FLUCHTVERSUCH IN DEN OSTEN

Wie Wessis im Zonenrandgebiet ums Überleben kämpfen

Sie waren verzweifelt. Die stolzen Einwohner von Nordhalben in Franken wollten vor einem Jahr rübermachen nach Thüringen, nur um an Ost-Fördertöpfe zu kommen und ihren eigenen Abschwung West zu stoppen. Den Plan haben sie fallengelassen - jetzt helfen sie sich selbst.

Nordhalben - Die Idee vom Rübermachen kommt Josef Daum auf der Rückfahrt im Bus. Eben noch hat er mit den Kollegen aus der Region über die finanzielle Not im nördlichen Bayern beraten, die ausbleibende Hilfe der Regierung in München beklagt. Als es den Stacheldraht und die DDR noch gab, da hatten sie hier Zonenrandförderung. Jetzt haben sie Arbeitslosigkeit und leere Häuser. Nebenan in Thüringen aber herrscht der Aufbau Ost.

So schaukelt der Bürgermeister Daum gemeinsam mit den Vorstehern dreier Nachbardörfer heim in seine Marktgemeinde Nordhalben. Draußen wackelt der schöne Frankenwald vorbei, und drinnen fragen sich die vier, was sie denn bloß tun sollen. Da hat Daum die Idee: "Dann sagen wir halt, dass wir nach Thüringen rübermachen." Rüber in den goldenen Osten, wo die Förderquellen sprudeln.

So fing das an im Oktober 2006. Der Bayerische Rundfunk (BR)schickte prompt ein Kamerateam inklusive Thüringer Landesfahne. Die schwenkte dann der abtrünnige Bürgermeister Daum im ehemaligen Todesstreifen, zwischen jungen Birken und Heidekraut.

Welch Provokation: Eine Gemeinde aus der bundesrepublikanischen Wohlfühl-Oase Bayern will in den Osten rübermachen. In München waren sie baff. Daum ist auch noch CSU-Mitglied. Das Schwenken fremder Fahnen ist bei Christsozialen mehr als nur Landesverrat. Pikant war der Nordhalbener Fluchtversuch auch deshalb, weil es direkt nach der Wende noch die Thüringer Nachbargemeinde Titschendorf war, die sich dem Wessi-Primus Bayern anschließen wollte.

"Wir bluten aus", sagt der Bürgermeister

Rübergemacht hat dann doch keiner: Die Titschendorfer damals nicht in den Westen, die Nordhalbener jetzt nicht in den Osten. "Stoiber hätte uns eh nicht gehen lassen, das wäre ja das Eingeständnis, dass Bayern doch nicht überall der Musterknabe ist", sagt Josef Daum über den Ministerpräsidenten des Freistaates. Aber er hätte Bayern auch nicht verlassen wollen: "Wir wollten die in München nur aufrütteln, auf unsere Lage aufmerksam machen", so der 57-Jährige.

Die Lage: Nur noch 2000 Einwohner hat die Marktgemeinde Nordhalben - vor der Wende waren es knapp 700 mehr. Früher hatte Nordhalben 23 Gaststätten, heute sind es noch ein Dutzend. Von den 850 Häusern im Dorf stehen 64 leer, in weiteren 150 wohnen nur noch alte Leute. Die meisten Jungen sind schon weg, qualifizierte Arbeitsplätze vor Ort gibt es kaum noch. "Wir bluten aus", sagt Daum. Die Fassaden sind grau, die Schaufenster leer. Durchs nördliche Bayern weht ein Hauch DDR. Dunkeldeutschland liegt längst im Westen.

Die örtlichen Dienststellen von Polizei und Zoll sind dicht, die Elektrofirma hat zugemacht, eine Schul- und Büromöbelfabrik ist insolvent. Die Großbäckerei ist nach Thüringen abgewandert, auch ein Autozulieferer hat sein Unternehmen jenseits der Landesgrenze erweitert. Heißt in Zahlen: Ein Drittel der Arbeitsplätze weg, geblieben sind 600. Die Arbeitslosigkeit liegt bei rund zehn Prozent. Früher waren es vier Punkte weniger.

Touristen verirren sich seit dem Fall der Mauer kaum noch nach Nordhalben. Pro Jahr habe man früher 30.000 Übernachtungen gehabt, erinnert sich Daum. Es seien fast ausschließlich West-Berliner gewesen: "Die sind über die Grenze, und der Frankenwald war für sie der erste Fleck der Freiheit - da sind sie dann geblieben."

Die Berliner kommen heute nicht mehr, die Zonenrandförderung ist 1994 abgeschafft worden. Anders in Thüringen. Nur einen Steinwurf von Nordhalben entfernt beginnt das sogenannte Höchstfördergebiet: Unternehmer erhalten Zuschüsse von bis zu 50 Prozent ihrer Investitionen, die Löhne sind niedriger als im Westen.

"In vielen West-Kommunen gehen die Lichter aus"

Insgesamt sind bisher 250 Milliarden Euro direkte Aufbauhilfe in den Osten gegangen, im Solidarpakt II sind noch einmal 156 Milliarden verplant. Bürgermeister Daum sagt: "Wenn dieser Solidarpakt tatsächlich bis 2019 durchgehalten wird, dann gehen in vielen West-Kommunen die Lichter aus."

Der Mann ist kein schneidiger Populist. Er trägt einen Kurt-Beck-Bart und ähnelt dem SPD-Chef auch in dessen altmodischer Heimatverbundenheit: "Ich bin ein überzeugter Einheimischer." Landes- oder gar Bundespolitik interessiert ihn nicht. Seit 1996 ist Daum Bürgermeister. Die Sache mit der fremden Landesflagge muss für ihn wirklich das letzte Mittel gewesen sein.

Und es scheint gefruchtet zu haben. Bayerns designierter Ministerpräsident Günther Beckstein (CSU) war seitdem schon drei Mal im Landkreis: "Seine Besuche hier waren die direkte Auswirkung unserer Thüringen-Aktion", sagt Daum. Unternehmer in Nordhalben können jetzt Zuschüsse vom Land Bayern und der EU bekommen, immerhin bis zu 35 Prozent ihrer Investitionskosten.

Der Osten glänzt mit Förder-Milliarden, Nordhalben rettet sich selbst

Direkt nach der Wende gab es enge Kontakte nach drüben. Die Wessis machten ehrenamtliche Aufbauarbeit für die Ost-Kommunen, Josef Daum war auch dabei. Heute ist er frustriert: "Wenn Sie sehen, wie dort das Geld rausgeschmissen wird und keiner hört mehr auf Ihre Vorschläge, dann....", er winkt ab. 17 Jahre nach der Einheit ist alle Euphorie verflogen, Verbindungen gibt es kaum mehr: "Der Zaun ist weg, aber in den Köpfen ist auf beiden Seiten eine Mauer entstanden." Man interessiert sich nicht füreinander, besonders Jugendliche aus dem Osten würden gar nicht über die Grenze kommen: "Wir haben alles versucht, sogar Konzerte mit Ost-Bands haben wir gemacht, die Puhdys waren hier - aber selbst da kam kaum einer rüber." Auch über sein Dorf muss Daum sagen: "Ein Viertel der Leute hier möchte die Mauer wiederhaben."

Der Grenzübertritt nach Thüringen ist heute nur noch durch den besseren Asphalt spürbar: Im Westen rauh, im Osten glatt. Am Wegesrand leuchten Schilder mit der Aufschrift "Gewerbegebiet". Zwar liegt die Arbeitslosenquote ähnlich hoch wie in Nordhalben, zwar gibt es auch hier Häuser ohne Gardinen in den Fenstern. Aber alles erscheint heller, freundlicher.

In Bad Lobenstein etwa ist der Marktplatz penibel gepflastert, die Fassaden sind frisch gestrichen. Die Stadt hat eine piekfeine Therme, einen spiegelnden Glaspalast. Die Mülleimer sind nicht orange, sondern glänzen metallisch und verfügen über Hundekotbeutel-Spender. Im Café "Dolce Vita" gönnt man sich einen Eisbecher, ein Holländer sagt: "Guten Taach, wo is hier Camping?" Der schieferne Uhrenturm des Rathauses erstrahlt frisch renoviert.

West-Hoffnung: Das Projekt "NohA"

Im Büro von Josef Daum dagegen hängt eine alte Plaste-Uhr. Sie tickt zwar, aber die Zeiger hängen fest. Josef Daum stört das nicht. Denn er erzählt jetzt von seiner großen Hoffnung. Dem Projekt "NohA". Daran bastelt er jeden Tag, es ist für ihn so bestimmend geworden, dass er anfangs gar nicht daran denkt, dem Besucher die Abkürzung zu erklären. Entschuldigung, ja, es heiße "Nordhalben Aktiv" und solle an die Arche Noah erinnern: "Wir brechen zu neuen Ufern auf."

Die Idee: Das Dorf rettet sich in Eigeninitiative. Rund hundert Einwohner gehören zu Daums ehrenamtlicher Kerntruppe. Jeder bringt das ein, was er eben so kann. Es gibt "Arbeitsgruppen" für die Themen Tourismus, Öffentlichkeitsarbeit, Ortsverschönerung und Finanzierung. Zuerst haben Architekten den Baubestand des Ortes kartiert und farbig bewertet: Von grün über gelb und rot bis schwarz. Über die Hälfte der Häuser sind gelb oder rot markiert - nah am Verfall.

Die "NohA"-Aktivisten haben mit der Verschönerung der ersten Straße begonnen, die hässlichen Eternit-Platten an den Fassaden sollen runter, der Fahrbahnbelag soll erneuert werden. Die Marienkapelle erstrahlt bereits in frischem Weiß.

Zuvor wurde schon das Schwimmbad gerettet, zum Teil ebenfalls in ehrenamtlicher Arbeit. Eigentlich hätte das beheizte Freibad schließen müssen, weil die Gemeinde die Kosten für Energie und Chlor nicht mehr berappen konnte. Doch Daum ließ es mit EU-Geld und Mitteln des Freistaats im Rahmen einer Pilotförderung umbauen in ein Naturbad: Kiesfilter statt Chlor, Sonnenwärme statt Elektroheizung.

Weit gediehen ist auch die Arbeit des Nordhalbener Motorradclubs: Auf dem Schlossberg haben die Mitglieder dessen Wahrzeichen erneuert, einen mannshohen Holzpilz. Deshalb flattert dort hoch überm Frankenwald jetzt auch die Totenkopffahne der Zweiradfreunde. "Die kommt aber wieder runter", versichert Daum und grinst.

Nein, die Thüringen-Flagge werde er dort nicht hissen: "Die hab' ich auch gar nicht mehr, der BR hat die mitgenommen und ins Archiv gepackt."