hinreichend bewußt. Wilber hat somit Unrecht, wenn er behauptet, daß das
frühkindliche Ich das narzißtischste sei. Er weiß offensichtlich nicht, worin
die Ursache für das Entstehen des Narzißmus wirklich besteht, oder will es
nicht wissen, um seiner Bewußtseinstheorie nicht widersprechen zu müssen. Der
neuzeitliche Mensch hat sich vom Reich der Natur soweit entfernt und in
gewisser Weise auch befreit, daß erst für ihn das Einsamkeitsproblem, das mit
der Realisierung der Persönlichkeit engstens verbunden ist, immer stärker
hervortritt. Wenn der neuzeitliche Mensch es nicht vermag, dieses Problem zu
lösen, so verliert er seine gottmenschliche Bestimmung und begibt sich in ein
destruktives Dasein. Auschwitz ist somit ausschließlich das Ergebnis
neuzeitlicher Destruktivität, die das Unvermögen, die personale Ganzheit zu
realisieren, widerspiegelt. Doch man muß feststellen, daß auch Adolf Hitler,
trotz all der von ihm zu verantwortenden Verbrechen, ein Opfer der
persönlichkeitsmißachtenden Verhältnisse seiner Zeit war.
Für Ken Wilber ist klar,
„daß die Moderne in Wirklichkeit eine Form der Entfaltung
des GEISTES als Anwesenheit in unserer heutigen Welt ist“ (S. 125).
Wilber entgegnet den von ihm kritisierten Traditionalisten
auf Seite 125, daß es schon
„in zehn Prozent der Jäger-und-Sammler-Gesellschaften und in
54 Prozent der Ackerbau-Gesellschaften Sklaverei gab, in 37 Prozent der
ersteren und 64 Prozent der letzteren die Praxis des Brautpreises und in 58
Prozent der ersteren und überwältigenden 99 Prozent der letzteren mehr oder
weniger häufig Kriege“ (S. 125),
was sich, ihm zufolge, durch neuere Befunde belegen läßt.
„Die Tempel dieser großartigen Götter wurden auf dem
gebrochenen Rücken von Abermillionen versklavter und gefolterter Menschen
errichtet, denen man nicht einmal ein Mindestmaß an menschlicher Würde
zubilligte und mit deren Blut und Tränen der Weg zum Altar dieses Gottes
getränkt ist“ (S. 125).
Und da Auschwitz und all die anderen unzähligen
Greueltaten, die in unserer gegenwärtigen geschichtlichen Epoche begangen
wurden und immer noch begangen werden, Wilber zufolge nur ein
erneutes Aufflammen vergangener barbarischer Bewußtseinsstufen ist, kann er zu
dem Schluß kommen:
„Und wenn die Traditionalisten bezüglich der guten Seiten
der Moderne so merkwürdig still sind, dann müssen wir ihnen doch ins Gedächtnis
rufen, daß die großen Befreiungsbewegungen - die Befreiung des Sklaven, der
Frauen, der Unberührbaren -, daß diese großen Emanzipationsbewegungen eine
Frucht der Hinwendung zur Ratio waren, jener Form, in der sich der GEIST in der
modernen Welt eben entfaltete. Die positiven Aspekte der Moderne wie zum
Beispiel der Fortschritt der Medizin, die für sich allein mehr Schmerzen und
Leid gelindert hat als jede andere Errungenschaft in der Geschichte, sind
nichts anderes als Eros und Agape der gegenwärtigen Entfaltung des GEISTES: Die
freiheitlichen Demokratien, und nur sie allein, sind die Manifestation des
GEISTES nicht in einem zynisch verheißenen mythischen Himmel, sondern hier und
jetzt auf der Erde, im konkreten Leben unzähliger Menschen, die bisher als
Sklaven, als das Eigentum anderer lebten, welche in aller Regel als ihre
frommen Herren zutiefst von der Herrlichkeit des großen und wunderbaren Gottes
überzeugt waren“ (S. 125/126).
Eine „Frucht der Hinwendung zur Ratio“ waren aber auch die
Greuel der modernen Zeit, aber das lag nicht an der Ratio an sich. Die Ratio,
und das habe ich weiter oben schon ausgeführt, existiert niemals losgelöst und
ist immer an ein personal-bewußtes Subjekt gebunden. Erst durch das
personal-bewußte Subjekt wird aus vorrangig instinktiven oder aus vorrangig
geistig intuitiven oder aus vorrangig geistig autoritären Beweggründen die
gutartige oder bösartige Richtung der Ratio bestimmt. In der Tat befähigte eine
ausgeprägte Ratio den Menschen, sich zu organisieren, um sich von Unterdrückung
und Elend zu befreien. Aber woher kam die Motivation des Menschen, seine Ratio
für den Kampf im Sinne eines menschenwürdigeren Lebens zu gebrauchen? Ohne die
ethische Grundintuition, ohne Mitleid und Mitgefühl, ohne Liebe und Gewissen,
wären die Menschen zu keiner Bewegung in der Lage gewesen. Nicht die Ratio war
der Motor, sondern das gottmenschliche Ethos. Wilber versteht das Problem der
Freiheit nicht, in der das Böse und das Gute potentiell angelegt sind. Wäre
alles von vornherein gut gewesen, hätte es keinerlei Polarität gegeben und
unsere Welt hätte sich nie ereignet. Erst durch die Polarität der Freiheit kann
in der Natur der Logos und letztlich im Menschen Gott, kann das gottmenschliche
Gewissen wirksam werden. Alles in dieser Welt hat immer zwei Seiten: Der
sogenannte Fortschritt in der Medizin wird heute zum Teil durch eine ungesunde
Lebensweise, durch zivilisatorische Krankheiten provoziert, die Medizin wird
gerade dadurch immer weiter aufgebläht. Und darüber hinaus wird der hippokratische
Eid oft nur noch als eine formale Pflichtübung absolviert, bevor das große
Geldverdienen losgeht, d. h., der Mensch wird auch hier zum Verdienstobjekt
degradiert. Und wie steht es mit der Sklaverei? Ist sie denn wirklich beseitigt
worden? Es hat sich doch nur die Form der Sklaverei geändert. Auf subtile Weise
werden in den reichen Industrienationen Millionen und aber Millionen von
Menschen zur entfremdeten und sehr oft zu unwürdiger Arbeit verpflichtet bzw.
erpreßt, die nahezu das ganze Leben bestimmt und die Menschen körperlich,
seelisch und geistig ruiniert. Ob die jeweilige Arbeit sinnvoll ist, steht
nicht wirklich zur Debatte, solange das Geld fließt und man die Arbeit noch
einigermaßen erträgt. Doch wenn z. B. die moderne Arbeitslosigkeit zuschlägt,
beginnt für viele Betroffene, trotz sozialer Absicherungssysteme, das große
depressive Jammern, weil plötzlich alles sinnlos erscheint und man nicht weiß,
was mit der freigewordenen Zeit sinnvoll anzufangen ist. Das „großartige“
westliche Schulsystem züchtet die willfährigen Sklaven für ein sinnentleertes
Dasein heran. Gebrochene Menschen leisten nicht wirklich Widerstand, sondern
fügen sich überwiegend ein in den „Mythos der Maschine“ (Lewis Mumford), welche
ein wenig Halt verspricht. Das ganze autoritätshörige, hierarchisch
durchorganisierte Leben ist eine einzige Sklaverei, auch die Herrschenden und
Besitzenden sind Sklaven ihrer Macht und ihres äußerlichen Reichtums. Es gibt
sie heute massenhaft: die Sklaven der Macht (Herr und Knecht zugleich), des Geldes,
des Erfolges, der Habgier, der Wollust usw. usf. Und was ist mit den Sklaven
der Dritten Welt, die auch für uns, die Sklaven der Ersten, arbeiten müssen?
Sehr viele von ihnen sind dem Verhungern nahe! Und die Demokratie als
sogenannte „Volksherrschaft“ ist funktional immer ein notwendiges
hierarchisches und kein freiheitliches Prinzip. N. Berdjajew sagt:
„Demokratie ist eine relative Form. Dem Wert der
Persönlichkeit und der Freiheit kommt aber absolute Bedeutung zu. Demokratie
bedeutet einerseits Souveränität des Volkes, Herrschaft der großen Anzahl, und
in diesem Sinne wäre sie für Persönlichkeit und Freiheit eher ungünstig.
Andererseits bedeutet Demokratie aber auch Selbstherrschaft des Menschen,
Menschen- und Bürgerrechte, Freiheit des Menschen, und in diesem Sinne kommt
ihr ewige Bedeutung zu“ (Berdjajew 38).
Demokratie kann nur mit freien Persönlichkeiten in einer
freien Gemeinschaft wahrhaft funktionieren. Und dennoch bleibt die
Wortverbindung „freiheitliche Demokratie“ angesichts hierarchischer Strukturen
demokratischer Verhältnisse in sich widersprüchlich. Diese Wortverbindung ist -
vor allem auf die gegenwärtig zivilisatorischen Verhältnisse angewendet - eine
Lüge, mit der die Menschen sich beschwichtigen und beschwichtigt werden, mit
der die vorherrschende Unfreiheit und Verantwortungslosigkeit verharmlost wird.
„Die freiheitlichen Demokratien, und nur sie allein
[Hervorhebung von mir], sind die Manifestation des GEISTES“ (S. 126).
Mit dieser idealistischen (und arroganten!) Aussage stellt
Wilber seinem „GEIST“ ein ziemliches Armutszeugnis aus. Und die Grausamkeiten,
die es auch in früheren geschichtlichen und vorgeschichtlichen Epochen gegeben
hat, sind doch nicht verschwunden. Wie verhält es sich da mit Vietnam oder dem
Irak, dem Kosovo und Afghanistan, um nur mal einige wenige herausragende
Beispiele zu nennen? Auch das sind Ergebnisse des Handelns „freiheitlicher
Demokratien“, die das Wort Freiheit in den Mund nehmen, um Kriege führen zu
können. Diese Kriege sind das Ergebnis eines geldorientierten Machtkalküls,
einer skrupellosen Ratio im Dienste ökonomischer Interessen und egozentrischer
Erfolgssucht und nicht des Stammesdenkens. Auch das Machtkalkül ist mehr oder
weniger immer global orientiert. Globales Denken kann sowohl friedliebend-integratives
als auch destruktiv-machtorientiertes Denken sein, für die Richtung des Denkens
ist primär nicht die Stärke der Ratio verantwortlich, denn sie ist an und für
sich genommen gar nichts - primär für eine wahrhaft sinngeleitete Ratio ist
unsere ethische Grundintuition.
Unter anderem zur Problematik der Evolution verweise ich
weiterführend auf Nikolai Berdjajews Bücher: Philosophie des freien Geistes,
J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) Tübingen, 1930; insbesondere das 9. Kapitel:
„Geistige Entwicklung und das eschatologische Problem.“ - Sowie: Versuch einer eschatologischen Metaphysik. (Schöpfertum und Objektivation), Verlag
Hartmut Spenner, Waltrop, 2001, insbesondere Kapitel 6.
Ich denke, ich habe die wesentlichen Kritikpunkte zu Ken
Wilbers Buch „Das Wahre, Schöne, Gute“ besprochen. In diesem Teil werde ich nur
noch zu einigen wenigen mir wichtig erscheinenden Anwendungen Stellung nehmen,
die Ken Wilber m. E. aus zum Teil völlig falschen Grundannahmen vornimmt, die
wiederum zu völlig verzerrten Schlußfolgerungen führen.
Ken Wilber bespricht in Kapitel 4 und 5 „Eine integrale
Theorie der Kunst“. Er sagt:
„Ich behaupte nun, daß das Wesen und die Bedeutung von
Kunst durch und durch holonisch
sind. ... Das Kunstwerk existiert in Kontexten in Kontexten in Kontexten, ohne
Ende. ... Ändert man den Kontext, ruft man eine andere Bedeutung auf“ (S. 175).
Und weiter:
„Aber beginnen wir hier, mit der ursprünglichen
künstlerischen Wahrnehmung, dem ursprünglichen Impuls, und nennen wir dies das Urholon der Kunst. ... Das
künstlerische Urholon gelangt, auch wenn es zunächst im Bewußtsein des
Künstlers auftaucht, sofort in zahlreiche schon vorhandene Kontexte, in die es
sofort eingegliedert wird. Dies können unbewußte Strukturen im Künstler selbst
sein, Strukturen in dessen Kultur oder auch umfassendere Strömungen im
allgemeinen Weltgeschehen, von denen der Künstler vielleicht gar nichts weiß.
Und doch hinterlassen diese größeren Holons vom ersten Augenblick der Existenz
des Urholons an ihre Abdrücke auf ihm: Sie prägen ihm die Codes der
umfassenderen Strömungen unauslöschlich ein“ (S. 177/178).
Wie ich bereits im 7. Teil erörtert habe, kann Wilbers
Holon-Theorie nur für eine systematisch-objektivierende Beschreibung der
äußeren gesetzesorientierten Hierarchie dienen. Das Wirken des unbewußten
Logos-Sinns in einer evolutionistischen Welt und das Auftauchen des wesenhaft
inneren, geistig-schöpferischen Menschen (Gottmenschen) begrenzt die Gültigkeit
dieser hierarchischen Beschreibung einer gesetzmäßigen Ordnung. Mit der
Behauptung der Existenz eines „Urholons“ gerät Wilber in Widerspruch zur
eigenen Theorie, die wiederum ein „Urholon“ gar nicht zuläßt. Denn welche Teile
beinhaltet das „Urholon“ als Ganzes?? Im geistigen Schaffensprozeß des Menschen
findet eine ganzheitliche Neuschöpfung statt, die primär aus dem Zusammenwirken
der Freiheit des Menschen und der Gnade Gottes (transzendente Prinzipien)
hervorgeht. Wäre das Urprinzip innermenschlichen wahrhaften Schaffens
„Hierarchie“, wäre ein freies Schaffen unmöglich und autoritative Abhängigkeit
würde an die Stelle des Schaffens treten. Das Urprinzip läßt sich hingegen als
außerhierarchische gottmenschliche Grundintuition beschreiben, die jedoch nur
in bezug auf eine äußere Welt innerlich offenbart werden kann. Die Kunst ist
somit ihrem Wesen nach überhaupt nicht „holonisch“. Kunst ist wesenhaft
über-holonisch, wenn ich das hier einmal so sagen darf. Im unmittelbaren
Schaffensprozeß findet die Sinngebung statt, die auf ein Kunstwerk immer nur symbolisch
übertragen werden kann. Natürlich sind am Schaffensprozeß die Geschichte und
Meta-Geschichte (Berdjajew) des Schaffenden unmittelbar beteiligt. Der Akt des
Schaffens an sich ist ein von einer Persönlichkeit ausgehender und integriert
und transzendiert alles (auch die Zeit, die Geschichte) ganzheitlich und
überzeitlich. Auch die Kontexte wirken in den Schaffensprozeß hinein, aber in
diesem Prozeß findet eine Neubewertung und Umwertung der Kontexte statt und
bereitet ihre Veränderung geistig vor. Nicht der Mensch wird primär von den
Kontexten bestimmt, sondern die Kontexte ausgehend vom gottmenschlichen,
existentiellen Zentrum. Würden die Kontexte uns vollständig bestimmen, wären
wir Menschen nicht existent. Wir Menschen existieren nur, weil wir die Welt
verändern können und sie nicht hinnehmen, wie sie ein und für alle Male gegeben
zu sein scheint. Alles ist im Fluß, hierin hatte Heraklit Recht, mehr Recht als
Parmenides, der das primär Wesenhafte eher als ruhend, als „ungewordene,
unvergängliche Substanz“ (Wörterbuch 39) ansah.
Im Zusammenhang mit seinen Erörterungen zu einer
integralen Kunst kritisiert nun Wilber Heideggers Interpretation des Gemäldes
von van Gogh, das „Ein Paar abgetragene Schuhe“ (S. 187) darstellt, weil
Heidegger die Interpretation vorgenommen hat, ohne die Hintergründe für die
Entstehung dieses Gemäldes zu berücksichtigen, und daß deshalb
„praktisch keine einzige Aussage dieser Interpretation
zutrifft“ (S. 188).
Ich halte diese Kritik von Wilber für nicht
gerechtfertigt, da wir ansonsten zu allen Kunstwerken, für die die jeweilige
kontextuale Entstehungsgeschichte nicht überliefert wurde, keine wahrhaften
Aussagen machen könnten. Grundlegend meine ich, daß wir auch ohne die konkrete
Entstehungsgeschichte des Kunstwerkes zu kennen, einen wahrhaften Zugang zu ihm
finden können. Nun interessiert mich hier aber vor allem Wilbers eigene
schlußfolgernde Interpretation dieses Gemäldes. Van Gogh verband offensichtlich
mit den Schuhen ein ihn erschütterndes Erlebnis, das ihn in den vierzig Tagen
widerfuhr, in denen er, während er diese Schuhe trug, einen schwerverletzten
Bergmann gesund pflegte. Van Gogh faßte sein Erlebnis gegenüber Gauguin, einem
Freund van Goghs, in die Worte (von Gauguin wiedergegeben):
„Ich hatte in der Gegenwart dieses Mannes, der auf seiner
Braue mehrere Narben trug, eine Vision der Dornenkrone, eine Vision des
wiederauferstandenen Christus“ (S. 191).
Daraufhin zog van Gogh mit seinem Pinsel folgenden
Schriftzug und rief diesen aus:
„Ich bin der Heilige Geist, Ich bin heil im Geiste“ (S.
192).
Wilber interpretiert nun diese Worte als ein
transpersonales Geschehen („transpersonale Interpretation“ – S. 193):
„Der transpersonale Psychologe würde also sagen, daß, wie
auch immer man Vincents Vision sonst noch interpretieren will, alles ganz klar
darauf hindeutet, daß es sich sehr wahrscheinlich um eine echte Vision des
radikalen Potentials in uns allen handelte. Diese höheren Zustände und Visionen
können gelegentlich zusammen mit pathologischen Erscheinungen oder Neurosen
auftreten, doch sind diese Zustände selbst deshalb nicht ihrem Wesen nach
pathologisch. Im Gegenteil: Forscher bezeichnen sie immer wieder als Zustände
eines außerordentlichen Wohlbefindens.
Deshalb war Vincents zentrale Vision höchstwahrscheinlich weder krankhaft noch
psychotisch, noch eine Geistesstörung, weshalb sich Gauguin ja auch ständig
über diejenigen lustig macht, die so etwas glauben könnten: ‚Ganz bestimmt war
er verrückt.’ Dies bedeutet ganz bestimmt nur eines: Er hatte Kontakt zu einer
Wirklichkeit, die zu erleben wir uns alle glücklich schätzen müßten“ (S. 193).
Wilber stellt fest:
„Und deshalb liegt die Grundbedeutung dieses Gemäldes von
van Gogh – nicht die einzige Bedeutung, aber die grundlegende Bedeutung – in
etwas ganz Einfachem: Es sind die Schuhe, in denen Vincent Jesus pflegte, den
Jesus in uns allen“ (193).
Wie kommt Ken Wilber hier zu der Annahme, daß es sich um
ein transpersonales Gipfelerlebnis handeln könne? Wer ist denn dieser Jesus in
uns allen wirklich? Ist er in uns allen nicht immer wieder wahrhaft konkret
persönlich erfahrbar? War Christus selbst nicht Person in seiner Ganzheit, der
vor allem nicht Dulder im negativ-passiven Sinne war, sondern geistigen
Widerstand leistete und diesen kompromißlos verteidigte, auch in Erwartung der
Kreuzigung? Hat Christus nicht vor allem schöpferisch gelitten für die
göttliche bzw. wahrhaft ethisch-religiöse Freiheit? Auch van Goghs Aufopferung
für den sterbenskranken Bergmann war doch ein freiwillig ertragenes und somit
gesegnetes Leid, welchem er sich ausgesetzt hat, damit das Leiden konkret
überwunden werden konnte. Van Gogh hat nicht geholfen, um sich letztlich in
„Wohlbefinden“ auflösen zu können, also aus utilitaristischen oder
eudämonistischen Beweggründen. Auch van Goghs aufopferungsvolle Hilfe wurde
motiviert durch eine in ihm schöpferisch sich ereignende ethische
Grundintuition – die letztlich in der persönlichen Liebe gipfelt bzw. schon
selbst Liebe (verwirklicht z. B. im Mitleid) ist. Den Heiligen Geist mit
„Wohlbefinden“ gleichzusetzen, zeugt vor allem vom Unverständnis für die
christliche Wahrheit, für die authentisch und ganzheitlich erfahrbare
Dreifaltigkeit, die da heißt: Vater, Sohn und Heiliger Geist. Anders
ausgedrückt kann man die Dreifaltigkeit auch beschreiben mit den Wortsymbolen:
Gott, Freiheit und Wahrheit. Das wiederum heißt, daß die Wahrheit
gottmenschlich, eben personal und nicht transpersonal ist. Abgesehen davon, daß
wohl kein Außenstehender mit Gewißheit sagen konnte oder kann, was sich in van
Gogh existentiell damals wirklich ereignet hat (Das konnten höchstens die, die
sich unmittelbar in Liebe mit ihm verbunden wußten. Vielleicht der Bergmann
selbst?), denn es handelte sich um eine ganz persönliche Erfahrung van Goghs
selber, zielt eine transpersonale Interpretation an der Einzigartigkeit jeder
wahrhaft religiösen Erfahrung weit vorbei; eine transpersonale Interpretation
ist geradezu unwahr.
Im weiteren Verlauf seiner Erörterungen zur Theorie der
Kunst stellt Wilber auch die Kunst in sein geradlinig evolutionistisches System
hinein:
„Wenn ich übrigens sage, daß alle vier Quadranten
evolvieren, dann ist damit auch gemeint, daß Kunst selbst evolviert. Hierfür
werde ich immer wieder kritisiert“ (S. 437)
Wilber wird mit Recht kritisiert, sofern er die Kunst im
ganzen der Evolution unterwirft. Meine Kritik basiert hier wiederum auf meinen
Ausführungen im 7. Teil. Recht hat Wilber nur dahingehend, daß Kunst ein
evolvierendes Moment mit einschließt, welches sich im Verhältnis zur und in der
Einschließung der hierarchisch-holonischen Welt ergibt (z. B. die Entwicklung
des Werkzeugs bzw. der Technik). Wenn Wilber in diesem Zusammenhang Habermas
zitiert:
„Wie Habermas gern sagt, kann Lernen nicht nicht
geschehen“ (S. 438),
so muß man immer die zwei Aspekte des Lernens
unterscheiden: passiv-statisches und aktiv-schöpferisches Lernen. Erst das
aktiv-schöpferische Lernen schafft Veränderungen und trägt ein wesentlich neues
und entscheidendes Element in die Kunst hinein – und zwar die existentielle
gottmenschliche Wahrheit bzw. Intuition. Natürlich ist ein rein passives Lernen
nicht möglich, aber das, was am Lernen nicht passiv, sondern aktiv-schöpferisch
ist, steht jenseits der Evolution und ist außerhierarchisch. Das tendenziell
passive Lernen ist ein Lernen im naturhaft-evolutionistischen Sinne, ein Lernen
von der gesetzmäßigen Natur (z. B. Naturwissenschaft); das primär
schöpferisch-aktive Lernen dagegen ist wesenhaft eine außerhierarchische
ganzheitliche Neuschöpfung innerhalb des personalen, d. h.
freiheitlich-geistigen Wesens. Ohne das außerhierarchisch-religiöse Element
wäre u. a. die Kunst nicht möglich, denn gerade das Religiöse innerhalb der
Kunst führt uns in eine wahrhaft andere Welt, auf die sich die Kunst wesenhaft
bezieht. Das wahrhaft Religiöse ist die gottmenschliche Liebe in ihrer
Schönheit bzw. in ihrem Schaffen des Wahren, Guten, Schönen. Und diese Liebe
fließt beim wahrhaften Schaffensprozeß in das Kunstwerk ein, erhält ihren
symbolischen Ausdruck. Diese Liebe kann durch den schöpferischen Betrachter des
Kunstwerkes innerlich neu erlebt und erweitert werden. Aus der „strahlenden
Leere“, wie Wilber auf Seite 439 im Zusammenhang mit seinen Erörterungen zur
Kunst meint, wird uns keine Schönheit entgegenleuchten können. Die sogenannte
„Leere“ (das Nichts) kann nicht strahlen, denn dort befindet sich alles in
reiner Potentialität, und es läßt sich über diese Potentialität keine
differenzierte Aussage machen, und es läßt sich von dieser Potentialität auch
keine wahrhaft charakteristische Beschreibung erstellen. Schönheit ereignet
sich erst innerpersonal und bedarf und bedurfte der Zeit, die wiederum erst
innerpersonal-gemeinschaftlich in das Überzeitliche wahrhaft transformiert und
integriert werden kann. Ich habe auch nichts gegen eine „integrale Hermeneutik“
(Wilber, S. 440) einzuwenden, solange man sich darüber im klaren ist, daß eine
vermeintlich rein wissenschaftliche Methode in der Kunstbetrachtung niemals
angemessen sein wird. Das authentische Kunstwerk kann, nach Erlangung eines
entsprechenden Mindestmaßes an rational-objektivierenden Geistesfähigkeiten und
eines grundlegenden Vernunftwissens, letztlich nur von der
ganzheitlich-liebenden Persönlichkeit angemessen erfaßt und erlebt werden. Ken
Wilber zitiert Couzens Hoy:
„... aber wenn ... es nun keine objektive Wahrheit mehr
gibt, dann ist das Kunstwerk der Krankheit der obsessiven Selbsteingenommenheit
der zeitgenössischen Phantasie ausgeliefert“ (S. 198).
Wenn aber Wilber hinsichtlich einer „integralen
Hermeneutik“ das Kunstwerk nach sogenannten „objektiven“ Maßstäben korrekt und
beweiskräftig beurteilen will, so wird er dem Kunstwerk auch nicht gerecht. Es
gibt, wie von mir im 5. Teil vertreten, keine „objektive Wahrheit“ im Sinne
einer durchgängig-allgemeingültigen Wahrheit, die darüber hinaus das Wesenhafte
des Kunstwerkes zutreffend und allgemeinverbindlich wiedergeben bzw. beurteilen
könnte. Die Wortverbindung „objektive Wahrheit“ ist ein terminologischer Fehler
(siehe den 5. Teil), ist in sich widersprüchlich und suggeriert, daß es eine
völlig vom Subjekt unabhängige Wahrheit gäbe. Aber das Wort „Wahrheit“ ist
primär ein Wortsymbol, das uns auf innere geistige Prozesse, die vor allem
emotional-persönlich sind, hinweist. Auch die relative, objektivierte Wahrheit
der Welt der Objekte ist nur vom personalen Subjekt zu ermessen. Das personale
Subjekt muß sich schöpferisch und vor allem innerlich ins Verhältnis zur
äußeren Welt setzen, damit es überhaupt irgendwelche Aussagen zu jener Welt
machen und auf diese verändernd Einfluß nehmen kann, und das muß hinsichtlich
einer lebendigen personalen Existenz fortwährend geschehen, soll diese Existenz
nicht abrupt enden. Auch wenn der Alltag völlig gewohnheitsmäßig abzulaufen
scheint, jede kleinste physische Regung zur Aufrechterhaltung unseres
Stoffwechsels setzt ein Minimum geistig-schöpferischer Arbeit voraus, zumal wir
schon lange nicht mehr rein instinktmäßig funktionieren. Rein instinktives
Leben ist immer impersonales Leben. Wahrheit eignet letztlich und wahrhaftig
nur der Person, und genauer, der Persönlichkeit. Bei der Betrachtung eines
Kunstwerkes walten also immer subjektive geistige Kräfte, die grundlegend immer
ein gefühlsmäßiges Moment der Liebe beinhalten (das können auch abwehrende
Gefühle sein). Der Betrachter kann nicht rein passiv und sachlich neutral das
Kunstwerk vor sich ausbreiten und einen sogenannten „objektiven
Wahrheitsgehalt“ ermitteln. Jeder Betrachter läßt im Gegenteil seine ganze
persönliche Geschichte, seine ganze Existenz dynamisch in die
Betrachtung einfließen, die natürlich immer auch auf objektivierender und
objektivierter Basis stattfindet, und erweitert in sich persönlich auf
einzigartige und doch gemeinschaftliche Weise die Wahrheit, die der Künstler
beim Schaffen des Kunstwerkes auf dieses symbolisch übertragen hat. Der
Betrachter kommuniziert und - vor allem - partizipiert über das Kunstwerk mit
dem Künstler und nähert sich ihm existentiell und gemeinschaftlich-liebend. Der
authentische Betrachter wird selbst zum Künstler. Und Kunst ohne Liebe
bezeichne ich nicht als Kunst, sondern als Technik. Aber ob es sich nun von meinem
dargelegten Standpunkt aus jeweils um ein Kunstwerk handelt oder nicht, sollte
man nicht vorschnell festlegen, weil sich die Liebe auch über Umwegen verborgen
oder verzerrt ausdrücken kann, was nicht immer leicht zu erkennen ist.
Grundlegend sind also das Subjekt, das das Kunstwerk geschaffen hat, und das
Subjekt, welches ebenfalls in Freiheit und Gnade das Kunstwerk schöpferisch
betrachtet; d. h., Gott wirkt als verbindendes Element in das Schaffen und in
die Betrachtung hinein, Gott als das zur Liebe rufende personale Verlangen. Und
das macht den primären Sinn der Kunst aus: Der schöpferische Künstler und der
schöpferische Betrachter verbinden sich dialogisch über Gott. Schon beim
Schaffen des Kunstwerkes hat der Schaffende den Betrachter immer vor Augen, dem
er sein gottmenschliches, sein gemeinschaftliches Verlangen, die Liebe,
offenbaren will. Und das ist vielleicht auch van Gogh in seinem oben erwähnten
Gemälde gelungen, aber vielleicht hat gerade darauf Heideggers Interpretation
(auf S. 188 von Wilber zitiert) nicht deutlich genug aufmerksam machen können.
Van Goghs Gemälde von den Schuhen muß nicht im strengen Sinne in einen
kontextualen Zusammenhang (z. B. die genaue Berücksichtigung der äußeren
Umstände der Entstehungsgeschichte) gestellt werden, diese Schuhe symbolisieren
einen Wahrheitsgehalt, der über die äußeren Kontexte hinausgeht, der auch in
der Gegenwart erlebt werden kann. Und es ist entgegen Wilbers Auffassung (S.
200) sehr wohl erlaubt, die eigenen unmittelbaren und dynamisch-veränderlichen
Kontexte (vor allem auch in geistiger Hinsicht) in das Kunstwerk einfließen zu
lassen, solange diese Kontexte von authentischer Liebe getragen werden. Dabei
spielt die Phantasie im positiven, geistig-schöpferischen Sinne eine sehr
wichtige und unabdingbare Rolle. Erst dadurch wird das Kunstwerk wieder konkret
lebendig und fortwährend neuartig. Natürlich bedeutet eine lebendige Phantasie
immer auch eine Gratwanderung zwischen Wahrheit und Fiktion, aber wer sich
dieser Gefahr nicht freiheitlich stellt, gerät in eine starre und tote
Beweisabhängigkeit seiner Anschauungen und Überzeugungen. Authentizität ist
auch eine Frage der Zeit und der Übung und schließt Verstandesarbeit
gleichermaßen ein. Die von Wilber erwähnten
„symptomatischen Theorien, ... seien sie imperialistisch,
rassistisch, kapitalistisch, ökologisch oder feministisch...“ (S. 201),
haben in der Tat einen sehr engen und hegemonialen Kontext
gewählt, aber vor allem stellen sie sich damit über die authentische Liebe und
verhindern bzw. zerstören sie. Genauso verhindert aber auch der bestimmende
Anspruch einer „objektiven Sicht“, zu der Wilber bei seinen Erörterungen zur
Theorie der Kunst tendiert, einen von Liebe getragenen und wahrhaften Zugang
zum Kunstwerk. Wilbers Forderung:
„Der Kunst einen Ort zu geben heißt also, sie in ihre
verschiedenen Kontexte einzuordnen“ (S. 202),
verlangt nach dem Prinzip einer endlosen Folge
kontextualer Abhängigkeiten eine nicht zu bewältigende, exzessive
rational-geistige Sisyphusarbeit, die immer nur neue Verwirrung stiften würde.
Denn es kann in erster Linie gar nicht darum gehen, eine vollständige bzw.
immer umfassendere „objektive“ Darstellung kontextualer Zusammenhänge
verstandesmäßig offenzulegen. Dies wäre, mit aller Entschlossenheit verfolgt,
ein Weg in den entpersönlichten Wahnsinn. Es kann also nur darum gehen, neue
Horizonte (Kontexte) liebend zu transzendieren und in einem schöpferischen
Zusammenwirken der personal-gemeinschaftlichen Wahrheit ganzheitlich-geistig
zuzuführen. Der Mittelpunkt bleibt letztlich die gemeinschaftlich liebende
Persönlichkeit (schon durch den Logos-Sinn unbewußt angestrebt), das
existentielle Zentrum, welches als Träger der grundlegenden Werteintuition die
Welt im innersten wahrhaft zusammenhält. Wäre es nicht so, würde die Freiheit
die Welt vernichten, wäre die Freiheit erst gar nicht existent geworden.
Wilber sagt auf Seite 205:
„In diesem kontemplativen Gewahren kommt das eigene
ichhafte Ergreifenwollen in der Zeit vorübergehend zur Ruhe. Man gibt sich
entspannt seinem einfachen Gewahren hin. Man ruht bei der Welt, wie sie ist,
nicht so, wie man sie haben will. Man steht der Stille gegenüber, dem Auge im
Zentrum des Sturms. Man handelt nicht, um Dinge zu verändern; man betrachtet
das Objekt, wie es ist. Große Kunst besitzt diese Macht, diese Fähigkeit,
unsere Aufmerksamkeit zu fesseln und aufzuheben: Man schaut, manchmal
ehrfürchtig, manchmal schweigend, aber immer hört die rastlose Bewegung auf,
die sonst das Merkmal eines jeden wachen Moments ist“ (S. 205).
Hier kommt zum Ausdruck, was Wilber möchte: Hinnehmende
kontemplative Ruhe; die Welt ist in Ordnung, wie sie ist; die Welt muß nicht
verändert, sondern nur betrachtet werden; die Stille nimmt sich aus dem „Sturm“
heraus und betrachtet die „Dinge“ „objektiv“ oder wie auch immer distanziert.
Das Kreuz Christi wird uminterpretiert, damit der ethischen Gewissenspflicht
(nicht der absoluten) zur Realisierung der Freiheit und - damit verbunden - zur
wahrhaften Verantwortung der Liebe geflohen werden kann. Denn die
ethisch-religiöse Pflicht (aber nicht das schlechte Gewissen) schwimmt gegen
den Strom der fremdbestimmten Anpassung an eine hierarchische Machtordnung im
weitesten Sinne. Und diese Pflicht richtet sich nicht nach Erfolg, Wohlbefinden
oder einer anderen Art utilitaristischer oder eudämonistischer Zielsetzung.
Große Kunst besitzt überhaupt keine Macht, unsere Aufmerksamkeit zu fesseln im
Sinne einer rein hinnehmenden Betrachtung; große Kunst will auch nicht unsere
Aufmerksamkeit aufheben, sondern konzentrieren auf das personal-gemeinschaftliche
Wesenhafte in uns. Große Kunst ist das Symbol der Liebe in ihrer konkreten und
wahrhaft differenzierten und transzendierenden Hinwendung zur Welt, selbst
dann, wenn diese Kunst die Häßlichkeit bloßstellt und zu ihrer Überwindung aufruft.
Über die Kunst, die auch immer ein ganzheitlich-weltanschauliches Element
beinhalten muß, kann die personale Liebe gemeinschaftlich realisiert werden,
und das ist die grundlegendste Bedeutung der Kunst. Wenn Wilber sagt:
„Man schaut, manchmal ehrfürchtig, manchmal schweigend,
aber immer hört die rastlose Bewegung auf, die sonst das Merkmal eines jeden
wachen Moments ist“ (S. 205),
so sage ich: Mit der wahrhaften Betrachtung eines
Kunstwerkes endet die unstete äußerlich begrenzte Hast, aber es beginnt die
wahre innere Bewegtheit und Unruhe der Liebe des Liebenden zum Geliebten. Und
diese wahrhaft höchste Liebe umfaßt innerlich alles vom Geliebten in
unermeßlichem Leid und in unermeßlicher Freude zugleich, diese Liebe umfaßt die
personale Geschichte des Geliebten in letztlich logisch nicht zu fassender
Ganzheitlichkeit, diese Liebe ist der liebende Ruf, dem Liebenden wahrhaft
gerecht zu werden und ihm in Wahrheit zu folgen und sich gemeinsam mit ihm zu
verwirklichen, diese Liebe ist Widerstand und Veränderung im Sinne intuitiv
erlebter Wahrhaftigkeit und kann mit einmal Erreichtem niemals zufrieden sein.
Liebe ist Bewegung in ihrem ewigen Sinn für alle und zu allem und kann sich nur
personal-gemeinschaftlich-konkret verwirklichen. Wenn Wilber auf Seite 206 schlußfolgert:
„Große Kunst ergreift uns gegen unseren Willen und hebt
diesen Willen auf“ (S. 206),
so halte ich dem entgegen, daß große Kunst niemals gegen
den authentischen Willen gerichtet ist, sondern diesen geradezu bestärken will.
Große Kunst ergreift uns nur dann, wenn wir uns für den authentischen Willen
(Liebe, wahrhaftes Gewissen, Gott) frei machen und den uns fremdbestimmenden
Willen (Über-Ich, schlechtes Gewissen usw.) überwinden. Entsetzlich wäre es,
würde folgende Aussage Wilbers (S. 209) die Wahrheit an sich benennen:
„Stelle dir den schönsten Menschen vor, den du kennst.
Stelle dir den Augenblick vor, als du ihm oder ihr in die Augen blicktest und
für eine flüchtige Sekunde gebannt warst: Du konntest die Augen nicht von
dieser Vision losreißen. Die Zeit blieb stehen, und du starrtest gebannt in die
Schönheit. Stelle dir jetzt vor, daß dieselbe Schönheit dir aus jedem einzelnen
Ding im ganzen Universum entgegenstrahlt: jedem Stein, jeder Pflanze, jedem
Werk, jedem Bach, ja selbst aus den Müllhaufen und gescheiterten Träumen – all
dies strahlt diese Schönheit aus“ (S. 209).
Das man auch einem Müllhaufen etwas Schönes abgewinnen
kann, das will ich nicht bestreiten, aber der Müllhaufen ist in dieser Welt
mittlerweile zu einem großen Problem geworden. Gerade der Müllhaufen ist weit
über sein äußeres Vorhandensein hinaus ein Ausdruck menschlicher Eigensucht und
Selbstbezogenheit und Häßlichkeit. Es ist nicht alles schön in dieser Welt,
sondern Schönheit ist eine Aufgabe, die wahres Menschsein, d. h. wahrhaft
innerlich-geistige Arbeit von uns verlangt. Wenn alles schon pure Schönheit
wäre, bliebe für uns nichts zu tun, könnten wir unsere dann sinnlose Existenz
beenden, wäre auch die negative Benennung „Müllhaufen“ nicht mehr zutreffend.
Gerade auch das letzte Zitat hat wieder deutlich gemacht, daß Ken Wilbers
tendenziell abstrakt-spekulative Philosophie mit einer wahrhaften Ethik nicht
zu vereinbaren ist.
In Kapitel 6 spricht Wilber von drei Hauptkomponenten des
Bewußtseinssystems:
„Grundstrukturen, vorübergehende (transitorische)
Strukturen und das Selbst (oder Selbstsystem)“ (S. 212).
Ich sehe keinen Grund, mich mit dieser Problematik
tiefergehend auseinanderzusetzen, zumal hier Wilbers Theorie keine wesentlich
neuen Aspekte hinzugefügt werden und vom Autor, bedingt durch viele falsche
Grundannahmen, eine völlig verzerrte Beschreibung innermenschlich geistiger
Prozesse und Entwicklungen vorgenommen wird. Folgende Gedanken Wilbers zu dem
von ihm vertretenen Selbst-System scheinen mir dennoch wichtig, zitiert zu
werden:
„Dieses Selbst-System ist in vielerlei Hinsicht am
wichtigsten, weil es die Bühne des Handelns darstellt. Ich habe die Meinung
vertreten, daß das Selbst-System der Ort verschiedener entscheidender
Fähigkeiten und Operationen ist, nämlich Identifikation (der Ort der Selbst-Identität), Organisation (was der Psyche ihren Zusammenhalt
verleiht), Wille (der Ort der
Auswahl innerhalb der Zwänge der gegenwärtigen Entwicklungsebene), Abwehr (der Ort der Abwehrmechanismen, der phasenspezifisch
und phasentypisch, hierarchisch organisiert ist), Stoffwechsel (die »Verdauung« der Erfahrung) und Navigation (Entwicklungsentscheidungen)“ (S. 215).
Wilber muß uns die Antwort auf die Frage schuldig bleiben,
aus welcher Motivation heraus eine Identifikation des Selbst mit den
verschiedenen Ebenen des Bewußtseins überhaupt stattfinden soll oder kann. Wenn
der „GEIST“ als das Uncharakterisierbare, als die diffuse Wahrnehmung des
Absoluten letztlich das ursprüngliche bzw. höchste Selbst ist, wie kann dann
von diesem Selbst überhaupt ein Wille ausgehen bzw. ein Wille provoziert oder
motiviert werden? Die Frage, die behandelt werden muß, lautet deshalb: Welcher
ethisch schaffende Werteprozeß bzw. welche Umwertung geht vom Selbst aus? Ich
frage mich auch, welcher Art der Wille sein muß, der uns zu einem „göttlichen
Selbst oder GEIST“ (S. 224) bewegen könnte? Ist die Bewegung zum „GEIST“ eine
unvermeidlich vorgegebene? – Dann ist der freie menschliche Wille völlig
belanglos. Der Wille kann auch nicht auf einen „Ort der Auswahl innerhalb der
Zwänge der gegenwärtigen Entwicklungsebene“ reduziert werden, denn dann würde
er über die jeweilige Entwicklungsebene nicht hinausgelangen. Weiterhin: Kann
Psyche organisiert werden? Systematisch kann man Abläufe organisieren, auch
geistige Prozesse lassen sich im Verhältnis zu äußeren Prozessen organisieren.
Aber die Psyche befindet sich wesenhaft jenseits organisatorisch-systematischer
Abhängigkeiten, die Psyche ist ein Aspekt des personal-bewußten Geistes, des lebendigen
Geistmenschen, und dessen Existenz vollzieht sich immer ganzheitlich über- bzw.
außerhierarchisch. Die Psyche ist wesenhaft Seelenbewußtsein (unmittelbar
erlebtes Ich), sie wird getragen und gespeist von bewußten und unbewußten
Momenten, sie entsteht letztlich aus der Verbindung von Körper, Freiheit und
immanent wirkenden transzendenten Geistprinzipien. Die Psyche ist eingebettet
in die ganze Persönlichkeit, letztere kann nicht hierarchisch bzw. sezierend,
sondern wahrhaft nur aus einem ganzheitlich-personalen Wahrnehmungsprozeß
heraus verstanden werden, der wiederum grundlegend befreit werden muß von den
Hemmnissen fremdbestimmter Abhängigkeiten (Über-Ich, Schattenemotionen usw.).
Und nur der wahrhaft selbstbestimmte Wille ist gemeinschaftlich orientierter
Wille. Und nur das Persönlichkeitsselbst ist wahrhaft existierendes Selbst.
Eine Erörterung zu den Begriffen „Abwehr“, „Stoffwechsel“ und „Navigation“
erübrigt sich angesichts einer fatalen spekulativen Um- und Hindeutung
unmittelbarer Selbstwahrnehmung. Wilbers vorzugsweise objektivistische
Herangehensweise zerstört letztlich ein konsistentes Menschenbild.
Mir ist es wichtig, zum Schluß noch einmal auf die in der
Anmerkung 21 zum 6. Kapitel geäußerten Gedanken Ken Wilbers zur Problematik der
Kindheit einzugehen. Ken Wilber schreibt:
„Hat etwa das Neugeborene die Fähigkeit, sich kognitiv in
die Rolle eines anderen zu versetzen? Nein, diese Fähigkeit taucht erst um das
siebte oder achte Lebensjahr auf. Aber ohne diese Fähigkeit, sich in die Rolle
eines anderen zu versetzen, gibt es auch keine Fähigkeit zu wirklichem
Mitgefühl, zu altruistischer Liebe oder intersubjektiver Fürsorge; es gibt
keine rücksichtsvolle Ethik und moralische Tugend und keinen Dienst am anderen.
Dieser kindliche Zustand ist nach praktisch einhelliger Meinung ein äußerst
egozentrischer und narzißtischer Zustand“ (S. 452/ 453).
Ich teile diese „einhellige Meinung“ nicht. Zunächst
einmal: Was meint Wilber mit „kognitiv“? Auf Seite 329 schreibt er dazu:
„Man muß fähig sein, gedanklich seine Perspektive zu
verlassen, sich kognitiv ein Bild davon zu machen, wie die Welt für den anderen
Menschen aussieht, und sich dann sozusagen dessen Schuhe anziehen. All dies
sind außerordentlich komplexe kognitive Fähigkeiten, die als ‚rational’ im weitesten
Sinne bezeichnet werden können“ (S. 329).
Wilber mag Recht haben, wenn er die Fähigkeit, sich
vorzugsweise rational in die Rolle eines anderen zu versetzen, erst um das
siebte, achte Lebensjahr ansetzt. Aber dennoch findet die Fähigkeit zu einem weiterreichenderen
gedanklichen Rollen- bzw. Perspektivwechsel immer nur auf der Grundlage eines
ursprünglich-authentischen Mitgefühls statt, welches sich im Kind schon sehr
viel früher real ereignen kann. Was heißt denn „Mitgefühl“? Es heißt, daß man
mit jemandem innerlich mitfühlt, daß man unter anderem auch die Liebe und
Fürsorge mitfühlend erfährt. Kognitive Fähigkeiten umfassen entschieden mehr
als einen rein rational-gedanklichen Perspektivwechsel, sie beinhalten
grundlegend eine emotional-gefühlsmäßige Intuition. Für Wilber ist die
Fähigkeit zu „rücksichtsvoller Ethik“ erst dann gegeben, wenn sich der Mensch
(das Kind) gedanklich-rational in die Rolle eines anderen versetzen kann. Die
Kinder, die dieses Alter (Wilber zufolge das siebte oder achte Lebensjahr) noch
nicht erreicht haben (vielleicht läßt Wilber ja auch Ausnahmen zu), befinden
sich quasi in einer egozentrischen oder auch narzißtischen Hölle. Wenn dem so
wäre, würde sich z. B. zwischen der Mutter und ihrem zu wirklichem Mitgefühl
nicht fähigen Kind die Liebe, die sich meines Erachtens immer nur in einer
innigen und einfühlsamen Beziehung ereignen kann und zwischenmenschlich niemals
nur einseitig ist, gänzlich in äußeren Wertschätzungen und
Bedürftigkeitsbefriedigungen (Essen, dienende Unterhaltung u.v.a.m.)
erschöpfen. Wären die kleinen Kinder völlig rücksichtslose Wesen im streng
egozentrischen Sinne, so bliebe uns ein liebevoller Umgang mit ihnen verwehrt.
Wir würden uns letzten Endes den Kindern gegenüber geradezu in Haß ergehen und
sie innerlich von uns weisen, weil wir uns von ihnen ständig benutzt und
ausgebeutet fühlten. In der Tat existieren solche Art lieblosen
Eltern-Kind-Beziehungen (geschürt durch widrige soziale Umstände), aber sie
zeigen uns nur, wie wichtig und grundlegend eine gegenseitig einfühlsame und im
liebenden Sinne rücksichtsvolle Eltern-Kind-Bindung ist. Das Kind weiß in
vielem nicht, was es tut, und es würde ohne die Aufsicht der Erwachsenen viel
Chaos anrichten, es erscheint in seinem kindlichen Handeln oft als rücksichtslos
und egoistisch. Aber die innige Umarmung der geliebten Mutter durch das
Kleinkind geschieht grundlegend nicht aus einer egozentrischen Erwartung,
sondern aus ethisch-religiöser Motivation. Das Kind zeigt offen seine Liebe,
deren Echtheit die wahrhaft liebende Mutter oder/und auch der wahrhaft liebende
Vater spürt. Schon das Kleinkind seinerseits hat frühzeitig einen
intuitiv-gefühlsmäßigen Zugang zu der inneren Verfassung der Mutter oder des
Vaters, das Kleinkind entwickelt frühzeitig ein Gespür für das Familienklima,
von dem es in einfühlender Weise emotional abhängig ist, das Kleinkind ist
nicht nur unmittelbar und beziehungslos auf sich selbst bezogen – das
entspricht nicht den real zu beobachtenden Verhaltensweisen von noch sehr
kleinen Kindern, welche in der Regel geradezu auf eine personal-lebendige
Kontaktaufnahme erpicht sind. Das sich schon im Kleinkind ursprünglich
ereignende intuitiv-gefühlsmäßige Gespür für Beziehungen ist zugleich der zarte
Beginn von Liebe und auch „rücksichtsvoller Ethik“, die vollzogen wird, sobald
sich eine Spur authentischen Persönlichkeitsgewahren offenbart, welches ich
schon weit vor dem siebten Lebensjahr ansetze. Und der Beginn der
„rücksichtsvollen Ethik“ enthält ganzheitlich immer auch schon ein rationales
Moment. Am Beispiel der grundlegenden Mutter-Kind-Beziehung (auch der Vater
kann emotional-gefühlsmäßig eine Mutter sein) zeigt sich die wahrhaft innige
und mitfühlende Rück-Sicht und Hingabe, die schon das Kleinkind zu geben
vermag. Aber ebenfalls entscheidend in der Argumentation gegen Wilbers Ansicht
scheint mir zu sein, daß eine ausgeprägte egozentrische und vor allem
narzißtische Erwartung ein stärker ausgebildetes rational-berechnendes Denken
voraussetzt, und zu solch einem Denken sind vor allem die kleinen Kinder im
Verhältnis zu den größeren Kindern oder den Erwachsenen nicht fähig. Die Liebe
zu den Eltern ist spürbar schon sehr früh, vor dem siebten oder achten
Lebensjahr, zu beobachten und vor allem zu erfahren. Und jede gegenteilige
Behauptung ist in meinen Augen unseriös. Schon die kindliche Liebe zu den
Eltern ist wahrhaft mitfühlend, gerade weil dieses Mitfühlen ein herzerweichend
inniges und unmittelbar wesenhaftes ist. Das ethische Grundempfinden ist uns
„normalerweise“ in die Wiege gelegt und ist ganz und gar nicht rationales
Kalkül, sondern geht der Ratio grundlegend und ursprünglich im
geistig-religiösen Sinne voran. Durch die sich später stärker entwickelnde
Fähigkeit zu rationalem Perspektivwechsel kann sich die Liebe eines Menschen
freiheitlich erweitern und intensivieren, sie bleibt in ihrer Dynamik dennoch
ein und dieselbe Liebe in ihrer persönlichen Einzigartigkeit und
Unwiederholbarkeit.
Dirk Hübner
1) Wilber, K.: Halbzeit der Evolution, Goldman
Verlag, 1981, S. 361
2) Berdjajew, N.: Das Neue Mittelalter, Otto Reichl Verlag
Tübingen, 1950, Vorwort des Verfassers
3) Berdjajew, N.: Geist und Wirklichkeit,
Heliand-Verlag, Lüneburg, 1949, S. 133
4) Berdjajew, N.: N. Berdjajew: Geist und
Wirklichkeit, Heliand-Verlag, Lüneburg 1949, S. 120
5) Berdjajew, N.: Zitiert aus Nikolai Berdjajew: Von der
Bestimmung des Menschen, Gotthelf-Verlag, Bern-Leipzig 1935, S. 119
6) Berdjajew, N.: N. Berdjajew: Von der Bestimmung des
Menschen. Gotthelf-Verlag, Bern-Leipzig 1935, S. 159
7) Berdjajew, N.: Geist und Wirklichkeit, Heliand Verlag Lüneburg,
1949, S. 11
8) Berdjajew, N.: Die menschliche Persönlichkeit und die
überpersönlichen Werte, Bermann-Fischer Verlag Wien, 1938
9) Berdjajew, N.: Von des Menschen Knechtschaft und
Freiheit, Holle Verlag, Darmstadt und Genf, 1954, S. 261
10) Berdjajew, N.: Von des Menschen Knechtschaft und
Freiheit, Holle Verlag, Darmstadt und Genf, 1954, S. 265
11) Berdjajew, N.: Von der Bestimmung des Menschen,
Gotthelf-Verlag, 1935, Bern-Leipzig, S. 212
12) Berdjajew, N.: Von der Bestimmung des Menschen, Gotthelf-Verlag,
Bern-Leipzig 1935, S. 191
13) Berdjajew, N.: Von der Bestimmung des Menschen,
Gotthelf-Verlag, 1935, Bern-Leipzig, S. 394
14) Berdjajew, N.: Wahrheit und Offenbarung, hartmut
spenner, waltrop, 1998, S. 190/ 191
15) Berdjajew, N.: Von der Bestimmung des Menschen,
Gotthelf-Verlag, 1935, Bern-Leipzig, S. 385
16) Berdjajew, N.: Von der Bestimmung des Menschen,
Gotthelf-Verlag, 1935, Bern-Leipzig, S. 394
17) Berdjajew, N.: Versuch einer eschatologischen
Metaphysik, Hartmut Spenner Waltrop, 2001, S. 276/277
18) Berdjajew, N.: Das Ich und die Welt der Objekte,
Versuch einer Philosophie der Einsamkeit und Gemeinsamkeit, Holle Verlag,
Darmstadt, S. 93 bis 95
19) Berdjajew, N.: Das Ich und die Welt der Objekte.
Versuch einer Philosophie der Einsamkeit und Gemeinsamkeit, Holle Verlag,
Darmstadt, S. 250
20) Berdjajew, N.: Das Ich und die Welt der Objekte.
Versuch einer Philosophie der Einsamkeit und Gemeinsamkeit, Holle Verlag,
Darmstadt, S. 102
21) Berdjajew, N.: Das Ich und die Welt der Objekte. Versuch
einer Philosophie der Einsamkeit und Gemeinsamkeit, Holle Verlag, Darmstadt, S.
104 bis 107
22) Berdjajew, N.: Das Ich und die Welt der Objekte.
Versuch einer Philosophie der Einsamkeit und Gemeinsamkeit, Holle Verlag,
Darmstadt, S. 145
23) Wilber, K.: Eros, Kosmos, Logos, Wolfgang Krüger
Verlag, 1996, S. 378, Das Nichtduale
24) Berdjajew, N.: Geist und Wirklichkeit, Heliand Verlag
Lüneburg, 1949, S. 152, Kapitel: Die Mystik, Ihre Widersprüche und ihre
Ergebnisse
25) Berdjajew, N.: Das Ich und die Welt der Objekte, Holle
Verlag Darmstadt
26) Berdjajew, N.: Das Ich und die Welt der Objekte, Holle
Verlag Darmstadt, S. 61
27) Berdjajew, N.: Versuch einer eschatologischen
Metaphysik, Hartmut Spenner Waltrop, 2001, S. 169/170
28) Berdjajew, N.: Von der Bestimmung des Menschen.
Versuch einer paradoxalen Ethik, Gotthelf-Verlag, 1935, S. 161 bis 167
29) Berdjajew, N.: Geist und Wirklichkeit, Heliand-Verlag,
Lüneburg, 1949, S. 45
30) Wilber, K.: Eros, Kosmos, Logos, Wolfgang Krüger
Verlag, 1996, S. 222
31) Wilber, K.: Eros, Kosmos, Logos, Wolfgang Krüger
Verlag, 1996, S. 109
32) Berdjajew, N.: Von der Bestimmung des Menschen,
Gotthelf-Verlag, Bern-Leipzig 1935, S. 124
33) Berdjajew, N.: Existentielle Dialektik des Göttlichen
und Menschlichen, C. H. Beck’sche Verlagsbuchhandlung, München, 1951, S. 165/
166
34) Berdjajew, N.: Existentielle Dialektik des Göttlichen
und Menschlichen, C. H. Beck’sche Verlagsbuchhandlung, München, 1951, S. 173/
174
35) Philosophisches Wörterbuch, Alfred Kröner Verlag Stuttgart,
1991, S. 407
36) Berdjajew, N.: Von des Menschen Knechtschaft und
Freiheit, Holle Verlag, Darmstadt und Genf, 1954, S. 261
37) Fromm, E.: Anatomie der menschlichen Destruktivität,
Rowohlt Taschenbuch Verlag, 1992, S. 457
38) Berdjajew, N.: Von des Menschen Knechtschaft und
Freiheit, Holle Verlag, Darmstadt und Genf, 1954, S. 264
39) Philosophisches Wörterbuch, Alfred Körner Verlag,
Stuttgart, 1991, S. 542