Die Eheleite

Mit dem Wort "Eheleite" präzisieren wir den Begriff der Hochzeit. Mit der Hoch-Zeit, also der Hohen Zeit, beschreiben wir nicht nur den Zeitpunkt des unmittelbaren Eheschließungsrituals, sondern vielmehr den gesamten Zeitraum, den zwei Liebende sich und ihrer Familie schenken. An dieser Stelle wollen wir uns aber mit der eigentlichen Heiratszeremonie, eben der Eheleite, befassen. Synonym verwendet wird das Wort "Trauung", dessen Herkunft sicher bei "Treuung" zu suchen ist. Weniger bekannt, aber nicht minder zutreffend und aussagestark ist der Begriff der "Eheweihe". Eheleite aber fügt sich am besten ein in die Reihe der übrigen Feste des Lebenskreises: Lebensleite, Jugendleite, Eheleite, Totenleite.

Das Ritual der Eheleite bezweckt die Überleitung der Unverheirateten in den Stand der Verheirateten. Es soll dem Ereignis des Sippenwechsels der Braut bzw. der Neugründung einer Sippe eine symbolhafte und feierliche Form verleihen, und - oft begleitet von magisch-rituellen Handlungen - der Freude über das Wagnis der Ehe Ausdruck geben. Die Eheleite ist eine Feierlichkeit, die über die Verbindung zweier Menschen hinaus deren Sippenverbände in enge Berührung miteinander bringt. Der Freundeskreis der Brautleute wird bewußt in die Zeremonie mit einbezogen, damit über diese Trauung die Gemeinschaft eine neue Gliederung erfährt. Schon bei unseren germanischen Vorfahren stellte die große Gemeinschaft außerdem die notwendige Rechtsöffentlichkeit dar, ohne die der Rechtsakt der Heirat mangelhafte Gültigkeit hätte, da er ja neben der gegenseitigen Verpflichtung der Eheleute auch gegenüber Dritten wirksam sein soll. Die Eheleite ist ein Ereignis, welches entscheidend und verändernd in die Struktur der Gemeinschaft eingreift und daher deren Zustimmung bedarf. Diese Zustimmung wird allein schon durch die Anwesenheit der Gemeinschaft bezeugt, sie braucht nicht von jedem Einzelnen ausgesprochen zu werden.

In früheren, vor allem bäuerlich geprägten Völkern, in denen sich der Einzelne als noch verwachsen mit der natürlichen Gemeinschaft sah, wurde die Trauung weniger als die bloße Verbindung zweier Einzelwesen gewertet, als vielmehr zweier Lebenskreise, zweier Sippen. Die Ahnen der jeweiligen Sippe waren in diese Lebenskreise mit eingeschlossen, woraus sich der vielfach bezeugte Ahnenkult in den Hochzeitsriten ableiten läßt. So existiert bis heute z. B. die Tradition, wonach die Braut zum Vollzug der Heirat auf einen Stein treten muß – Symbol für einen Grabstein (ursprünglich den waagerechten Deckstein eines Dolmengrabes). Einen weiteren Hinweis auf den Ahnenkult im Heiratsritual indogermanischen Ursprungs liefert der sehr alte Brauch, daß die Braut das Herdfeuer umschreitet, denn der Herd war im heidnischen Denken immer zugleich auch Symbolsitz der Ahnen. Die Umschreitung des Herdfeuers ist für den gesamten indogermanischen Raum bezeugt. So finden wir diese Tradition z. B. auch im altindischen und im altgriechischen Hochzeitsritual. Auch die römische Braut wurde am Tage ihrer Heirat zusammen mit ihrem Gatten beim Betreten seines Hauses zuerst an den Herd geführt, um "aqua et ignis" (Wasser und Feuer) zu empfangen.

Wir fassen zusammen: die Eheleite hat die Aufgabe, Braut und Bräutigam rituell miteinander zu verweben, die Sippen zusammenzuführen und gegenüber der versammelten Gemeinschaft Bekenntnis abzulegen. Die Heirat schafft die notwendige Voraussetzung zur Bildung einer engen und unauflöslichen Gemeinschaft zwischen den Eheleuten und weiht die Verbindung zur Fruchtbarkeit. Um nun das Brautpaar zu einer wirklichen Einheit zu verschmelzen, greifen wir auf verschiedene Rituale zurück, die z. T. eine Jahrtausende alte Tradition haben. Dieses Brauchtum enthält die gesammelte Erfahrung unserer Vorfahren und hat auch heute seinen tieferen Sinn über die Schönheit des unmittelbar Erlebten hinaus, denn:

Rituale entfalten eine psycho-hygienische und sozial-stabilisierende Wirkung auf die Individuen, man verschafft sich mit ihrer Hilfe eine positive Einstellung zu den Dingen, die mit blanker Rationalität nicht zu erzielen ist. So organisiert jeder Mensch - bewußt oder unbewußt - auch über die Festtagsriten hinaus zwangsläufig seinen gesamten Alltag um viele kleine und große Rituale herum, die ohne ausreichende Reflexion evtl. auch zu Zwängen übersteigert werden können. Insofern bewährt sich am ehesten (wen wundert das?) eine gute Mischung aus "ratio" und "emotio", aus Verstand und Gefühl, aus Geist und Spiritualität. Auch hier muß die unvermeidliche Schlußfolgerung gezogen werden: dies alles ist so, weil es sich als vorteilhaft erwiesen hat, Bräuche und Rituale sind eine weitere ausgeklügelte und höchst-komplexe Überlebensstrategie der Natur, in diesem Fall des Sozialwesens Mensch. Sie helfen den Menschen insgesamt, deshalb wurden und werden sie von uns "erfunden" und über den langen Weg der Evolution verinnerlicht, abhängig von Ort, Zeit und vielen Zufällen. Rituale sind, genau wie Religion im allgemeinen, unabhängig von ihrem Wahrheitsgehalt sinnstiftend. Sie erleichtern das Hineinwachsen in eine Gemeinschaft, weil sie Sicherheit geben. Jeder weiß, wie man sich verhält, und es spart Zeit und Kraft, wenn man nicht ständig bei Null beginnen, alles in Frage stellen und ausdiskutieren muß. Zudem geben gemeinsame Rituale das Gefühl der Zugehörigkeit und des Verbundenseins. Rituale spenden auch Trost und schließen die Lücken des Unerklärlichen. Der Mensch ist also - zu seinem Vorteil - von Grund auf rituell angelegt und damit biologisch über die Vernunft hinaus an Brauchtum, Tradition und Religion gebunden. Auch die Verhaltensforschung z. B. bei Konrad Lorenz bestätigt die lebenserhaltende Macht der Rituale.

Diese intellektuelle Erkenntnis behindert in keiner Weise unsere spirituelle Seite - im Gegenteil, denn mehr Wissen bestärkt die Ehrfurcht vor der göttlichen All-Natur, die solches hervorgebracht hat und steigert so auch die Intensität der Emotion im Ritual. Nur hier lösen wir den scheinbaren Konflikt zwischen Geist und Gefühl. Fatal dagegen wird die Situation, wenn anstelle des ambivalenten Miteinanders von Verstand und Spiritualität ein platter Wortglaube tritt, der den Blick für die Realitäten verstellt: Wer in personifizierten Göttern nicht das Symbol, den Archetypen, sehen kann, wer nicht zur Kenntnis nimmt, daß jede Faser seines Wesens und Denkens von der vergänglichen Körperlichkeit getragen wird und auf seine einzel-menschliche Auferstehung in einem Jenseits hofft, kurz: wer die Wahrheit allein-irdischer Verantwortung nicht erträgt und sich ins Numinose flüchtet, dem ist die heilsame Kraft der Rituale fremd - unreflektiert drohen sie nur, den Wahhn zu verstärken. Der natürliche Wissens-Glaube dagegen formt natürliche Rituale, die nicht Fessel sind, sondern Stütze, die das Leben nicht einengen, sondern reicher machen. In diesem Sinne läßt Antoine de Saint-Exupéry den Fuchs - in ganz bewußtem Wissen um die Macht des Rituals - zum kleinen Prinzen sagen: "Es wäre besser gewesen, du wärst zur selben Stunde wiedergekommen. Wenn du zum Beispiel um vier Uhr nachmittags kommst, kann ich nie wissen, wann mein Herz da sein soll...".